Nation in Trümmern: Kampf um Macht und Pfründe
Analyse. Libyen nach dem NATO-Angriffskrieg
Von Joachim Guilliard *
Die Zerstörung des Landes und die Profiteure des Wiederaufbaus
Am 17. Februar 2012 feierte die siegreiche Anti-Ghaddafi-Koalition den ersten Jahrestag des Aufstandes, der zur Intervention der NATO und zum Sturz der libyschen Regierung führte. Die überschaubare Teilnehmerzahl bei den Gedenkfeiern zeugte nicht von großer Begeisterung für die neuen Verhältnisse. Keine der neuen Führungspersonen zeigte sich bei den Kundgebungen, wohl aus Sorge, der Jubel unter den Anhängern der »Revolution« könnte in Protestgeschrei gegen sie umschlagen.
Auch die westlichen Medien widmeten dem Ereignis nur wenig Aufmerksamkeit. Die Entwicklung in Libyen nach der »Befreiung« ist hier schon lange kein Thema mehr, steht nun doch mit Syrien der nächste Kandidat für einen »Regime Change« im Zentrum des Interesses. Ein Blick auf das heutige Libyen würde dabei nur stören, zeigte dieser doch – wie zuvor schon in Afghanistan und Irak – keinen positiven Wandel, sondern nur Zerstörung, Chaos, Willkür und Gewalt sowie die offensichtlichen wirtschaftlichen Interessen hinter dem Krieg.
Zehntausende Tote
Die Mitte Februar 2011 einsetzenden Protestaktionen schlugen im Ostteil Libyens innerhalb weniger Tage in einen vom Westen unterstützten bewaffneten Aufstand um. Unter dem Vorwand, die Zivilbevölkerung zu schützen, begann nur einen Monat später ein von NATO-Mächten geführter Krieg gegen ein lediglich sechseinhalb Millionen Einwohner zählendes Land. Die Gegenwehr gegen die übermächtige Kriegsallianz und ihre Verbündeten im Land war trotz heftigem Bombardement überraschend zäh. Erst als Spezialeinheiten der NATO selbst die Führung übernahmen, konnte Ende August die Hauptstadt eingenommen werden. Im Oktober fiel ihnen schließlich das libysche Staatsoberhaupt, Muammar Al-Ghaddafi, in die Hände. Nach seiner Ermordung erklärte die westliche Allianz den militärischen Teil des Jobs für erledigt – vorerst zumindest. Ersten Schätzungen zufolge haben mindestens 50000 Libyer die »Operation vereinigte Beschützer« nicht überlebt.
In den Hauptstädten der Allianz feierte man den Erfolg dennoch überschwenglich. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen bezeichnete den Krieg als »eine der erfolgreichsten Missionen« des Bündnisses. Mit der Liquidierung ihres alten Feindes und der Beseitigung des libyschen Gesellschaftssystems der Dschamahirija (»Volksherrschaft«) hat man einen Störenfried in Afrika beseitigt und vor allem, so die Kalkulation der Angreifer, den Weg zu den libyschen Ressourcen freigeräumt.
Ohne Einhaltung einer Schamfrist meldeten Politiker und Medien der beteiligten Länder sogleich ihre Ansprüche an den zukünftigen Öl- und sonstigen Geschäften Libyens an. Der Anteil daran müsse sich selbstverständlich nach dem jeweils erbrachten Einsatz im Krieg richten, tönte es aus England und Frankreich. »Wir werden diese Bemühungen zu würdigen wissen, und sie werden Vorrang haben innerhalb eines transparenten Rahmens«, versicherte ihnen Mustafa Abdel Dschalil, Chef des »Nationalen Übergangsrates« im September.[1]
Mit 46,4 Milliarden Barrel nachgewiesener Reserven verfügt Libyen über die bedeutendsten Vorkommen in Afrika, wobei der größte Teil des Landes noch gar nicht erforscht ist.
Die unter der Ägide von Paris, London und Washington gebildete Führung der Aufständischen hat, Berichten der französischen Zeitung Liberation vom 2.9.2011 zufolge, Frankreich bereits Anfang April den Zugriff auf ein Drittel des libyschen Öls zugesichert. Der britische Verteidigungsminister Philip Hammond drängte die einschlägigen britischen Unternehmen, nun in das »relativ wohlhabende Land mit seinen großen Ölvorkommen« zu eilen und sich Aufträge im Zuge des Wiederaufbaus zu sichern.[2]
Allein schon die 150 Milliarden US-Dollar Auslandsguthaben Libyens, die nun wieder freigegeben werden, sind dafür, so der britische Guardian, ein »ziemlich großer Pott«.
Vermutlich ist der aufzuteilende Kuchen noch deutlich größer. Das britische Handelsministerium schätzt das gesamte Auftragsvolumen im kommenden Jahrzehnt auf 250 Milliarden Euro. Libyen könnte eines der größten Wachstumsgebiete britischer Firmen werden, frohlocken westliche Medien.
Der britische Handelsminister, Stephen Green, hat im Verein mit den Ölmultis Shell und BP bereits entsprechende Verhandlungen aufgenommen, ihre französischen Pendants ebenfalls. Die Aktien von Shell und BP gingen nach Ghaddafis Tod in froher Erwartung der Anleger deutlich in die Höhe. Ein Dutzend weiterer Delegationen ist, Hammonds Appell folgend, in Libyen eingetroffen und hat Interesse an Aufträgen in allen Bereichen – vom Gesundheits- und Bildungswesen bis zur Öl- und Gasförderung – angemeldet.
Die Reise französischer Firmenvertreter wurde vom Öl-Riesen Total und dem Kraftwerks- und Transportkonzern Alstom angeführt. Allein in den Ausbau des Energiesektors müßten 30 Milliarden US-Dollar gesteckt werden, damit sein volles Potential ausgeschöpft werden könne, so die Franzosen. Das Transportwesen würde ebenfalls zig Milliarden Dollar für die Modernisierung und Erweiterung benötigen, und auch die Bereiche Telekommunikation, Bildung und Tourismus seien ziemlich veraltet.[3]
»Investitionsfreundliches Umfeld«
Langfristige neue Abkommen, z.B. über die Erschließung und Ausbeutung der Öl- und Gasvorkommen, kann es allerdings erst nach der Installation einer gewählten Regierung geben. Davor ist die völkerrechtliche Legitimation des Übergangsrates für ausländische Investoren denn doch zu dünn.
