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Rätsel um den Tod Gaddafis

NATO kann ihre Mission "Regimewechsel" als erfüllt ansehen

Von Karin Leukefeld *

Der Nachrichtensender »Al Arabija« zeigte am späten Donnerstagnachmittag (20. Okt.) ein Foto, das - seitlich aufgenommen - angeblich den Leichnam Muammar al Gaddafis zeigt, der nach Misrata transportiert worden sei. Der ehemalige libysche Staatschef sei seinen schweren Verletzungen erlegen, hieß es. Mohammed al Bibi, ein 20-jähriger Kämpfer der Truppen des Übergangsrates (NTC) hatte dem britischen Sender BBC zuvor erzählt, er habe Gaddafi in einem Loch im Stadtzentrum aufgespürt. »Schießt nicht«, habe der frühere Revolutionsführer zu ihm gesagt, als er ihn dort gefunden habe.

Abdul Hakim al-Dschalik, ein Kommandeur der NTC-Truppen, berichtete, auch der Verteidigungsminister Gaddafis, Abu Bakr Junis, und Geheimdienstchef Abdullah al-Senussi seien getötet worden. Außerdem sollen sich der verletzte Gaddafi-Sohn Mutassim und der frühere Regierungssprecher Moussa Ibrahim in den Händen der Milizionäre befinden. In Tripolis bestätigte der Chef der Übergangsregierung, Mahmud Dschibril, den Tod Gaddafis.

Erst Stunden, nachdem der arabische Nachrichtensender die Eroberung Sirtes und die Festnahme Gaddafis vermeldet hatte, bestätigte NATO-Sprecher Oberst Roland Lavoie in Brüssel, Kampfjets der Militärallianz hätten am Donnerstagmorgen zwei Militärfahrzeuge, die »in der Nähe« von Sirte unterwegs gewesen seien und zu einem größeren Konvoi gehört hätten. »Sie wurden gegen 8.30 Uhr getroffen. Da wir keine Soldaten auf libyschem Boden haben, können wir nicht sagen, wer möglicherweise bei diesem Angriff getötet worden ist.« Ein Sprecher des britischen Verteidigungsministeriums sagte, man wisse nicht, ob Gaddafi in einem der Fahrzeuge war, die Royal Airforce sei nicht an dem Angriff beteiligt gewesen, sondern habe lediglich Aufklärung geleistet.

Ob Gaddafi bei dem NATO-Angriff verletzt wurde oder ob einer der Milizionäre des Übergangsrates auf ihn geschossen hat, wird man vielleicht nie erfahren. Die neuen Machthaber haben gewiss großes Interesse daran, Gaddafi als Feigling darzustellen, der sich wie einst Saddam Hussein in einem Erdloch verkrochen hatte.

Die NATO hatte vom UN-Sicherheitsrat im März ursprünglich das Mandat erhalten, die libysche Zivilbevölkerung vor Angriffen der Truppen Gaddafis zu schützen und Waffenlieferungen an Libyen zu unterbinden. Von Beginn an griff die Militärallianz jedoch aktiv zugunsten der Rebellen in die Kämpfe ein, die von NATO- und arabischen Staaten bewaffnet, ausgebildet und militärisch unterstützt wurden. Seit Ende März flog die NATO nach Angaben vom Donnerstag fast 26 100 Lufteinsätze, davon mehr als 9600 Angriffsflüge. Der Brüsseler ARD-Korrespondent Rolf-Dieter Krause beschrieb das Motto der NATO bereits vor Wochen sarkastisch: »Solange Gaddafi noch hustet, ist die Zivilbevölkerung bedroht.

Sirte ist die Heimatstadt Muammar al Gaddafis. Medien, die die NTC-Truppen begleiteten, zeigten am Donnerstag feiernde Kämpfer auf trümmerübersäten Straßen. Sie priesen Gott, feuerten in die Luft und verbrannten die grünen Fahnen des alten Regimes. Die Stadt, einst Heimat von rund 1,5 Millionen Menschen, wurde durch die heftigen Kämpfe der vergangenen Wochen, durch Luft- und Artillerieangriffe weitgehend zerstört. Die Universität, Krankenhäuser und ein früheres Kongresszentrum liegen in Trümmern.

