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Wird die Flugverbotszone herbeigeredet?

Die Nachrichten aus dem Bürgerkriegsland bieten Argumente für ein Ja und auch für ein Nein

Von René Heilig *

Was tun in Libyen? Militärisch eingreifen? Falls ja, wie? Reicht eine Flugverbotszone oder müssen US-Marines landen? Selbst wenn man das Völkerrecht außer acht lässt – auf welcher Basis kann man entscheiden?

Jürgen Chrobog – viele halten den Pensionär für einen von Deutschlands letzten Diplomaten – sagt: »Es muss eingegriffen werden!« Wenn es dafür kein UNO-Mandat gibt, müsse ein NATO-Beschluss her. Zur Not reiche eine Vereinbarung mit der libyschen Opposition. Walther Stützle – viele halten den Wissenschaftler für einen der umsichtigsten Ex-Verteidigungsstaatssekretäre – lehnt Militärinterventionen ab. Hilfe könne nur die EU leisten, indem sie sich um Flüchtlinge kümmert.

So wie in Deutschland – das sich vermutlich nicht direkt an einer gerade durchgeplanten militärischen Intervention gegen Gaddafi beteiligen würde – sind die Ansichten auch in Großbritannien und den USA – zwei Staaten, die mit Sicherheit Soldaten losschicken würden – gespalten. Das liegt unter anderem daran, dass die Informationen über die Situation in Libyen nicht verlässlich sind. Kein Zweifel, dass man die Verlautbarungen der Familie Gaddafi nicht einmal indirekt nutzen kann, weil der Clan die Übersicht total verloren hat.

Doch auch von Seiten der in ihren befreiten östlichen Gebieten keineswegs geeinten Opposition kommt überwiegend Propaganda, deren Inhalt bereitwillig von eingesickerten Korrespondenten – mangels eigener Erkenntnisse – als Nachrichten kolportiert wird.

Und dann verteilen auch noch andere Dienste »Top-News«. Viele implizieren eine Flugverbotszone als absolutes Muss, um das viel zu lange andauernde Patt der Kräfte zu beenden und Gaddafi in Tripolis endgültig zu stürzen. Zwei nach Malta geflohene libysche namen- und wortlos gebliebene Piloten sollten bezeugen, dass der Diktator Völkermord betreibe, indem er sein Volk bombardieren lässt. Das ist ebenso möglich wie verbrecherisch. Nur gut, dass die beiden vorgestellten Mirage-Maschinen zu solchen Angriffen nicht taugen. Als Ente entpuppte sich die Flucht zweier libyscher Koni-Fregatten. Das »Beweisfoto« aus La Valetta stammte vom Flottenbesuch 2008.

Ähnlich ist das mit den Berichten über Söldner, die Libyens Noch-Staatschef rekrutiert. Neuerdings sind sogar Piloten aus ehemaligen Sowjetrepubliken darunter. Heißt es. Falls das stimmt, könnte das die Errichtung einer Flugverbotszone erschweren. In jedem Fall müsste die libysche Luftverteidigung am Boden ausgeschaltet werden. Doch wie ist deren Zustand? Falls ein entsprechender Befehl ergeht, bedarf es laut General James Mattis, Chef des für die Region zuständigen Zentralkommandos, »einer Reihe von Luftschlägen«. US-Generalstabschef Mike Mullen sieht sogar die Notwendigkeit einer »komplexen militärischen Operation«. Ölquellen und Pipelines sind sensibel und Kollateralschäden würden nicht ausbleiben. Chrobog könnte eher damit leben als mit möglichen Massakern. Die arabische Welt auch? Und wäre ein so von außen erkämpfter Sieg ein guter Start für ein demokratisches Libyen?

Pragmatischer geht US-Verteidigungsminister Bill Gates zu Werke. Erstens, weil er sparen muss. Und zweitens, weil die US-Streitkräfte mit den Kriegen in Afghanistan und Irak »am Limit« sind. Bei einer Grundsatzrede vor West-Point-Kadetten warnte er jüngst vehement vor jedem Einsatz von US-Bodentruppen: »Jeder künftige Verteidigungsminister, der dem Präsidenten zu einer große Bodenoperation in Asien, Nahost oder Afrika rät, sollte seinen Kopf untersuchen lassen.«

* Aus: Neues Deutschland, 4. März 2011


Verspätet zum Rendezvous

Von Franziska Brantner **

Die Autorin ist Europaabgeordnete der Grünen und Koordinatorin ihrer Fraktion im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten.

EU-Kommissionspräsident Barroso hat die dramatischen Ereignisse in Nordafrika als Europas »Rendezvous mit der Geschichte« bezeichnet. Leider scheint die EU zu spät zu kommen. Den tunesischen und ägyptischen Despoten hielten die Europäer bis kurz vor ihrem Sturz die Stange und auch Gaddafis Minister wurden noch Mitte Februar in Brüssel empfangen – um darüber zu verhandeln, wie die EU die libyschen Grenzschutztruppen mit 50 Millionen Euro ausrüsten kann. Es war dann auch der Weltsicherheitsrat, der deutlich vor der EU mit konkreten Maßnahmen auf die Libyen-Krise reagierte.