Mehr Spielraum sehen der Rat und seine Schutzherren offensichtlich im äußerst lukrativen Finanzsektor, auf den die großen internationalen Banken und Fonds aufgrund der hohen Liquidität der libyschen Geldinstitute und des angesammelten Vermögens des libyschen Staates schon lange eine Auge geworfen haben. Ohne Wahlen und eine neue Verfassung abzuwarten, geht der – in enger Abstimmung mit den westlichen Hauptstädten agierende – Übergangsrat schon daran, das Bankwesen umzugestalten und für ausländische Geldhäuser zu öffnen. Die neue Führung will in Kürze die entsprechenden Gesetze ändern, um ausländisches Kapital anzulocken, ein »investitionsfreundliches Umfeld« zu schaffen und den privaten Sektor zu stimulieren, erläuterte der neue Zentralbankchef, Saddeq Omar Elkaber. Dabei würden gleichzeitig auch die Regeln des islamischen Banksystems eingeführt.[4]
Wie im Irak wird der große Bedarf an Investitionen vor allem als Folge einer jahrzehntelangen, staatlich gesteuerten Mißwirtschaft dargestellt. Dort war schon bald nach der Invasion mit den von US-amerikanischen »Beratern« konzipierten Projekten begonnen worden, meist völlig am Bedarf und den örtlichen Bedingungen vorbei. Aufgrund mangelnder Aufsicht strichen ausländische Firmen zig Milliarden Dollar ein – ohne adäquate Gegenleistungen. Die Korruption erreichte Rekordhöhen, irakische Gelder verschwanden spurlos. In Libyen, wo noch wesentlich größere Summen in der Verfügungsgewalt einer vom Washington, Paris und London eingesetzten Clique sind, droht nun eine ähnliche Entwicklung.
Hoher Preis
Der Preis für die bereits im Land aktiven Firmen war jedoch hoch. Beim größten spanischen Ölproduzenten Repsol YPF beispielsweise brach der Nettogewinn im letzten Quartal 2011 aufgrund des Ausfalls der Produktion in Libyen auf 292 Millionen Euro ein. Im Vorjahr betrug er noch 2,9 Milliarden. Und noch ist die Zeit der Ernte nicht in Sicht. Die Multis haben weiterhin alle Hände voll zu tun, um zunächst die Kriegsschäden zu beseitigen und die durch den Waffengang unterbrochene Förderung wieder in Gang zu setzen.
Total, Repsol und der italienische Konzern ENI konnten ihre Förderanlagen mittlerweile zumindest teilweise wieder instandsetzen und ihre Lieferungen wieder aufnehmen. ENI konnte durch seinen langjährigen, breit gefächerten Beziehungen in Libyen seine Öl- und Gasförderung fast wieder auf Vorkriegsniveau heben. Total und die österreichische OMV haben mittlerweile etwa 60 Prozent der Vorkriegsmenge erreicht, die Ölfelder, an deren Ausbeutung Repsol beteiligt ist, werden in diesem Quartal nur die Hälfte des früheren Outputs liefern können.
Die US-Konzerne ConocoPhillips, Hess und Marathon begannen erst im Januar mit den Arbeiten, Royal Dutch Shell wollte in Kürze folgen, während BP noch abwartet, »bis die Sicherheit der Angestellten gewährleistet werden kann«.
Die Übergangsregierung meldete Anfang des Jahres, daß bereits wieder eine Million Barrel pro Tag (b/d) gefördert würden und kündigte an, bis zum dritten Quartal das Vorkriegsniveau wieder zu erreichen. Die Internationale Energieagentur der OECD ermittelte jedoch nur 800000 b/d, knapp die Hälfte der 1,77 Millionen vor dem Krieg.[5]
Im Januar und Februar konnte die Fördermenge jeweils um weitere 100000 b/d gesteigert werden. Es werde aber zunehmend schwieriger, die Produktion noch weiter zu steigern, so ein führender Experte der britischen Denkfabrik Chatham House. Es habe sehr weitreichende Zerstörungen gegeben, große Mengen an Ausrüstung seien geplündert worden, und vor allem fehle es an qualifizierten Fachkräften. Die Probleme würden verschärft durch den Zustand der übrigen Infrastruktur und die Rivalitäten innerhalb der Übergangsregierung.[6]
Für die Firmen außerhalb des Ölsektors sehen die Aussichten, ihre Geschäfte bald wieder aufnehmen zu können, noch düsterer aus. Noch sind viele Botschaften in Tripolis geschlossen, und es fehlen den ausländischen Konzernen, die in Libyen bisher nur Betreiber und nicht selbst Besitzer der Anlagen und Betriebe sind, die Genehmigungen der zuständigen Ministerien. Dort setzen die Anträge jedoch, wie die Financial Times erfuhr, Staub an, da niemand weiß, wie damit umzugehen ist.[7] Zudem fehlen auch hier vielerorts die ausländischen Arbeiter, die der Krieg zu Hunderttausenden aus dem Land getrieben hat und an deren Rückkehr vorerst nicht zu denken ist.
Für Firmen vieler Länder, die wie Brasilien oder Indien den NATO-Krieg ablehnten, gibt es noch weitere Hindernisse: Ihnen fehlt die Garantie, daß die neue libysche Führung ihre aktuellen Verträge überhaupt anerkennt.
Unter den derzeitigen Bedingungen, so die Financial Times, füllen die zahlreichen ausländischen Delegationen meist nur die Fünf-Sterne-Hotels, streifen durch die Stadt und ziehen, frustriert über die instabile Lage und die düstere politische Entwicklung, wieder ab. Kaum einer der Geschäftsleute, die außerhalb des Ölsektors aktiv waren, macht mehr, als bei seinem Betrieb vorbeizuschauen und einige wenige Angestellte zurückzulassen, die nach dem Rechten sehen. Selbst viele Vertreter von Ölkonzernen und Großbanken, die das Land besuchten, verließen es hastig wieder, besorgt über die mangelnde Sicherheit und das Fehlen einer stabilen und anerkannten Regierung, die über genügend Autorität verfügt, das Land wieder in Gang zu bringen.
