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Flüchtlinge sterben im Meer – die NATO schaut zu

100 Tote auf havariertem Boot vor der libyschen Küste / Schiff des Militärpakts verweigert trotz Notrufs Hilfe / Italien fordert Aufklärung *

Eine neue Flüchtlingstragödie im Mittelmeer mit rund 100 Toten wirft ein bezeichnendes Licht auf die angeblich humanitären Ziele des NATO-Kriegseinsatzes in Libyen.

Während die NATO unablässig Gebiete in Libyen bombardiert, um angeblich den Schutz von Zivilisten zu gewährleisten, versagt sie Flüchtlingen in Lebensgefahr ihre Hilfe. Am Donnerstag (4. Aug.) war vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa ein Flüchtlingsschiff aus Libyen entdeckt worden, auf dem während der Überfahrt etwa 100 Menschen an Hunger und Durst gestorben waren. Die italienische Nachrichtenagentur Ansa hatte gemeldet, eine Anfrage der italienischen Behörden bei der NATO zum Rettungseinsatz eines ihrer in der Region befindlichen Schiffe sei abgelehnt worden. Das Außenministerium in Rom verlangte von dem Militärpakt eine Erklärung zu diesem Vorfall.

Überlebende des vor der libyschen Küste havarierten Bootes berichteten über den qualvollen Tod vor allem von Frauen und Kindern, die an Hunger, Durst und Entkräftung starben. Die Männer an Bord seien gezwungen gewesen, »die Leichen, 100 an der Zahl, während der Fahrt über Bord zu werfen«, erklärte einer der Geretteten gegenüber italienischen Beamten auf der Insel Lampedusa.

»Wie Säcke ins Meer geworfen, gestorben an Hunger und Durst und von der Sonne verzehrt«, beschrieb die in Turin erscheinende Tageszeitung »La Stampa« am Freitag das grauenvolle Ende der afrikanischen Flüchtlinge auf dem Boot. Unterdessen hat die italienische Küstenwache mehr als 300 Überlebende des Unglücksbootes aus den libyschen Gewässern nach Lampedusa gebracht. Zahlreiche von ihnen bedürfen sofortiger medizinischer Behandlung, nachdem sie tagelang auf See vergebens auf Hilfe gehofft hatten. Die Küstenwache hatte das Flüchtlingsboot etwa 90 Seemeilen (knapp 170 Kilometer) von Lampedusa entfernt auf See erreicht. Mit insgesamt vier Schiffen wurden die Überlebenden in Sicherheit gebracht.

Die ausweglose Situation des wegen Motorschadens manövrierunfähigen Bootes hatte zuerst ein zyprischer Schlepper bemerkt, der ein SOS-Signal sendete. Trotz dieses Notrufs habe ein 30 Seemeilen entferntes NATO-Schiff nicht reagiert, hieß es. Die Flüchtlinge waren bereits am Freitag vergangener Woche östlich von Tripolis in See gestochen, um der anhaltenden Gewalt durch Krieg und Bürgerkrieg in dem nordafrikanischen Land zu entkommen. Erst am Montag dieser Woche waren unter Deck eines in Lampedusa eingelaufenen Bootes aus Libyen 25 Leichen junger Männer gefunden worden, die dort erstickt waren. Gegen sechs Schleuser wird derzeit in diesem Fall ermittelt. Im Mai sollen hunderte Menschen nach dem Schiffbruch ihres Bootes vor der Küste bei Tripolis nicht mehr das Land erreicht haben. Anfang Juni kamen Berichten zufolge 270 Migranten eines mit rund 700 Menschen überfüllten Bootes aus Libyen im Mittelmeer um. Seit Beginn des NATO-Einsatzes gegen die Regierung von Staatschef Muammar al-Gaddafi erreichten 24 000 Flüchtlinge aus Libyen Italien, die meisten von ihnen über Lampedusa.

Italien verlangt jetzt Auskunft über die Befehle und Weisungen des NATO-Schiffes, das den Berichten zufolge offenbar der Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung trifft. Außenminister Franco Frattini forderte, das Mandat der NATO-Schiffe vor Libyen entsprechend zu ändern, berichtete der italienische Rundfunk am Freitag. Man müsse der Situation von Bootsflüchtlingen, die in Seenot geraten, Rechnung tragen. Das Mandat müsse sich auch auf die Rettung von Zivilisten erstrecken, die über das Meer vor den Kämpfen in ihrer Heimat fliehen wollten, hieß es in der am Freitag veröffentlichten Erklärung des Außenministeriums in Rom.

Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR forderte ebenfalls verstärkte Rettungsbemühungen in derartigen Fällen. Seit Beginn der Bombenangriffe auf Libyen Mitte März würden 1500 Bootsflüchtlinge vermisst, sagte Sprecherin Laura Boldrini der Mailänder Tageszeitung »Corriere della Sera«. Angesichts solcher Unglücke müsse jedem Flüchtlingsschiff Hilfe angeboten werden, bevor es zu Motorschäden kommt.

* Aus: Neues Deutschland, 6. August 2011


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