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Der Strom aus Libyen ist nie ganz versiegt

700 000 Menschen sind infolge des Aufstandes geflohen – die wenigsten von ihnen sind Libyer

Von Christian Klemm *

Die Kämpfe in Libyen dauern seit Monaten an. Die Flucht aus dem Land in die Nachbarländer auch.

Die Kämpfe gegen die Regierung von Präsident Muammar Gaddafi in Libyen treibt die Menschen aus dem Land. Regelmäßig ist von Flüchtlingen zu lesen, die versuchen, in schrottreifen Booten nach Europa zu gelangen. Doch nur die wenigsten von ihnen treten die gefährliche Reise über das Mittelmeer an. Für die meisten Flüchtlinge ist die Überfahrt einfach zu teuer, allein die Schleppergebühren, die mitunter mehrere tausend Euro betragen, sind nicht aufzubringen. Der überwiegende Teil der Schutzsuchenden aus Libyen flieht deshalb in nordafrikanische Nachbarländer. Bevorzugte Ziele sind Tunesien und Ägypten, beides Staaten, in denen ebenfalls heftige Kämpfe stattgefunden haben.

Im Februar dieses Jahres begann ein Teil des libyschen Volkes, sich gegen die Regierung aufzulehnen. Seitdem haben etwa 700 000 Flüchtlinge das Land verlassen, sagt Stefan Telöken, Sprecher des Flüchtlingshilfswerkes UNHCR der Vereinten Nationen in Deutschland, auf ND-Nachfrage. Rund 600 000 seien vorwiegend afrikanische Migranten, die sich in Libyen aufgehalten haben. Nach aktuellen Zahlen des UNHCR befinden sich zur Zeit 3854 Flüchtlinge im Grenzgebiet auf tunesischer Seite. Weniger als 250 von ihnen sind Libyer, so Telöken. Rund 3100 Flüchtlinge davon seien schutzbedürftig. Das UNHCR geht davon aus, dass sich zwischen 60 000 und 70 000 Libyer nach Tunesien geflüchtet haben. Die meisten von ihnen versuchten, bei Verwandten oder Freunden unterzukommen.

Über Flüchtlinge, die von Libyen nach Ägypten gelangt sind, gibt es keine genauen Angaben. Sicher ist, dass mehrere hunderttausend Menschen nach Ägypten geflohen sind. Die große Mehrheit von ihnen sind Ägypter und Drittstaatenangehörige aus West- und Ostafrika, die sich in Libyen zum Beispiel als Arbeitsmigranten durchgeschlagen haben. Viele konnten wieder in ihre Heimatländer zurückkehren. Von Telöken bestätigt wurde, dass momentan rund 1000 Flüchtlinge nahe des ägyptischen Grenzübergangs Salloum beim UNHCR registriert sind.

Eine Lösung für die gestrandeten Flüchtlinge ist das sogenannte Resettlement. Damit ist die Übersiedlung von Flüchtlingen in einen dritten Staat gemeint, weil sie im eigentlichen Ankunftsland nicht bleiben können. Für Telöken ist es oft die »einzige Alternative zur Flucht über das Meer«. Weltweit stehen etwa 80 000 Resettlement-Plätze zur Verfügung. Gebraucht werden etwa 800 000 pro Jahr.

Anfang März waren große Flüchtlingsströme von Libyen in seine Nachbarstaaten zu beobachten. Die Bilder gingen per Satellitenfernsehen und Zeitung um die Welt. Seit Mitte des Monats bombardieren Truppen einer internationalen Militärallianz das Land. Ihr Ziel war es, so die offizielle Begründung am Anfang der Mission, die Zivilisten vor den Angriffen der Regierungstruppen zu schützen. Eine Besserung der Flüchtlingssituation hat sich seitdem kaum eingestellt. Denn in den vergangenen Monaten ist der Strom nie ganz versiegt. Die Flüchtlingsbewegungen seien wechselhaft, meint Telöken, mal mehr mal weniger Menschen verlassen Libyen. »Das kommt immer auf die Frontverläufe an«, meint er.

Mittlerweile hat die Allianz das Ziel ausgegeben, Gaddafi aus dem Amt zu jagen. Nach einem schnellen »Erfolg« sieht es momentan nicht aus. Das Ende der Flucht aus Libyen ist also nicht abzusehen.