An alldem wird sich, so heißt es, erst etwas ändern, wenn eine gewählte Regierung im Amt ist. Noch gelten bei einer Wiederaufnahme der Geschäfte die alten Gesetze. Auch dies ist für viele ein Grund abzuwarten. Zwingen diese doch u.a. ausländische Firmen dazu, einen großen Teil der Belegschaft mit einheimischen Arbeitern, Angestellten und Managern zu besetzen, verbieten den Kauf von Immobilien und garantieren dem libyschen Staat einen erheblichen Einfluß auf strategische Entscheidungen.
Verwüstetes Land
Entgegen dem von westlichen Medien vermittelten Bild richtete auch dieser Krieg der NATO enorme Verwüstungen an. 9700 Luftangriffe, bei denen 30000 Bomben abgeworfen wurden, und die monatelangen Kämpfe am Boden haben große Teile der Infrastruktur zerstört oder schwer beschädigt. Einige Gebiete blieben monatelang ohne Strom und Wasser. Am stärksten betroffen war die bis zuletzt umkämpfte Stadt Sirte. Die Versorgung war schon bald nach Beginn des Waffengangs praktisch zusammengebrochen und ist auch heute noch nicht wieder vollständig hergestellt. Noch immer kommt es regelmäßig zu langen Stromausfällen. Auch Telefon und Internet funktionieren vielerorts nicht oder nur eingeschränkt. Die gesamten materiellen Schäden des Krieges werden auf mindestens 35 Milliarden US-Dollar geschätzt.
Durch den Zusammenbruch der Wirtschaft ist über die Hälfte der Bevölkerung ohne Arbeit.
Hilfsorganisationen stehen jedoch vor dem Dilemma, daß die bisherigen Geberländer die Zahlungen von Hilfsgeldern längst eingestellt haben, da Libyen nach Freigabe seiner eingefrorenen Auslandsguthaben angeblich über genügend eigene Mittel verfüge. Aus diesen Töpfen wurde jedoch noch fast nichts für humanitäre Belange bereitgestellt. Die Übergangsregierung behauptt, sie käme immer noch nicht richtig an die Milliardenbeträge heran. UN-Mitarbeiter vermuten jedoch, wie der UNO-Nachrichtendienst IRIN berichtete, dahinter eher Unfähigkeit und mangelnden Willen. Mazin Ramadan, als Direktor des »Temporären Finanzierungsmechanismus« (TFM) der Schatzmeister des Übergangsrates, antwortete auf die Frage von IRIN, ob humanitäre Hilfe keine Priorität für die neue Regierung hätte, es gäbe »die humanitäre Krise nicht, die alle vorhersagten«.[8]
Vielen Libyern ist die Rückkehr in ihre Heimatorte aufgrund der schweren Schäden, aber auch aus Angst vor Gewalttätigkeiten der neuen Herren auf absehbare Zeit nicht möglich. Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen zählte Ende letzten Jahres 172000 Binnenflüchtlinge, die in Lagern versorgt werden müssen. Die meisten kamen aus Sirte (60000), Tawergha (35000) und Bani Walid (30000). Die überwiegend dunkelhäutigen Einwohner der Kleinstadt Tawergha waren von den Milizen der benachbarten Hafenstadt Misrata, aus Rache für ihre mehrheitliche Unterstützung Ghaddafis, mit brutaler Gewalt vertrieben worden. Tawergha ist seither eine ausgeplünderte Geisterstadt. Die Rachefeldzüge der Misrata-Milizen sind indes noch nicht zu Ende. Am 6. Februar drangen sie in Tripolis in Behelfsunterkünfte ein, in denen Flüchtlinge aus Tawergha untergebracht sind und töteten laut Human Rights Watch mindestens sieben Menschen, darunter drei Kinder und zwei Frauen.
Verfolgung, Vertreibung, Folter
Nach dem Bericht des UN-Sonderbeauftragten für Libyen, Ian Martin, ist es am schlechtesten um die Sicherheit bestellt. »Zur Zeit sorgen bewaffnete rivalisierende Gruppen für Recht und Ordnung im Land«, so Martin. Genau diese hätten ihre Gewaltbereitschaft in den letzten Wochen in blutigen Straßenkämpfen unter Beweis gestellt. Daß unter diesen Umständen, wie geplant, bis Juni Wahlen organisiert werden können, hält Martin für äußerst fraglich.
Mindestens 300 bewaffnete Gruppen mit über 120000 Kämpfern kontrollieren nun das Land, über 50 Milizen haben Tripolis unter sich geteilt. Jede geht auf eigene Faust gegen Personen in ihrem Gebiet vor, die als Ghaddafi-Anhänger gelten. Tausende wurden gefangengenommen oder aus ihren Wohnungen vertrieben. Eine große Zahl wurde, so Amnesty International, wie Oberst Ghaddafi und einer seiner Söhne nach der Gefangennahme exekutiert.
»Die Situation ist besonders düster für Bewohner von Ortschaften und Stadtteilen, die als Unterstützer Ghaddafis gelten und regelmäßig Mißhandlungen durch Kämpfer ausgesetzt sind«, berichtet Tony Karon vom Time Magazine (4.1.2012). »Die Leute fürchten nun um ihr Leben und das Leben ihrer Söhne«, schreibt die arabische Zeitung Al-Quds Al-Arabi, die den Aufstand ursprünglich unterstützt hat. »Die meisten libyschen Städte wurden zu einem Dschungel voller Gewehre, während die Milizen die Stadtviertel unter sich aufteilen.«[9]
Durch den verbreiteten Rassismus sind besonders Schwarzafrikaner, schwarze Libyer und andere Minderheiten, die allgemein als Sympathisanten Ghaddafis gelten, von Übergriffen betroffen.
