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In Libyen braucht es Fluchtkorridore

Flüchtlingsorganisation Pro Asyl fordert EU zu solidarischen Unterstützung in Arabien auf

Von Martin Ling *

Immer mehr Menschen versuchen verzweifelt, Libyen in Richtung Ägypten und Tunesien zu verlassen. Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR spricht davon, dass der »Krisenpunkt« erreicht ist. Pro Asyl fordert Fluchtkorridore und von der EU eine Abkehr von der Flüchtlingsabwehrpolitik.

An den Grenzübergängen Libyens nach Ägypten und Tunesien herrscht Hochbetrieb: Tausende Arbeitsmigranten vor allem aus Ägypten und Tunesien versuchen nach einer überstürzten Flucht – oft nur mit einem Bündel Habseligkeiten ausgestattet –, in ihre Heimatländer zurückzukehren. Allein am Montag seien 14 000 Menschen von Libyen über die Grenze nach Tunesien geflohen, sagte die Sprecherin des UN-Flüchtlingswerkes UNHCR, Melissa Fleming, am Dienstag in Genf. Dies sei die bisher höchste Zahl an einem einzigen Tag. Seit dem 20. Februar seien damit 70 000 bis 75 000 Menschen nach Tunesien geflüchtet, erläuterte Fleming. Am Dienstag würden weitere 10 000 bis 15 000 Menschen erwartet, die versorgt werden müssten.

Zehntausende Menschen warteten nun an der Grenze in Tunesien auf einen Weitertransport, führte die UNHCR-Sprecherin aus. »Es ist absolut notwendig, dass dieser möglich wird, um eine Krise zu vermeiden.« Auf libyscher Seite stünden derweil tausende Menschen teils schon seit drei Tagen Schlange, um die Grenze zu überqueren. Die wenigsten Flüchtlinge haben das Privileg, aus reichen Ländern zu stammen, deren Regierungen keine Mittel und Wege scheuen, ihre Staatsbürger auszufliegen.

Völlig aus dem Blickfeld seien die über 11.000 von der UNHCR in Libyen registrierten Flüchtlinge, so Karl Kopp von der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl gegenüber dem Neuen Deutschland. Neben Irak kämen sie aus den Krisenländern Afrikas wie Eritrea, Somalia und Tschad und stünden nun zwischen allen Fronten, so der Europareferent von Pro Asyl. Hinzu kämen tausende nicht registrierte Flüchtlinge, die teils auch in Gefängnissen säßen. Dort sitzen sie nicht selten, weil Gaddafi sie in Übereinkunft mit der EU dort festhält, nachdem sie bei ihrem Versuch, nach Europa zu kommen, in Libyen gestrandet sind. »Diese Flüchtlinge haben keinerlei Lobby und werden bei den Evakuierungsplänen schlicht übergangen«, kritisiert Kopp.

Von der Europäischen Union erwartet er eine großzügige Unterstützung der Nachbarstaaten Libyens, die derzeit mit ihrer Politik der offenen Grenzen die Flüchtlinge aufnehmen. »In den Aufnahmeländern müsse alles Erdenkliche getan werden, um die Flüchtlinge zu versorgen. Die Grenzen müssen offen bleiben und es müssen Fluchtkorridore für die Schutzsuchenden freigehalten werden.«

Die bisherige Politik der EU findet Kopp enttäuschend. Die zugesagten 3 Millionen Euro Nothilfe allein reichten bei weitem nicht. Und vor allem müsste die EU »endlich mit ihrer rigorosen Abwehrpolitik schlussmachen und Vorbereitungen für die Aufnahme von Flüchtlingen treffen«, auch wenn nicht absehbar sei, wie viele Flüchtlinge sich in nächster Zeit noch auf den Weg machten. Die vom italienischen Außenminister Roberto Maroni lancierte Zahl von 1,5 Millionen hält Kopp für völlig aus der Luft gegriffen. Dennoch müsse die EU den Nachbarländern Libyens ihre Bereitschaft signalisieren, einen Teil der Flüchtlinge aufzunehmen, um solidarisch die Verantwortung zu tragen und so zu sichern, dass die Nachbarländer ihre Politik der offenen Grenzen beibehielten. Inakzeptabel sei die Position vom deutschen Außenminister Guido Westerwelle, der einerseits »richtige Worte über die Bedeutung von Menschenrechten und Demokratie findet und andererseits in Bezug auf die Flüchtlinge ruft: Halt Stehenbleiben! Hier kommt keiner rein!« Stattdessen solle Deutschland und die EU die Aufnahme und Verteilung nach humanitären Kriterien von Flüchtlingen organisieren. Die EU-Richtlinie für den sogenannten vorübergehenden Schutz bietet auf der Basis der doppelten Freiwilligkeit, die aus der Zustimmung des Aufnahmelandes und des Flüchtlings besteht, eine Grundlage für eine solidarische Aufnahmepolitik. Viel Zeit bleibt nicht. In Tunesien droht nach Ansicht der UNO und des Roten Kreuzes eine Katastrophe, wenn nicht schleunigst versprochene Hilfe eintrifft.

