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Im Konfliktfall gilt das Faustrecht

Sieben Monate nach dem Ende Gaddafis wartet Libyen weiter auf rechtsstaatliche Institutionen

Von Alfred Hackensberger *

Auch sieben Monate nach der Tötung des libyschen Staatschefs Gaddafi befinden sich nach UN-Angaben noch immer rund 4000 seiner Anhänger in geheimen Gefängnissen. Diese werden von Milizen beherrscht - das größte Problem bei der Herstellung von Rechtsstaatlichkeit, sagte der Leiter der UN-Mission in Libyen, Ian Martin, am Donnerstag in New York.

Es hatte mit einer kleinen Demonstration begonnen. Aber in kürzester Zeit wurde aus ein paar Dutzend Männern vor dem Sitz der libyschen Regierung in Tripolis eine Menge von 200. Alle bewaffnet und mit 50 Wagen, auf denen schwere Maschinengewehre montiert waren. Es kam zu einem heftigen Schusswechsel mit der Sicherheitstruppe des Premierministers Abdel Rahim al-Keib, bei dem einer seiner Wächter getötet und vier weitere Menschen verletzt wurden.

Die Milizangehörigen wollten mit Gewalt die Auszahlung ihres Lohns erzwingen, der ihnen als Kämpfer gegen Muammar al-Gaddafi zusteht. Die Regierung hatte im April alle Zahlungen eingestellt, nachdem weitverbreiteter Betrug entdeckt worden war. An Tausende vermeintliche Rebellen war Geld geflossen, die nie einen Schuss abgegeben hatten. Der Ärger unter den »echten« Rebellen ist verständlich.

Der Vorfall vor dem Büro des Premierministers ist kein Einzelfall. Bereits im Januar war das Gebäude des Nationalen Übergangsrats in Benghasi von verärgerten Ex-Rebellen gestürmt worden. Zudem zeigt er die grundsätzlichen Probleme des neuen Libyen. Das Korruptionssystem der 42 Jahre langen Gaddafi-Diktatur funktioniert noch. Ein Betrug in diesem Ausmaß ist nur möglich, wenn Listen mit Hunderten von Namen den richtigen Ansprechpartner für eine angemessene Summe finden. Bei der Behandlung von Verwundeten wurde bereits vor Monaten ein ähnlicher Schwindel offengelegt. Von 60 000 in Jordanien oder der Türkei Behandelten sollen in Wirklichkeit nur zehn bis 20 Prozent verwundete Rebellen gewesen sein.

Nicht zu vergessen ist dabei die Rolle der Stämme. Der Betrug wird sicherlich nicht von kriminellen Banden organisiert. Namenslisten für Auslandsbehandlung oder Gehälter werden von Stammesältesten zusammengestellt und an Klan-Mitglieder in den betreffenden Institutionen »zur Bearbeitung« weitergeben. Da steht einem die eigene Sippe am nächsten und nicht Ideale, von denen man kein Brot kaufen kann.

Das eklatantere Problem sind Waffen und der Wille sie zur Durchsetzung eigener Interessen im Konfliktfalle zu benutzen. Seit dem offiziellen Ende des Bürgerkriegs im Oktober verging kein Monat ohne Scharmützel zwischen rivalisierenden Gruppen.

Die Milizen sollten schon längst ihre Waffen abgegeben haben, denken aber nicht daran. Jede Stadt, jede Region, jeder Stamm will erst abwarten, welche Rolle man im neuen Libyen spielen wird. Immer bereit, mit Waffengewalt nachzuhelfen, sollte man nicht bekommen, was einem zusteht. Die Milizen aus der Stadt Zintan sind ein gutes Beispiel für diese Mentalität. Sie kontrollierten den Flughafen von Tripolis und einige Ölanlagen. Offiziell arbeiten die Milizenmitglieder seit über einem Monat für die Flughafenbehörde und Ölfirmen. Perfekte Reintegration von Kämpfern? Ihre Waffen, von Maschinengewehr bis zum Panzer, geben sie jedoch nicht ab. Sie belässt man in Lagern der Stadt. »Bis alles geregelt ist«, sagte der hiesige Militärkommandeur.

Nach Regierungsangaben wurden bisher zwischen 40 000 und 50 000 ehemalige Rebellen in Armee, Polizei und sonstige Sicherheitsdienste übernommen. Wie viele davon bereit sind, für die neue Regierung einzutreten, ist ungewiss. Nur auf eine Truppe kann sich der Premierminister verlassen: Es ist eine 8000 Man starke Einheit, die direkt und ausschließlich dem Innenministerium unterstellt ist. Sie war es auch, die gegen die Demonstranten vor dem Regierungssitz einschritt. »Gesetzlose« nannte der Premier die Demonstranten und versprach, in Zukunft »hart bei vergleichbaren Vorkommnisse« vorzugehen. Ob seine 8000-Mann-Truppe ausreicht, um bei einem ernsten Konflikt mit einer der großen Milizen zu bestehen, ist eine andere Frage. Am 19. Juni sollen die ersten freien Wahlen in Libyen stattfinden. Mal sehen, ob das Wahlergebnis zur Verfassungsgebenden Versammlung allen gefällt.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 12. Mai 2012


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