Die UNO hatte im November 2011 Kenntnis von 7000 inhaftierten »neuen Staatsfeinden«, darunter auch Frauen und Kinder sowie viele Schwarzafrikaner, die »vermutlich wegen ihrer Hautfarbe festgenommen wurden«. Die meisten würden illegal von Milizen festgehalten, gefoltert und systematisch mißhandelt. Die Menschenrechtsverantwortliche der Vereinten Nationen, Navi Pillay, zählte Ende Januar 2012 bereits 8500 Gefangene. Nach Recherchen des libyschen »Komitee für Gerechtigkeit für die Verschwundenen« steht zu befürchten, daß weitere 35000 an geheimen Orten gefangen gehalten werden.
Amnesty International (AI) und andere Menschenrechtsorganisation berichten seit Monaten immer wieder über massenhafte willkürliche Festnahmen, Folter und Mord. Diese Verbrechen werden nach den Erkenntnissen von AI auch von »offiziell anerkannten« Militäreinheiten und »Sicherheitskräften« durchgeführt, d.h. von der neuen Armee und Polizei, in deren Stärkung im Westen große Hoffnungen gesetzt werden. Gefangene berichteten davon, daß sie in gekrümmten Positionen aufgehängt, stundenlang mit Peitschen, Kabeln, Eisenketten und -stangen geschlagen und mit Elektroschocks gequält wurden. Ihre Wunden bestätigten die Schilderungen.
Symptomatisch ist das Schicksal des Karrierediplomaten Omar Brebesh, der u.a. auch Botschafter Libyens in Frankreich war. Am 19. Januar 2012 bestellte eine Miliz aus Zintan den 62jährigen zu einem Gespräch in ihren Stützpunkt in Tripolis ein. Da er meinte, nichts zu verbergen zu haben, ließ er sich von seinem Sohn hinfahren. Als dieser ihn zur vereinbarten Zeit wieder abholen wollte, wurde er verjagt. Brebeshs Leiche fand man zwei Tage später im Krankenhaus von Zintan, mit Schädelbrüchen, gebrochenen Rippen und ausgerissenen Nägeln. Bekannt wurde der Fall nur, weil die Familie erfahren genug war, um Verbindungen zu internationalen Organisationen aufnehmen zu können. Amnesty International kann mittlerweile ein Dutzend weiterer Fälle belegen, bei denen Gefangene von Milizen zu Tode gefoltert wurden.[10] Vermutlich gibt es aber Hunderte oder Tausende weitere Opfer.
Gefangene haben noch Glück, so der Korrespondent der Financial Times in Libyen, Borzou Daragahi, wenn sie nicht in Misrata landen, wo nach den Erkenntnissen der Menschenrechtsorganisationen die meisten provisorischen Kerker »alptraumhaften« Folterkammern gleichkommen. Die Hilfsorganisation »Ärzte ohne Grenzen« hat ihre Arbeit in den dortigen Gefängnissen eingestellt, als festgestellt wurde, daß Opfer von schweren Mißhandlungen nach der Behandlung zu erneuten Folterungen abgeholt wurden.[11]
Gewaltherrschaft
Der Übergangsrat hat entgegen aller Versprechungen bisher nichts gegen die Verbrechen der Milizen und der formal ihm unterstehenden »Sicherheitskräfte« getan. Nicht einmal bei den gravierendsten Fällen wurden Untersuchungen eingeleitet. Durch das Versagen, rechtstaatliche Institutionen aufzubauen und das Treiben der Milizen unter Kontrolle zu bringen, würden die »Hoffnungen von Millionen Menschen gefährdet, die ein Jahr zuvor auf die Straße gegangen waren, um Freiheit, Gerechtigkeit und Achtung der Menschenrechte und der Würde zu fordern«, heißt es in der Einleitung zum jüngsten AI-Bericht. Doch der tiefere Grund für den systematischen Terror der von der NATO an die Macht gebombten Rebellen liegt darin, daß in Wahrheit nicht »Millionen Menschen«, sondern nur eine Minderheit der Bevölkerung hinter den Aufständischen steht und diese daher, angesichts ihrer relativ schwachen Kräfte, gar keine andere Wahl haben, als ihre Herrschaft mit brutaler Gewalt durchzusetzen.
Staatszerfall, rivalisierende bewaffnete Gruppen und Proteste gegen den "Nationalen Übergangsrat"
Unmittelbar nach der Ermordung des libyschen Staatsoberhaupts, Oberst Muammar Al-Ghaddafi, beendete die NATO am 31. Oktober 2011 die Kampfeinsätze in dem nordafrikanischen Land. Der »Nationale Übergangsrat«, die in enger Abstimmung mit Washington, Paris und London gebildete Führung des Aufstandes, erklärte das Land offiziell für »befreit« und ersetzte den bisherigen »Exekutivrat« durch eine formelle Interimsregierung.
Doch obwohl Übergangsrat und Interimsregierung mittlerweile von den meisten Ländern als neue Führung Libyens anerkannt werden, haben sie das kriegszerstörte Land keineswegs unter Kontrolle. Der Übergangsrat hatte auch zuvor nie die Führung über den Aufstand. Mit Ausnahme von Bengasi, wo seine Basis lag, bildeten die Aufständischen auf regionaler oder Stammesebene Milizen und Räte, die weitgehend eigenständig operierten. Anerkannt wurde der Übergangsrat von diesen nur in seiner Funktion als Schnittstelle zur Kriegsallianz, die die politische, finanzielle und militärische Unterstützung koordinierte. Der Sturz der alten Regierung führte daher, wie vorauszusehen, zu einem umfassenden Macht- und Führungsvakuum, das nach Ansicht vieler Experten, auch nicht so bald gefüllt werden kann.[12] Der Übergangsrat steht nicht nur einem anhaltenden Widerstand Ghaddafi-treuer Kräfte gegenüber sowie dem Unwillen weiter Teile der Bevölkerung, sich den neuen Herren unterzuordnen, die ihnen NATO-Bomben und Zerstörung brachten. Es fehlt ihm auch die Autorität, die verschiedenen Kräfte innerhalb der Anti-Ghaddafi-Koalition hinter sich zu vereinen.