Mittlerweile haben sich annähernd 200 000 Flüchtlinge nach Tunesien und Ägypten auf den Weg gemacht, mehrere Tausend Menschen sind dem Terror der Gaddafi-Milizen zum Opfer gefallen. Gleichzeitig scheint das Regime zum Gegenschlag gegen die befreiten Teile des Landes auszuholen und das Risiko eines blutigen Bürgerkriegs steigt täglich.

In dieser Situation muss Europa mehr leisten als die beschlossenen Sanktionen gegen das Regime und 10 Millionen Euro Soforthilfe. Die EU sollte eine großangelegte gemeinsame humanitäre Hilfsaktion für die Region auf die Beine stellen – und der Versuchung widerstehen, sich auf eine Ansammlung medienwirksamer nationaler Alleingänge zu beschränken. Darüber hinaus sollte die EU einen Sondergesandten für Libyen ernennen, der die humanitären Hilfsmaßnahmen Europas koordinieren und auf prominenter Ebene politische Verhandlungen zur Lösung der Krise führen könnte.

Angesichts der drohenden Eskalation bedarf es jedoch auch weiterer Zwangsmaßnahmen. Der Internationale Gerichtshof ermittelt bereits aufgrund möglicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Bei solchen Verbrechen greift die 2005 einstimmig von den UN verabschiedete »Responsbility to Protect«. Im Rahmen der UN sollte sich die EU deswegen für den nächsten Schritt der Drohkulisse einsetzen: eine Flugverbotszone. Die Zögerlichkeit Brüssels und Berlins ist verständlich, aber falsch. Mittlerweile steht außer Zweifel, dass Gaddafi Flugzeuge und Helikopter einsetzt, um die Bevölkerung zu beschießen, Söldner einzufliegen und regimetreue Truppen mit Nachschub zu versorgen. Sollte es zudem bei der Abwägung der möglichen Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft nicht eine Rolle spielen, dass der oppositionelle Nationalrat im ostlibyschen Benghasi zwar keine Truppen vor Ort will, aber explizit um eine Flugverbotszone bittet?

Deutschland ist derzeit Mitglied des Weltsicherheitsrats, der das Mandat für eine Flugverbotszone erteilen müsste. Hier kann Berlin beweisen – in Absprache mit Brüssel – dass es in der Lage ist, diese notwendige Diskussion voranzutreiben. Eine UN-Flugverbotszone könnte von der EU in Zusammenarbeit mit der Arabischen Liga und der Afrikanischen Union und in Absprache mit der libyschen Opposition durchgesetzt werden. Ein derartiger Einsatz ist nicht ohne Risiko – angesichts der Gräueltaten eines wahnsinnigen Regimes braucht es aber solche Drohkulissen, um die Entourage von Gaddafi zum Aufgeben zu bringen.

Bisher hat die Reaktion Europas auf die Umwälzungen vor seiner Haustüre enttäuscht. Zu zögerlich, zu zaghaft. Das europäische Krisenmanagement scheiterte zunächst in Tunesien und dann in Ägypten (das Vermögen Mubaraks ist in der EU bis heute nicht eingefroren!). Jetzt droht es auch in Libyen zu scheitern. Damit dürfen wir uns aber nicht abfinden, denn es droht eine humanitäre Katastrophe vor unserer Haustüre. Die Geschichte hat zum Rendezvous gebeten, aber lange wird sie nicht mehr auf Europa warten.

** Aus: Neues Deutschland, 4. März 2011 ("Brüsseler Spitzen")


Nachdenken statt bomben

Standpunkt von René Heilig ***

Es ist schon erstaunlich, wie viele verantwortliche Politiker unverantwortlich über die angeblich notwendige Errichtung einer Anti-Gaddafi-Flugverbotszone reden. Sollte man, bevor man mal wieder das Militär von der Kette lässt, nicht fragen: Was soll das Ergebnis einer solchen Aktion sein? Wer legitimiert sie? Wer ist der Adressat dieser Aktion? Hat man wirklich nicht aus den politischen und humanitären Pleiten in Afghanistan und Irak gelernt, dass innere Reformen oder gar Revolutionen auch von innen heraus betrieben werden müssen. Bomben westlicher Überlegenheit richten nur lang anhaltende Schäden an.

Das wichtigste Argument für Luftschläge lautet: Gaddafi muss so rasch wie möglich zum Einlenken und Abdanken gezwungen werden. Das würde voraussetzen, dass er rational erreichbar ist. Alle Indizien sprechen aber dafür, dass der Diktator schon lange in einer unberechenbaren Nebenwelt lebt, in der Menschenrechte ebenso wenig Platz haben wie UNO-Beschlüsse.

Solche Überlegungen über den Sinn militärischen Vorgehens müssen nicht zur Untätigkeit führen. Im Gegenteil. Es wäre vernünftig gewesen, wenn die reicheren der westlichen Staaten viel früher angefangen hätten, eine effektive Flüchtlingshilfe auf die Beine zu stellen. Und statt der Verstärkung von Frontex-Wällen hätte man Europas Burgtore öffnen können für die Ärmsten in Not.

* Aus: Neues Deutschland, 4. März 2011 (Kommentar)


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