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Anderes System

Demokratie der Maschinengewehre oder Massendemokratie: Eine Rede des libyschen Staatschefs Ghaddafi vom 8. Juli in Auszügen


Am vorvergangenen Wochenende berichteten westliche Medien aufgeregt über eine Ansprache des libyschen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi vom Freitag, dem 8. Juli. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung titelte am 11. Juli auf Seite eins: »Ghaddafi will Selbstmordkommandos nach Europa schicken«. Die Tageszeitung "junge Welt" (jW) dokumentiert den Text der Rede, die über Fernsehen zu einer Massenversammlung in Sebha, 750 Kilometer südlich von Tripolis, übertragen wurde, in Auszügen. Die redaktionellen Kürzungen sind durch (...) gekennzeichnet. Wir geben den Text in der Fassung der jW wieder:


Im Namen Gottes! Lang lebe Fessan. Das erste antiimperialistische Zentrum der Revolution! Lang lebe Sebha, das den Funken entfachte, der die Geschichte der Welt beeinflußt!

Die Massen der freien Menschen Libyens schicken jetzt eine andere Nachricht als die, die von den Massen in Tripolis am letzten Freitag kam. Diese Nachricht schickte Schockwellen in die Körper der NATO-Kriegstreiber. Sie erzitterten angesichts des Marsches von 1700000 Menschen. Die Ziffer wurde von ihren eigenen Journalisten und Korrespondenten, die in Tripolis waren, bestätigt.

Jetzt gibt es eine weitere Millionen-Menschen-Versammlung in den großartigen Tälern von Fessan. (...) Das sind die lauten Stimmen und die erhobenen Köpfe der Menschen, die dem Ruhm der Al-Fatah-Revolution verpflichtet sind, der historischen Revolution, die die NATO und die Kräfte des Imperialismus erzürnt hat. Getrieben von Neid und Wut versuchen sie, die historische Führung der Revolution zu vernichten. Sie denken, wenn sie Ghaddafi auslöschen, hörte auch die Revolution auf zu existieren. Nein, das ist die Revolution des libyschen Volkes, das politische System, das das libysche Volk gewählt hat und praktiziert vom libyschen Volk!

Ölreichtum

Sie denken, das politische System sei ihrem ähnlich, dem rückwärtsgewandten kapitalistischen, diktatorischen Parteiensystem. Sie denken, das libysche System ähnele ihrem Parteiensystem, in dem die Regierung beim Rücktritt eines Ministers fällt, in dem, wenn die Koalition zerbricht, die Regierung fällt. In Italien hängt die Regierung vom Innenminister ab. Tritt er zurück, stürzt die Regierung. In Berlin hängt sie von einer kleinen Partei ab, genannt die Liberale Partei, tritt ein Minister zurück, stürzt die ganze Regierung. Aber in Libyen gibt es keine Regierung ... keine Autokratie ... keine Wahlen ... Dieses Volk übt die Macht aus, alle erwachsenen Männer und Frauen üben die Macht aus, sie haben das Sagen in den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten. Die Macht ist in den Händen des Volkes. Wie kann das System stürzen, ihr Idioten? Das System in Libyen ist das System der Volksmacht, nicht das System Ghaddafis. Die Volkskongresse wurden von den libyschen Menschen geschaffen, die Volkskomitees einsetzen, um die Entscheidungen der Basiskomitees in die Tat umzusetzen.

Das libysche Volk hat keine Probleme… Das Problem sind die imperialistischen Kräfte, die versuchen, Öl an sich zu reißen, um es ganz offen zu sagen. Sie streben danach, das libysche Öl an sich zu reißen … sie wollen es an sich reißen … sie sagen, wir sind ein kleines Volk und ihr dürft keinen solchen Ölreichtum haben … wir wollen ihn, Frankreich will ihn … das ist nicht für euch. Das ist unverschämt. (...)

Sie sagen, das ist Demokratie, die, von der sie reden, die Demokratie der Maschinengewehre und dem Menschenschlachten. Das ist die Demokratie, die sie einführen wollen mit Bomben und Interkontinentalraketen, das ist die Demokratie! Zur Hölle mit dieser Demokratie, ist das Demokratie? Sie sind barbarisch und sie verstehen nicht. Sie sind barbarisch und glauben, die Welt will die alten Zeiten. Nein, nein, nein. Die Welt hat sich geändert, das libysche Volk ist auf den Plätzen. Tretet dem libyschen Volk entgegen. Wenn ihr Männer wäret, würdet ihr dem libyschen Volk entgegentreten! (...) Sie sagen, sie schützen Zivilisten. Wann hatten sie je Mitgefühl für Zivilisten? Ihr habt das algerische Volk mit der Atombombe geschlagen und gesagt, ihr würdet eine Atombombe in der algerischen Wüste testen, das war, um das algerische Volk auszulöschen. Sie haben eineinhalb Millionen ausgelöscht mit der Atombombe. Wann hattet ihr je Mitgefühl für uns oder Zivilisten? (...)