Die bei weitem stärkste Fraktion bilden darin die islamistischen Gruppierungen. Wie in anderen arabischen Ländern, zählt auch in Libyen der örtliche Ableger der Muslimbruderschaft zur am besten organisierten oppositionellen Kraft. Militärisch spielen zudem die Kämpfer der Libyschen Islamischen Kampfgruppen (LIFG), die in Afghanistan und im Irak viel Kampferfahrung erworben haben, eine herausragende Rolle. Ins Gewicht fällt schließlich auch eine Reihe prominenter islamischer Geistliche. An deren Spitze stehen Ali Al-Sallabi, der aktuell als einflußreichste Persönlichkeit Libyens gilt, und Scheich Al-Sadiq Al-Gharyani.
Al-Sallabi lebte bis Februar in Katar und spielte eine wichtige Rolle bei der Versorgung der Rebellen mit Geld und Waffen durch das Scheichtum. Er ist eng verbunden mit Yusuf Al-Qaradawi, dem spirituellen Führer der weltweiten Muslimbruderschaft wie auch mit dem Führer der LIFG, Abdelhakim Belhadsch. Letzterer wiederum kommandiert die stärkste bewaffnete Kraft in der Hauptstadt, den »Tripolis Militärrat«. Dessen Kern, die »Tripolis-Brigaden«, wurde von Katar mit NATO-Hilfe in den Bergen südwestlich der lybischen Hauptstadt aufgebaut, trainiert und mit modernstem Gerät ausgerüstet. Sie gelten als Eliteeinheiten unter den Rebellen.
Aufgeteilt unter Milizen
Die Islamisten dominieren auch den Übergangsrat. Dessen Chef, Exjustizminister Mustafa Abdel Dschalil, steht ihnen nahe und hat früh angekündigt, daß künftig die Scharia wieder Grundlage der Rechtsprechung sein werde. Mit seiner Unterstützung konnte sich der frühere Afghanistan-Kämpfer Belhadsch Ende August auch zum offiziellen »Militärkommandeur« von Tripolis ernennen. Die beiden prominentesten säkularen Führungsmitglieder, die langjährigen US-Bürger Mahmud Dschibril und Ali Tarhouni, die zunächst als Premier- und Finanzminister fungierten, wurden im Herbst aus dem Rat gedrängt. Tarhouni prangerte später den Rat als »nicht repräsentative Elite« an, die sich allein auf ausländisches »Geld, Waffen und Propaganda« stütze.[13] Der jetzige Chef der Übergangsregierung, Abdel Rahim el-Kib, lebte zuvor zwar ebenfalls sehr lange in den USA, stand dort aber in engem Kontakt zu religiösen Kreisen.
Diesem Klüngel aus Islamisten, alten Kadern und Exilanten stehen die meisten Milizen und Räte, die sich auf regionaler Basis, auf Stadt- oder Stammesebene gebildet haben, mißtrauisch bis feindlich gegenüber. Sie sind keineswegs bereit, nun die Waffen abzugeben oder sich der Übergangsregierung unterzuordnen. Säkulare Milizen haben als Gegenpol zu Belhadschs Militärrat den »Tripoliser Rat der Revolutionäre« gegründet. Militärisch stärker sind allerdings der »Westliche Militärrat« und die »Brigaden« aus den Aufstandszentren, Misrata und Zintan, die Belhadschs Führung ebenfalls nicht anerkennen. Hinzu kommen noch Hunderte weitere Milizen, die die Hauptstadt und das übrige Land unter sich aufgeteilt haben.
Diese autonomen Gruppen gelten daher als größtes Problem bei der Herstellung einer neuen Ordnung. Die jetzige Regierung hat ihnen mehrfach eine letzte Frist gesetzt, zu der die Kämpfer sich entweder der neuen offiziellen Armee anschließen oder die Waffen abgeben und nach Hause gehen sollten. Diese denken aber nicht daran. Und die u.a. vom langjährigen CIA-Mann Khalifa Heftar geführte offizielle »Nationale Armee« ist viel zu schwach, um eine Entwaffnung erzwingen zu können.
Nahezu täglich liefern sich rivalisierende Milizen auch Feuergefechte untereinander um Macht- und Einflußbereiche. Anfang Januar beschossen sich z.B. Kämpfer aus Misrata und Einheiten des Militärrates von Tripolis stundenlang im Zentrum der Stadt mit Maschinengewehren, Granaten und Flugabwehrgeschützen. Es gab mindestens vier Tote und Dutzende Verwundete. Wenige Tage später gingen Kämpfer aus Misrata und Zintan mit schweren Waffen aufeinander los. Über dem Stadtzentrum stieg eine dichte Rauchsäule in die Höhe.
Zu erbitterten Kämpfen war es auch um den internationalen Flughafen von Tripolis gekommen, der von Rebellenbrigaden aus Zintan kontrolliert wird. Khalifa Heftar scheiterte mehrfach beim Versuch, diesen mit Einheiten der »Nationalen Armee« die Kontrolle zu entreißen. Die Auseinandersetzung gewann an Schärfe, als hier fünf Frachtflugzeuge mit in Deutschland gedruckten Dinar-Scheinen im Wert von mehreren Milliarden Euro erwartet wurden. Wer den Flughafen kontrolliert, konnte mit erheblichen »Provisionen« rechnen.
Der Streit um die enormen Reichtümer des Landes wird sich sicherlich noch intensivieren. Nachdem die NATO-Staaten nun die zu Kriegsbeginn eingefrorenen Auslandsguthaben des libyschen Staates sukzessive wieder freigeben, werden 112 Milliarden Euro in die Verfügungsgewalt der zusammengewürfelten, durch nichts legitimierten neue Regierung des Landes fallen.
Was mit den bereits im letztem Herbst freigegebenen 18 Milliarden Dollar geschah, entzog sich anscheinend jeglicher Kontrolle. Ein Mitarbeiter des Übergangsrates berichtete im Dezember (Time vom 16.12.2012), daß es in seinem Ministerium kein einziges Dokument gebe, in dem festgehalten wurde, wohin die Gelder gingen. Alles sei allein übers Telefon und persönliche Gespräche abgewickelt worden.
Finanzminister Hassan Zaklam gestand Anfang Februar ein, daß Millionen Dollar aus den zurückgeflossenen Vermögenswerten sofort wieder außer Landes geschafft wurden – abgezweigt u.a. durch »Revolutionäre«, die nun die Aufsicht über die Flug- und Seehäfen haben.