* Aus: Neues Deutschland, 28. Juli 2011


»Wohlstand zu teilen, fällt schwer«

Welchen Wert hat die Flüchtlingskonvention heute noch? PRO ASYL gibt Auskunft **

Bernd Mesovic ist stellvertretender Geschäftsführer von PRO ASYL.

ND: Die Politik will Flüchtlinge fernhalten. Wird dadurch die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ad absurdum geführt?

Mesovic: Der Zugang zum Gebiet, auf dem ein Antrag gestellt werden kann, wird verhindert. Das schränkt die Wirksamkeit des internationalen Schutzes für Flüchtlinge ein.

Diejenigen, die die Außengrenzen erreichen, werden oft wie Kriminelle behandelt, anstatt dass man sich ihrer annimmt.

In Nordafrika ist eine Flüchtlingssituation entstanden, die große Ausmaße angenommen hat. Ich erinnere an die Flüchtlingskonferenz von Évian 1938, wo es ein gigantisches Versagen der »Völkergemeinschaft« gab, was dann zur Verfolgung und Ermordung von Millionen Menschen geführt hat. Die historische Parallele drängt sich insofern auf, als ein Resultat dieser historischen Scham das Entstehen der Genfer Flüchtlingskonvention war. Mir scheint, als gebe es ein großes Vergessen in den Staaten Europas, aber auch einen Gedächtnisverlust bei der Bevölkerung, die sich nicht daran erinnern will, dass Europa selbst mal ein Kontinent war, der viele Millionen Menschen in die Flucht geschlagen hat. Wer den militärischen Schutz der Grenzen so weit treibt, dass es unmöglich ist, die EU zu erreichen, der führt natürlich die Konvention ad absurdum.

Der Flüchtling wird als Bedrohung oder ökonomische Last wahrgenommen. Warum gibt es so wenig Empathie für Flüchtlinge in einem Land, das eine historische Verantwortung für sie hat?

Die Angst, unser Wohlstand sei bedroht durch Asylsuchende, ist in den Industriestaaten nie ganz verschwunden, wie die reale Lage in der Welt auch war. Der Anteil der Flüchtlinge an der weltweiten Migration ist konstant und relativ gering. Mit rationalen Argumenten lässt sich jedoch oft recht wenig erreichen. Ganz neu ist das nicht. Alfred Polgar schrieb nach der Konferenz im Jahr 1938 zum Beispiel: »Flüchtlinge in Menge, besonders wenn sie kein Geld haben, stellen ohne Zweifel die Länder, in denen sie Zuflucht suchen, vor heikle materielle, soziale und moralische Probleme.« Das hat er natürlich zynisch gemeint. Bei Konferenzen, meinte er, laute deshalb immer die Frage des Flüchtlingsschutzes: Wie schützen wir uns vor ihnen? Ein Schutzsuchender sollte sein Asylbegehren vorbringen können, über das in einem rechtmäßigen Verfahren entschieden werden kann. Also: Keine direkte Zurückweisung an der Grenze! Die Tatsache, dass nicht jeder zu kommen versucht und dass auch alle Zahlen, alle Statistiken dies belegen, führt leider nicht zu einem rationalen Umgang mit Flucht.

Wie erklären Sie sich, dass die Menschen sich auf ein solches Bedrohungsszenario einlassen?

Ich vermute, dass es sich nicht um anthropogenes Fremdeln handelt, sondern dass Menschen, die einen gewissen Wohlstand erreicht haben, sich schwer damit tun, ihn abzugeben, oder dass sie sich sofort damit konfrontiert sehen, dass sie nun verarmen würden.

Günter Burkhardt, Ihr Geschäftsführer, sagte kürzlich, dass unter den Flüchtlingen auch Leute seien, »die wir brauchen können und nicht nur Leute, die uns ausnutzen«. Da stellt sich die Frage, warum Pro Asyl in etwa so argumentiert wie die CDU/CSU.

Das war ein Ausrutscher. Ich nehme an, er hat eine unglückliche Formulierung gewählt für die Tatsache, dass man sich Flüchtlinge nicht als Menschen ohne Potenzial vorstellen sollte. Wir haben immer deutlich gemacht, dass die Frage einer Einwanderungspolitik, die sich an einem potenziellen Nutzen von Menschen orientiert, zu trennen ist von Flüchtlingsfragen.

Interview: Thomas Blum

** Aus: Neues Deutschland, 28. Juli 2011


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