Kein Kreuzzug

Sie töteten unsere Kinder in unseren Häusern. Das ist Unrecht weit über Unrecht hinaus, barbarisch. Wir werden ihnen warnende Botschaften schicken und Drohbriefe, Tausende von Libyern könnten aufbrechen. Sie sind fähig, Selbstmord in das Mittelmeer und nach Europa zu tragen, denn wir werden in den Himmel fahren und sie zur Hölle! Wir lieben Tod, wir lieben Märtyrertum, Dutzende, Hunderte und Tausende von Libyern werden Märtyrer, ihre Häuser, ihre Kinder, ihre Frauen werden hinüberfahren, genau wie sie es hier machen. Ich sage Auge um Auge, Zahn um Zahn, und sie wissen das!

Jedoch geben wir ihnen die Chance, die Chance mag lang sein, wir werden ihnen die Chance geben, zu ihren Basen zurückzukehren, nachdem sie über das Mittelmeer gekommen sind. Sie wollen die Welt zerstören und Frieden und Sicherheit auslöschen. Sie werden uns nicht in das Mittelalter zurückwerfen, noch einmal einen Kreuzzug zwischen Ost und West austragen, zwischen Islam und Christentum. Sie sind irre, sie sollten gefaßt und einem internationalen Gerichtshof überantwortet werden oder einer Psychiatrie! Tatsächlich gibt es Anwälte in Europa, die Prozeßakten anlegen gegen politische und militärische NATO-Offizielle, die Kriegsverbrecher sind und vor den Internationalen Gerichtshof gebracht werden. Gebt die Macht auf und überlaßt sie dem Volk. Es verlangt eure Leute danach, die Macht zu genießen, genau wie die Libyer es tun. Eure Leute sagen euch, sie in Ruhe zu lassen und sie sich selbst regieren zu lassen. Sie sagen, korrupte Präsidenten, gefälschte Wahlen, diktatorische politische Parteien, die Völker regieren, sei Demokratie? Ist das Demokratie? (...)

Wir lebten in Freundschaft mit ihnen und wahrten Stillschweigen über Ceuta und Mellila, die Kanaren und ihre Besetzung von Lampedusa, wir waren still über all das. Ihre Völker suchten unsere Hilfe, wir hatten Beziehungen mit ihnen, Freundschaft Investitionen, Tourismus und Herzlichkeit. Und in einer einzigen Stunde wurden sie trunken, wurden irre, sie zerstörten alles, und hast du einmal alles zerstört, dann laß es fahren.

All diese Länder sind afrikanisches Land, okkupiert von Frankreich und Spanien, arabisches Land okkupiert von Spanien. Andalusien will Unabhängigkeit, Padanien will Unabhängigkeit, Schottland will Unabhängigkeit, die Basken wollen Unabhängigkeit, Mazedonien will Unabhängigkeit – all diese Völker wollen Unabhängigkeit. Wir können sie anerkennen und eine Allianz mit ihnen bilden, später werdet ihr es bereuen, Tyrannen des Atlantik, ihr werdet es bereuen, wenn der Krieg nach Europa getragen wird. Wir sind fähig, den Krieg nach Europa zu tragen, aber wir warnen euch. (...)

Befreiungsmarsch

Massen sollten bereit sein zum Marsch in jede Gegend Libyens, die von den Verrätern kontrolliert wird und den Agenten der Kolonialisten. Diese sind Verräter und Agenten der Kolonialisten! Sie sind Soldaten Frankreichs und Britanniens. Auch wenn sie Libyer sind, sind sie französische und britische Soldaten. Sie sind Verräter und Agenten. Millionenmassen sollten auf sie zu marschieren, überall. Der Marsch sollte weitergehen, bis Libyen befreit ist und zu seiner Einheit zurückkehrt und seinen Wohlstand, Freiheit und Sicherheit wiedererlangt, wie es zuvor war.

Heute betteln libysche Frauen in Ägypten und Tunesien, waschen Geschirr und arbeiten als Erntehelfer in Tunesien und Ägypten, statt Herrin zu sein, wie sie es vorher gewesen sind. Von den Kolonialisten eingesetzte Verräterbanden kamen über sie. (...) Fessan war vergessen. Nach der Revolution trat es in die Geschichte durch offene Tore ein: »Land des ersten Funkens«. Fessan war ein Brutkasten der Revolution. Die Revolution begann in Fessan, in Sebah. Die Menschen von Fessan waren Sklaven. Sie waren Sklaven der herrschenden Familien, der Reaktionäre und Grundbesitzer. (...) O ihr Verräter und deren Herren Atlantiker. Ihr pflügt die See oder den Sand und lauft hinter einer Fata Morgana her. Hier ist das freie Fessan, seitdem er frei ist, kann er nicht wieder Sklave werden. (...) Das gesamte Volk ist bewaffnet und kämpft. (...)

(Übersetzung aus dem Englischen: Johannes Löw)

* Aus: junge Welt, 18. Juli 2011


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