Zehntausende demonstrierten
Die Bildung der Übergangsregierung sollte eigentlich die Lage beruhigen, indem die wichtigsten konkurrierenden Kräfte mit Posten bedacht wurden. So bekam ein Rebellenkommandant aus Zintan das Militärressort und einer aus Misrata das Innenministerium. Doch nutzen die meisten nun ihre Ämter zu Stärkung der Position ihrer Organisation, ihres Stammes oder ihrer Stadt. Angesichts der absoluten Unfähigkeit und der mangelnde Transparenz dieser Regierung wuchs bald auch in den einstigen Hochburgen der Aufständischen der Unmut über die neue Herren. Nach wie vor sind weder alle Mitglieder des Übergangsrats bekannt noch die Art und Weise, wie sie benannt wurden. Alle Besprechungen finden im Geheimen statt, Protokolle gibt es nicht.
Im Dezember gingen bereits Zehntausende gegen die neuen Herren auf die Straße. Allein in Bengasi demonstrierten 30000 Menschen, kaum weniger als zehn Monate zuvor gegen Ghaddafi. Wochenlang unterhielten sie ein Camp direkt vor dem Hauptquartier des Übergangsrates. Am 21. Januar eskalierten schließlich die Proteste. Wütende, überwiegend junge Demonstranten warfen Brandbomben und Granaten gegen das Gebäude, in dem sich gerade Ratschef Abdel Dschalil mit lokalen Politikern traf und stürmten es.
Auslöser war die Veröffentlichung der Vorlage des Wahlgesetzes für eine Verfassungsversammlung gewesen, die ohne öffentliche Diskussion verfaßt worden war. Hauptgrund war jedoch der Ärger über mangelnde Versorgung, ausbleibenden Wiederaufbau und die Unfähigkeit der Verwaltung, z.B. öffentliche Einrichtungen wie Schulen wieder zu öffnen. Man ist auch erbost über die Dominanz ehemaliger Amtsträger und prowestlicher Exilanten. Viele sind besorgt, daß alles viel schlimmer werde als früher, erläuterte die Anwältin Salwa Bugaighis, die zu Beginn eine führende Rolle im Aufstand gespielt hatte, die Stimmung gegenüber der New York Times (22.1.2012). Besonders zornig wären die Demonstranten, so Bugaighis, über Berichte, wonach Regierungsgelder in Höhe von Millionen, wenn nicht Milliarden Dollar verschwunden seien.
Für besonderen Unmut sorgten zudem Informationen führender Mitarbeiter der Zentralbank, wonach bisher keine Zahlungen für die wieder angelaufenen Öl- und Gaslieferungen eingegangen seien. Es geht das Gerücht um, daß die bisherigen Lieferungen an NATO-Staaten und Katar kostenlos erfolgten, um sie im Rahmen eines Kompensationsabkommen für ihre Dienste beim Umsturz zu entschädigen.
Die stürmischen Proteste führten zur Entlassung mehrere Mitglieder des Rates. Der Vizepräsident Abdelhafis Ghoga, der als Vorsitzender der Anwaltskammer von Bengasi bisher das zivilgesellschaftliche Aushängeschild unter Islamisten, Stammesführern und abtrünnigen Ghaddafi-Amtsträgern spielte, trat nach körperlichen Angriffen während eines Vortrags zurück. Auch in Tripolis und zahlreichen anderen Städten gab es ähnliche Proteste.
Das Wahlgesetz wurde inzwischen mehrfach verändert. 80 der 200 Sitze sollen nun per Listenwahl an Parteien, 120 als Direktmandate an Personen vergeben werden. Eine Frauenquote gibt es nicht, doch die Hälfte der Kandidaten auf den Listen sollen Frauen sein. Ob die Wahlen im Juni, in die westliche Regierungen und Konzerne so große Hoffnungen setzen, überhaupt stattfinden können, ist jedoch mehr als zweifelhaft. An eine geordnete Durchführung jedenfalls ist angesichts der Zersplitterung der Machtverhältnisse nicht zu denken.
Failed State
In Misrata sind die einstigen Rebellen schon weiter. Sie haben Mitte Februar bereits auf eigene Faust Wahlen für einen Stadtrat abgehalten. Die vor dem Krieg zirka 250000 Einwohner zählende Stadt mit den größten und modernsten Häfen Libyens hat sich zunehmend von ihrer Umgebung abgekapselt und zu einem weitgehend selbständigen Stadtstaat mit eigener Rechtsprechung gemacht. Nur Bewohner der Stadt und Besucher, für die ein Einheimischer bürgt, dürfen die martialischen Checkpoints, die alle Zugänge blockieren, passieren. Das Wahlregister enthielt nur zwei Drittel der wahlberechtigten Bevölkerung.[14] Ein starkes Indiz dafür, daß viele Bürger die Stadt verlassen haben oder vertrieben wurden.
Misrata ist allerdings keine einsame Ausnahme, sondern nur rigider als andere Städte. Wer das Land durchreist, der sieht, so der Politologe Jochen Hippler, daß es bereits in verschiedene Machtzonen aufgeteilt ist, die auch militärisch gegeneinander abgesichert werden.[15]
Am 6. Februar versammelten sich 3000 Politiker und Vertreter ostlibyscher Stämme, um die Gründung der halbautonomen »Republik Barqa« im Osten des Landes auszurufen. Barqa ist der arabische Name der Cyrenaika, die – von Ägypten bis zur Syrte reichend – fast die Hälfte Libyens umfaßt. Sie streben, in Anknüpfung an die historische Aufteilung des Landes, die Umwandlung des Staates in eine Föderation, bestehend aus der Cyrenaika, Tripolitanien im Westen und Fezzan im Südwesten an.
Auch wenn als Vorbild das US-amerikanische Modell von Bundesstaaten angegeben wird, können unter den herrschenden Verhältnissen diese Autonomie-Bestrebungen leicht zum völligen Auseinanderbrechen des Landes führen. Während im Osten, wo der größte Teil der Ölvorkommen liegt, nun manche bereits von einem zweiten Dubai träumen, einem Staat mit geringer Bevölkerung, aber hohen Einnahmen, sorgen sich viele Libyer zunehmend, daß das ganz Land ein weiteres Somalia wird.