Wenige Tage zuvor war auch die Wüstenstadt Bani Walid von Milizen des Übergangsrates eingenommen worden. Es seien keine Gaddafi-Kämpfer mehr angetroffen worden, berichteten begleitende Reporter. Bei den Freudenfeiern habe sich die Bevölkerung der Stadt nicht blicken lassen, hieß es. Seit Beginn des Krieges im März sollen mindestens 30 000 Menschen getötet worden sein, mehr als 50 000 wurden verwundet.

* Aus: neues deutschland, 21. Oktober 2011


UNO: "Sehr beunruhigend"

Untersuchung des Todes von Gaddafi gefordert **

Die Umstände, unter denen der ehemalige libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi starb, müssen nach Ansicht der Vereinten Nationen untersucht werden.

»Wir wissen nicht, wie er gestorben ist. Dazu muss es eine Untersuchung geben«, sagte der Sprecher des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte, Rupert Colville. Die aufgetauchten Amateuraufnahmen, die Gaddafi nach seiner Festnahme verwundet aber am Leben zeigen, bezeichnete er als »sehr beunruhigend«.

NATO-Kampfflugzeuge hatten am Donnerstag (20. Okt.) den Konvoi des flüchtenden Gaddafi bombardiert - angeblich ohne zu wissen, dass Gaddafi in einem der Fahrzeuge saß. Dies geht aus einer am Freitag von der NATO veröffentlichten Darstellung der Ereignisse hervor. »Das Eingreifen der NATO war ausschließlich durch die Verringerung der Bedrohung für die Bevölkerung begründet«, hieß es darin.

Mahmud Dschibril, Ministerpräsident der Übergangsregierung, erklärte, zuerst hätten die Milizen Gaddafi in Sirte gefangen genommen - lebendig. Dann hätten sie ihn auf einen Pritschenwagen gepackt und seien mit ihm Richtung Misrata gefahren. Auf dem Weg sei der Transport von Anhängern Gaddafis beschossen und dieser verletzt worden. Kurz vor dem Krankenhaus von Misrata sei er verblutet, erklärte Dschibril laut einem Bericht von CNN.

Zweifel an dieser Version hat etwa die »New York Times«. Sie werden durch ein wackliges Video des Fernsehsenders Al-Arabija genährt. Darin ist Gaddafi nach seiner Festnahme in Sirte im blutgetränkten Hemd zu sehen - wankend, aber noch auf eigenen Beinen. Er scheint zu sprechen, eine Hand zu bewegen. Auf späteren Bildern ist Gaddafi tot. Am Kopf ist eine Schusswunde zu sehen.

Al-Arabija vermutet, der Ex-Staatschef wurde nach seiner Festnahme mit voller Absicht getötet. Zu dem Schluss komme zumindest ein libyscher Arzt, der Gaddafis Leiche obduzierte. Seine These: Gaddafi wurde aus kurzer Distanz in den Kopf und in den Bauch geschossen.

Unterdessen wurde bestätigt, dass Gaddafis Sohn Mutassim ebenfalls in Sirte getötet worden ist. Saif al-Islam, der letzte noch in Libyen flüchtige Sohn Gaddafis, wurde angeblich am Freitag festgenommen. Der NATO-Rat trat am Abend in Brüssel zusammen, um das Ende des Libyen-Kriegs zu beschließen.

** Aus: neues deutschland, 21. Oktober 2011


Der Kampf beginnt erst

Von Martin Ling ***

Die Sieger schreiben die offizielle Geschichte. Das wird im Fall Libyen nicht anders sein. Der Sturz Muammar al-Gaddafis nach 42-jähriger Alleinherrschaft, die er im Zweifelsfall immer auch mit Gewalt zu verteidigen bereit war, kam unter massivem Gewalteinsatz der NATO zustande: 26 000 Lufteinsätze hatten den laut UNO-Resolution vorgegebenen Zivilistenschutz bestenfalls als partiellen Nebeneffekt und gingen sicher nicht ohne menschliche »Kollateralschäden« vonstatten, deren Dimension zumindest vorerst ein streng gehütetes Geheimnis bleibt.

Der Regimewechsel stand über allem und vereinte die NATO mit den heterogenen Aufständischen, die von radikalen Muslimen bis hin zu säkular-westlich orientierten Demokratiebewegten reichen, wie sie auf dem Kairoer Tahrir-Platz zu Beginn der ägyptischen Rebellion die Szenerie prägten.