* Aus: Neues Deutschland, 2. März 2011

Libyen: Situation an Tunesiens Grenze spitzt sich zu

Tripolis/Berlin/Wien/Genf - Über 140.000 Menschen haben Libyen bislang aufgrund der eskalierenden Gewalt verlassen. Die Lage an der tunesisch-libyschen Grenze ist dramatisch. Derzeit überqueren über 1.000 Menschen pro Stunde die Grenze nach Tunesien. Überwiegend handelt es sich um Ägypter, aber auch Tunesier, die in ihre Heimat zurück wollen. UNHCR erreichen zunehmend Notrufe von Betroffenen, die sich nicht auf die Straße trauen, weil sie dort der Gefahr der Verfolgung ausgesetzt sind.

UNHCR-Nothilfeteams arbeiten mit den örtlichen Rotkreuz-Organisationen und vielen freiwilligen Kräften sowie dem Militär in Tunesien und Ägypten an den Grenzen zusammen, um diese humanitäre Krise zu bewältigen. Am Wochenende ist in Djerba, Tunesien, eine erste UNHCR-Transportmaschine mit 100 Tonnen Hilfsgütern gelandet. An der tunesischen Grenze wurden gestern 500 Zelte von UNHCR errichtet, weitere 1.000 werden derzeit aufgebaut, so dass 12.000 Menschen Unterkunft geboten werden kann. Für Donnerstag dieser Woche sind zwei weitere Hilfsflüge mit Zelten und anderen Hilfsgütern für insgesamt 12.000 Menschen geplant.

Tausende von Menschen warten noch auf der libyschen Seite der Grenze zu Tunesien. Sie müssen seit drei Tagen bei bitterer Kälte die Nächte im Freien verbringen. Unter ihnen befinden sich auch Bürger afrikanischer Staaten, denen der Grenzübertritt nach Tunesien bislang verweigert wurde. UNHCR ist in Verhandlungen mit den örtlichen Freiwilligen, die die Grenzkontrolle übernommen haben, um eine Einreise dieser Menschen zu ermöglichen.

Dringend benötigte medizinische Hilfsgüter werden heute im Auftrag von UNHCR in Zusammenarbeit mit dem ägyptischen Roten Kreuz in den Osten Libyens gebracht.

Besonders besorgt ist UNHCR um das Schicksal von rund 8.000 schutzbedürftigen Flüchtlingen aus verschiedenen Konfliktregionen, die in Libyen festsitzen. Nur ganz wenigen von ihnen ist es gelungen, Zuflucht in einem Nachbarstaat zu finden.

Inzwischen erreichen UNHCR immer mehr Notrufe von den Betroffenen, die sich nicht auf die Straße trauen, weil sie dort der Gefahr der Verfolgung ausgesetzt sind. Sie berichten von Übergriffen, Angriffen auf ihre Unterkünfte und Mordanschlägen.

UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres hat gestern die internationale Staatengemeinschaft auf die Notwendigkeit hingewiesen, gefährdeten Menschen aus armen und kriegszerrütteten Ländern ebenfalls die Möglichkeit einer Evakuierung aus Libyen zu ermöglichen.

"UNHCR appelliert an alle Nachbarregierungen in Nordafrika und Europa, die Grenzen über Land, Luft oder See offen zu halten für Menschen, die aus Libyen fliehen müssen", sagte Guterres. "Alle Menschen, die Libyen verlassen, sollten ohne jegliche Diskriminierung und ungeachtet ihrer Herkunft Unterstützung erhalten."

Das UN-Flüchtlingskommissariat ruft dazu auf, den Libyen-Hilfseinsatz durch Spenden zu unterstützen. Für Deutschland nimmt die UNO-Flüchtlingshilfe ab sofort Spenden für die schutzbedürftigen Menschen in der Krisenregion entgegen. Wie Sie in Österreich und der Schweiz spenden können erfahren Sie unter "Was kann ich tun?".

Quelle: Deutschsprachige Website des UNHCR, 1. März 2011; www.unhcr.de




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