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Neue Flüchtlingswelle nach Lampedusa

Über 1300 Bootsflüchtlinge aus Libyens Kriegsgebiet erreichen die kleine süditalienische Insel *

Auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa sind am Wochenende mehr als 1300 Bootsflüchtlinge aus Libyen angekommen. Seit Januar kamen über 33 000. Die Insel leidet unter einem massiven Einbruch im Tourismussektor. Ein geplanter Besuch von Regierungschef Silvio Berlusconi wurde abgesagt.

Boot folgt auf Boot. Am Sonntag (10. Juli kamen rund 300 Bootsflüchtlinge, wie italienische Medien berichteten, auf die Insel Lampedusa. Die Küstenwache geleitete die Menschen in den frühen Morgenstunden sicher in den Hafen. Zuvor mussten die Beamten auf See einen beginnenden Brand auf dem Flüchtlingsboot löschen, um die gefährliche Verlegung der Immigranten auf das Boot der Küstenwache zu vermeiden.

In der Nacht zum Samstag (9. Juli) waren bereits 1041 Einwanderer mit insgesamt vier Booten auf der Insel angekommen. Die Menschen – darunter 122 teils hochschwangere Frauen und 33 Kinder – seien aus Libyen geflohen, wie auch die Neuankömmlinge. Der Großteil der Flüchtlinge sollte spätestens am Sonntagabend mit einer Fähre nach Sizilien und auf das italienische Festland gebracht werden, um in anderen Flüchtlingslagern unterzukommen.

Ein ursprünglich für Samstag geplanter Besuch des italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi auf Lampedusa wurde kurzfristig abgesagt. Der Premier wolle vermeiden, die Hilfsmaßnahmen durch seine Anwesenheit zu behindern, teilte die Regierungszentrale in Rom mit. Laut Medienberichten wollte Berlusconi die Insel zur Freihandelszone erklären. Es sei schon alles vorbereitet gewesen, bedauerte Vizebürgermeisterin Angela Maraventano die Absage. Die kleine Insel kämpft seit langem um politische Aufmerksamkeit und Hilfe. Wegen des Flüchtlingsansturms seit Beginn des Jahres kommen deutlich weniger Touristen nach Lampedusa als erhofft, Medien berichteten am Sonntag von einem Rückgang um 80 Prozent.

Italien und vor allem Lampedusa sind seit Beginn der Umwälzungen in Nordafrika verstärkt Anlaufstelle für Migranten und Flüchtlinge aus dem Mittelmeerraum. Seit Januar strandeten mehr als 43 000 Menschen an italienischen Küsten, über 33 000 auf Lampedusa. Etwa 130 Kilometer von der tunesischen Küste entfernt, ist die lediglich 20 Quadratkilometer große Insel seit Jahren für viele verzweifelte Bootsflüchtlinge das ersehnte »Tor nach Europa«. Die Hauptlast der Flüchtlinge aus Libyen tragen derweil die Nachbarländer – allein ins Nachbarland Tunesien sind seit Kriegsbeginn über 400 000 Menschen verschiedener Nationalitäten geflohen.

* Aus: Neues Deutschland, 11. Juli 2011


Zynisch und schändlich

Von Martin Ling **

So sehr die Europäische Union (EU) den arabischen Frühling willkommen heißt, so wenig gilt dies für von dort flüchtende Menschen. Am Wochenende haben es wieder einmal 1300 Bootsflüchtlinge aus Libyen geschafft, die gefährliche Fahrt übers Mittelmeer lebendig zu überstehen und glücklich in Lampedusa anzulanden. In Libyen fliegt die NATO mit Billigung der EU seit Mitte März Luftangriffe, die ihren Schrecken zum Krieg beitragen – auch wenn der Auftrag »Zivilistenschutz« lautet.

Es wäre das Mindeste, wenn sich die EU-Staaten wenigstens auf eine solidarische Aufnahme der Flüchtlinge einigen würden, wie es die EU Innenkommissarin Cecilia Malmström mehrfach anmahnte. Die Appelle verhallten folgenlos. Stattdessen versucht jedes Land, die Flüchtlinge von sich fern zu halten oder wie Italien weiter zu exportieren, wo es nicht mehr gelingt, sie zurückzuschicken. Das ermöglichten bis vor kurzem Abkommen mit Libyens Gaddafi und Tunesiens Ben Ali.

Zustimmung findet Malmström indes für ihre Forderung, auf einen stärkeren Schutz der Grenzen in Südeuropa zu setzen und dafür die FRONTEX-Mission weiter auszubauen. Dabei hat die Vergangenheit gezeigt, dass der Ausbau der Festung Europa keinen Verzweifelten von der Flucht abhält. Grenzen statt Menschen zu schützen, läuft auf noch mehr Tote hinaus. Die EU nimmt das in Kauf, ohne mit der Wimper zu zucken. Eine zynische und schändliche Politik mit todsicheren Folgen.

** Aus: Neues Deutschland, 11. Juli 2011 (Kommentar)


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