Gaddafi ist Geschichte, was nach ihm kommt, ist offen - wenn man vom freien Zugang des Westens zu den reichen Ölquellen absieht. Jahrzehntelang hat der Westen weit mehr über Ressourcen als über Menschenrechte nachgedacht und alle Diktatoren hofiert, die zur Zusammenarbeit bereit waren - einschließlich des zeitweise verfemten Gaddafi. Für diese Scheinheiligkeit haben nun viele Menschen in Libyen und darüber hinaus mit dem Leben bezahlt. Der Kampf in Libyen zwischen Traditionellen von moderat bis radikal und den Demokratiebewegten ist mit dem Tod Gaddafis nicht beendet - er beginnt erst. Ägypten lässt grüßen.

*** Aus: neues deutschland, 21. Oktober 2011 (Kommentar)


Hinrichtung oder Tod im Kreuzfeuer?

Arabische Stimmen zum Ende von Muammar Ghaddafi

Von Karin Leukefeld, Damaskus ****


Seit Bekanntwerden des gewaltsamen Todes von Muammar Gaddafi am Donnerstag nachmittag ziehen Aufnahmen seines Leichnams im Wechsel mit jubelnden Kämpfern und Zivilisten über die großen arabischen Fernsehkanäle. Allmählich wird auch die offizielle Darstellung seines Todes geglättet, der am Donnerstag noch sehr unterschiedlich beschrieben wurde.

Er habe versucht, in einem Jeep mit seinen Leibwächtern zu fliehen, so der Ministerpräsident des Nationalen Übergangsrates (NTC), Mahmud Dschibril. Ghaddafi sei bei guter Gesundheit gewesen, er habe eine Kalaschnikow getragen. Dann sei er im Kreuzfeuer von Kämpfern des Übergangsrates durch einen Kopfschuß getötet worden. Der Sprecher des Übergangsrates, Abdel Hafez Ghoga erklärte, Ghaddafi sei »im Gewahrsam der Revolution gestorben«. Dieser Darstellung widersprechen Aufnahmen eines völlig zerstörten Konvois, in dem Ghaddafi mit seinem Sohn und dem Verteidigungsminister offenbar versuchte, aus Sirte zu entkommen. Der Konvoi wurde von französischen Kampfjets zerstört.

»Hinrichtung oder im Kreuzfeuer getötet« steht fragend unter einem Bild, das den entkleideten Oberkörper Ghaddafis im Onlineportal Middle East Online zur Schau stellt. Der Tote liegt auf einer mit Plastik überzogenen Matratze, Gesicht und Körper sind blutverschmiert.

Das Ende von Muammar Ghaddafi sei »das unausweichliche Ende aller Tyrannen, die auf den freien, demokratischen Willen ihres Volkes mit Mord, Unterdrückung und Blut antworten«, erklärte der libanesische Politiker und Vorsitzende der Zukunftsbewegung, Saad Hariri. Alle Araber »blicken jetzt auf die Revolution in Syrien, die es verdient hat, Freiheit und Demokratie zu erlangen, nach Jahrzehnten von Unterdrückung.«

Tatsächlich verfolgen in Syrien viele die Nachrichten über Libyen im Fernsehen. Die ersten 20 Jahre habe er als Präsident in Libyen gute Sachen gemacht, meint ein Mann, »doch dann habe er das Land nicht mehr entwickelt und hat alles Geld nur in die eigene Tasche gesteckt«. Ein Präsident solle nicht länger als zwei Amtszeiten haben, meint ein zweiter Mann, danach müßten jüngere Politiker eine Chance erhalten.

Die NATO-Einmischung allerdings lehnten alle einhellig ab. »Jedes Land hat das Recht auf seine eigene Entwicklung, und wenn es hundert Jahre dauert«, meint ein dritter Mann. Er hoffe, diejenigen, die nach einer ausländischen Einmischung in Syrien riefen, kämen zur Vernunft. »Wir haben gesehen, was sie in Afghanistan und im Irak angerichtet haben«, meint er. »Nun ist Libyen zu 70 Prozent zerstört, es gibt bis zu 50000 Tote«. Um Menschenrechte ginge es gar nicht, sondern um Rohstoffe, fügt er noch hinzu: »35 Prozent für Frankreich, 50 Prozent für die USA, die anderen können sich den Rest in Libyen aufteilen. Rußland und China haben sie rausgeworfen, wie im Irak.«

**** Aus: junge Welt, 22. Oktober 2011


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