Auch ausländische Experten befürchten, daß der nordafrikanische Staat bald völlig im Chaos versinken wird und ein neuer Bürgerkrieg bevorsteht. »Libyen als Staat ist verloren und wird immer weiter ins ökonomische und politische Chaos gleiten«, meint der russische Wissenschaftler Sergej Demidenko.[16] Die Ermordung Ghaddafis könnte der Anfang des totalen Zerfalls des Landes gewesen sein, befürchtete auch der Spiegel bereits im Dezember (Spiegel online, 17.12.2011).
Die willkürliche Gewalt der Rebellenmilizen, die internen Konflikte, das Fehlen einer effektiven Regierung bilden auf der anderen Seite auch einen guten Nährboden für einen Aufstand gegen die neuen Herren, wie Time-Korrespondent Tony Karon nüchtern feststellt. Insbesondere da – wie die Großdemonstrationen im Sommer zeigten –die Mehrheit der Libyer gegen den Aufstand und den NATO-Krieg waren. Auch Wolfgang Bauer sieht (in der Zeit vom 16.2.2012) angesichts der großen Verbitterung in Städten wie Sirte, die lange Widerstand leisteten und dabei verwüstet wurden, erhebliches Potential für eine »Gegenrevolution«.
»Grüner« Widerstand
Tatsächlich war der Widerstand von Ghaddafi-Anhängern auch nach dem Tod des Revolutionsführers und dem Fall der letzten Bastionen Sirte und Bani Walid nie ganz versiegt. Im Oktober machte bereits eine »Libysche Befreiungsfront« von sich reden. Ihr Schwerpunkt ist der Süden des Landes; Stützpunkte entstehen in der – die angrenzenden Länder Mali, Algerien, Niger, Tschad und Sudan durchziehenden – Sahelzone. Hier liegt das grenzüberschreitende Gebiet der Tuareg-Stämme, die enge Verbündete Ghaddafis waren, hier können sie sich der Unterstützung weiter Teile der Bevölkerung sicher sein, die ebenfalls durch dessen Sturz viel verloren haben. Als sich der Journalist und Aktivist Franklin Lamb Ende Oktober im Niger mit einigen Organisatoren der neuen Front traf, fand er eine überraschend große und gut ausgerüstete Truppe vor. Insgesamt waren damals bereits über 800 Aktivisten in Niger eingetroffen, darunter viele frühere Regierungsmitarbeiter. Sie verfügen über modernste Kommunikationsmittel und schienen bereits sehr ernsthaft und gut organisiert am Werk zu sein.
Wie stark der Widerstand schon ist, ist jedoch schwer einzuschätzen. Es gibt zwar eine deutliche Zunahme politischer und militärischer Aktivitäten von Ghaddafi-Anhängern, die Übergangsratschef Dschalil bereits zu Warnungen vor einem Aufstand veranlaßte. Mit jeder Nacht mehren sich auch, so Lamb, die Pro-Ghaddafi-Graffitis an den Mauern, und immer häufiger gehen Ghaddafi-nahe Aktivisten – insbesondere Frauen- und Menschenrechtsgruppen – mit ihren Forderungen auf die Straße.[17]
Doch von einer sich rasch ausbreitenden, nach der bisherigen Landesfarbe benannten »Grünen Revolution«, wie sie auf etlichen Internetseiten schon beschrieben wird, kann noch keine Rede sein. Die vielen Erfolgsberichte auf den mit dem Widerstand sympathisierenden Seiten erweisen sich meist, wie u.a. auch Franklin Lamb an Hand von Beispielen belegt, als reine Phantasie.[18]
Ob sich eine kohärente Widerstandsbewegung entwickeln wird, die die von der NATO an die Macht gebombte neue Führung stürzen und sich gegen die Milizen durchsetzen kann, läßt sich, so auch Lamb, noch nicht absehen. Auch der »Grüne Widerstand« ist nicht unberührt von den regionalen und tribalen Spaltungen im Land. Der Mann, der bisher die verschiedenen Kräfte zusammenhalten konnte, wurde aus eben diesem Grund ermordet. Neue Führungspersönlichkeiten, die das Land einen könnten, sind noch nicht in Sicht.
Eventuell wird die Gegenbewegung gegen die von der NATO und ihren Verbündeten geschaffenen Verhältnisse zunächst auch andere Wege gehen – gestützt auf die 35jährige Erfahrung in lokaler Selbstverwaltung.
So vertrieben in Bani Walid einheimische Kämpfer des Warfalla-Stammes die Rebellen-Milizen, die die Stadt seit Oktober kontrollierten. Bani Walid war als letzte Stadt von den NATO-Verbündeten eingenommen worden. Die Warfalla, die größte Stammesgruppe Libyens, zählten mehrheitlich zu den entschiedenen Unterstützer Ghaddafis. Berichten zufolge wurde in Bani Walid zeitweilig auch wieder die frühere Staatsflagge, die grüne Fahne der Dschamahirija, gehißt. Die Stammesführer und Stadtoberen bemühten sich aber, die Operation nicht als Gegenrevolution erscheinen zu lassen, sondern nur als Übernahme der Selbstverwaltung. Während sich die »Tripolis-Brigaden« und andere Milizen schon für eine Rückeroberung vor den Toren der Stadt sammelten, Strom- und Telefonleitungen kappten und die Stadt tagelang von der Außenwelt abschnitten, suchte der aus Zintan kommende Interimsverteidigungsminister Osama Al-Dschuwali einen Ausgleich. Der Übergangsrat akzeptierte schließlich die neue Stadtführung, die dafür öffentlich versicherte, nicht »pro-Ghaddafi« zu sein.[19]
Ein Auftakt der »Grünen Revolution« sind die Geschehnisse in Bani Walid daher nicht. Es ging zunächst nur um die unmittelbaren Interessen der Stadt. Dennoch könnte der Akt der Befreiung Schule machen. Seit die örtliche Polizei wieder die Kontrolle übernahm, ist Bani Walid, wie Alfred Hackensberger von der österreichischen Zeitung Die Presse berichtet, die erste Stadt, in der Sicherheit und Ordnung wiederhergestellt wurden.[20] »Im Gegensatz zu allen anderen Städten sind in Bani Walid keine Waffen auf den Straßen zu sehen, keine Checkpoints, an dem Milizionäre nach Lust und Laune Autos kontrollieren«.
Offene Besatzung?
Trotz der ungünstigen Entwicklung scheint die Neigung der NATO-Staaten, deren Fokus im Moment ohnehin auf Syrien liegt, sich stärker in Libyen zu engagieren, gering. Doch wenn die Mitgliedsländer der Kriegsallianz die anvisierten Gewinne nicht verlieren wollen, werden sie, so die Einschätzung vieler Experten, um den Einsatz regulärer Bodentruppen nicht herumkommen.[21] Dies wäre jedoch nicht nur politisch heikel, auch aus militärischen Gründen sind die NATO-Staaten nicht sonderlich erpicht darauf, erneut eigene Truppen in ein Land zu schicken, in dem es rasch zu Verlusten kommen könnte.
Andererseits gibt es Hinweise, daß Vorbereitungen für einen Einsatz möglicherweise schon im Gange sind. Laut Pepe Escobar von der Asia Times gibt es bereits Vereinbarungen mit dem Übergangsrat über die Einrichtung von Militärbasen im Osten des Landes. Bis zu 20000 Soldaten, 12000 davon aus Europa, sollen – eingeladen von der neuen Regierung – zur Unterstützung bei der Herstellung »innerer Sicherheit« dorthin verlegt werden.[22] Auch Tausende Söldner sollen bereits im Land sein, um u.a. die Anlagen der Ölindustrie zu sichern.
Die Situation ähnelt der in Afghanistan im Januar 2002. Auch dort waren es einheimische Verbündete – die Nordallianz – und NATO-Spezialeinheiten, die mit Hilfe massiver Angriffe aus der Luft das Taliban-Regime stürzten. Und auch hier wurde eine pro-westliche Regierung mit zweifelhafter Legitimation eingesetzt, die zwar international anerkannt wurde, im Land jedoch kaum Rückhalt hatte. Erst als sich abzeichnete, daß sich die neue Regierung angesichts rivalisierender Warlords und eines wachsenden Widerstands nicht halten kann, folgte eine jährlich steigende Zahl von »internationalen Stabilisierungskräften« (ISAF) und US-Kampftruppen für die »Operation dauerhafte Freiheit«. Doch das Scheitern des Krieges konnte auch damit nicht verhindert werden.
Anmerkungen
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»Gulf allies move to reap spoils of Libya war«, Financial Times, 18.1.2012
- »British firms urged to ›pack suitcases‹ in rush for Libya business«, Guardian, 21.10.2011; Hammond: »Libya ›holds business opportunities‹ for UK«, BBC-Video, 21.10.2011
- Borzou Daragahi: »Uncertainty hampers business in Libya«, Financial Times, 10.2.2012
- »Libya amending bank law to attract foreigners«, Reuters, 25.2.2012
- »Signs of Improvement in Libya, Nuqudy«, 22.12.2011; »Monti aims to restore Libya relations«, Financial Times, 22.1.2012; »BP, Shell Preparing for Resumption of Libyan Oil Exploration«, Libya Business News, 13.12.2011
- »Analyst: Libyan oil recovery has limits«, UPI, 23.1.2012
- Borzou Daragahi: »Reconstructing Libya: In a ruinous state«, Financial Times, 17.11.2011
- »LIBYA: The funding dilemma«, IRIN, 5 December 2011
- »Despite denial, Al Quds dedicates editorial to ›US forces in Malta‹«, Malta Today, 18.1.2012
- »Militias threaten hopes for new Libya«, AI, 16.2.2012
- »Libyen: Häftlinge werden gefoltert und erhalten keine medizinische Hilfe – Ärzte ohne Grenzen beendet die Arbeit in Internierungszentren in Misrata«, Pressemitteilung, 26.1.2012; »›Ärzte ohne Grenzen‹ verweigert Folterbeihilfe«, junge Welt, 27.1.2012
- Tony Karon: »In Post-Ghaddafi Libya, Freedom is Messy – and Getting Messier«, Time Magazine, 4.1.2012
- »Libya leaders supported by ›money, arms, PR‹: ex-premier«, Reuters, 25.11.2012; »Ali Tarhouni, Former Libya Oil Minister, Calls New Leaders Unrepresentative Elite«, Huffington Post, 25.11.2011
- »Libya’s Post-Qaddafi Government Is Hobbled as Misrata’s City-State Thrives«, Bloomberg, 29.2.2012
- »Libyen droht zu zersplittern«, Interview mit Jochen Hippler, Tagesschau 16 Uhr, 20.10.2011
- »Libya on the verge of chaos and civil war – experts«, Voice of Russia, 12.12.2011
- Franklin Lamb: »Will A Pro-Ghaddafi ›Green Revolution‹ Topple The NTC?«, Countercurrents.org, 15.1.2012; Franklin Lamb: »Will 2012 Bring Tribal War to Libya?«, CounterPunch, 30.12.2011
- Einigermaßen zuverlässig erscheinende Berichte über militärische Aktionen des Widerstands findet man bei der algerischen Nachrichtenagentur Algeria ISP (www.algeria-isp.com/) und der Seite der spanisch-sprachigen »Nachrichtenagentur des libyschen Widerstandes« (resistencialibia.info/ )
- »Ghaddafi loyalists take back Bani Walid«, Guardian, 23.1.2012; »Former Ghaddafi stronghold rejects Libyan government’s authority«, Guardian, 24.1.2012
- »Besuch in der letzten Bastion des Ghaddafi-Clans«, Die Presse, 21.2.2012
- Tony Karon: »Haunted by the Ghosts of Afghanistan, Libya Asks NATO to Stay On«, TIME Blog, 26.10.2011
- Pepe Escobar: »That rocky road to Damascus«, Asia Times, 24.11.2011
* Dieser Beitrag erschien in zwei Teilen (am 10. und 12. März 2012) in der "jungen Welt"
[Weitere Informationen und Texte auf der Homepage des Autors: jghd.twoday.net]
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