Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Rebellen holen Gaddafi-Flagge ein

Regimetruppen weiter im Widerstand gegen Aufständische / Berichte über Gräueltaten / Afrikaner befürchten "neue Kolonialisierung" *

Der Kampf um die Herrschaft in Libyen ist noch nicht zu Ende: Auch nach dem Umzug der Übergangsregierung in die Hauptstadt Tripolis leisten die Anhänger des untergetauchten Staatschefs Muammar al-Gaddafi weiter erbitterten Widerstand.

Die Gefechte konzentrierten sich am Freitag (26. Aug.) auf Gaddafis Heimatstadt Sirte und die strategisch wichtige Wüstenstadt Sebha in der Landesmitte.

Der Chef der libyschen Übergangsregierung, Mahmud Dschibril, erklärte, die Aufständischen hätten inzwischen fast im ganzen Land die Oberhand. Nur Sebha, Sirte sowie das südöstlich von Tripolis gelegene Bani Walid seien nicht unter Kontrolle.

Britische Kampfflugzeuge beschossen in der Nacht zum Freitag eine Kommando- und Kontrollzentrale in Sirte mit Raketen. Mit dem Angriff habe man sicherstellen wollen, dass es keine andere Befehlszentrale des Regimes außerhalb von Tripolis gibt, hieß es in London. Der britische Verteidigungsminister Liam Fox betonte, es sei »verfrüht« anzunehmen, dass die Kämpfe vorbei seien.

Die Gaddafi-Gegner riefen die Einwohner von Sirte auf, die Stadt kampflos zu übergeben. Im Gegenzug sollten nur aus Sirte stammende Kämpfer in die Küstenstadt einrücken, hieß es. Die Aufständischen sammelten ihre Einheiten nahe Sirte, wo sich Truppen Gaddafis verschanzt haben.

In der Garnisonsstadt Sebha lieferten sich Anhänger und Gegner Gaddafis in der Nacht zu Freitag heftige Kämpfe. Dutzende Rebellen seien getötet worden, als sie das Hauptquartier des Militärgeheimdienstes erstürmten, teilten die Aufständischen mit. Sie hätten zwei Stadtviertel besetzt. Es gebe kein Wasser und keinen Strom.

Auch Tripolis war noch nicht voll unter der Kontrolle der Aufständischen. Vor allem der Flughafen der Stadt war nach Berichten von Fernsehsendern am Freitag noch schwer umkämpft.

Reporter der Sender Al-Dschasira und BBC berichteten unterdessen von Gräueltaten auf beiden Seiten. Die Sender zeigten Bilder von Leichen mit auf dem Rücken gefesselten Händen. Amnesty International beschuldigte Anhänger Gaddafis, womöglich mehr als 100 Gefangene in Militärcamps getötet zu haben. Augenzeugen hätten von brutalen Szenen berichtet, die sich am Dienstag und Mittwoch (23. u. 24. Aug.) in zwei Lagern nahe Tripolis abgespielt haben sollen, teilte die Menschenrechtsorganisation am Freitag in London mit. Die Gaddafi-treuen Truppen hätten Granaten geworfen und mit Schusswaffen auf die Gefangenen gefeuert.

Auf Druck der USA haben die Vereinten Nationen die Freigabe von 1,5 Milliarden Dollar aus eingefrorenen libyschen Auslandsvermögen beschlossen. Mit dem Geld soll vor allem die Versorgung verbessert werden.

In Afrika sorgt der sich abzeichnende Machtwechsel in Tripolis für Unmut. In einer Erklärung von 200 Künstlern, Wissenschaftlern und Politikern werden Frankreich, die USA und Großbritannien als »Schurkenstaaten« angeprangert. Mit dem Abgang Gaddafis verbinden sie »die ernsthafte Gefahr einer neuen Kolonialisierung«. Dieser Initiative »Besorgte Afrikaner« gehören unter anderen der Schriftsteller Wally Serote und der frühere südafrikanische Geheimdienstminister Ronnie Kasrils an.

»Die NATO hat internationales Recht verletzt, sie hatte den Machtwechsel in Libyen im Visier«, erklärte der Politikprofessor Chris Landsberg, einer der »besorgten Afrikaner«. Der »Imperialismus« kehre mit »Gewalt und Brutalität« zurück, vermerkte die einflussreiche Jugendliga der südafrikanischen Regierungspartei ANC. Südafrikas Vizepräsident Kgalema Motlanthe griff die Forderung auf, die NATO wegen möglicher Menschenrechtsverletzungen vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag anzuklagen. Die Frage sei, ob das Gericht willens und in der Lage sei, »die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, einschließlich der NATO-Kommandeure vor Ort«, sagte er.

Die Afrikanische Union erkennt den Übergangsrat weiterhin nicht als legitime Regierung an. Ein Sondergipfel des Friedens- und Sicherheitsrats der Organisation am Freitag in Addis Abeba rief stattdessen zur Bildung einer neuen Übergangsregierung auf, an der auch Gaddafi-treue Kräfte beteiligt sein sollen.

* Aus: Neues Deutschland, 27. August 2011


Bombenkrieg geht weiter

Libyen: NATO fliegt nach wie vor Angriffe gegen Tripolis und Sirte. Seit März über 20000 Einsätze **

Allen Siegesmeldungen zum trotz setzt die NATO ihren Bombenkrieg gegen Libyen fort. Britische Kampfflugzeuge griffen am Freitag (26. Aug.) das Gebiet um die Geburtsstadt des langjährigen libyschen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi an. Mehrere Raketen seien auf einen großen Bunker im Hauptquartier der Regierungstruppen in Sirte abgefeuert worden, sagte ein Sprecher der britischen Luftwaffe, Generalmajor Nick Pope. Außerdem griffen Maschinen der NATO 29 Fahrzeuge in der Nähe von Sirte an, wie das Militärbündnis am Freitag in Brüssel mitteilte. Truppen der libyschen Rebellen rückten indes weiter auf die 400 Kilometer östlich von Tripolis gelegene Stadt vor, wo sie mit Widerstand durch der Regierung loyale Truppen und Stammesangehörige rechnen.

Der britische Verteidigungsminister Liam Fox erklärte in London, die NATO werde ihren Einsatz gegen die militärischen Einheiten Ghaddafis fortsetzen. »Das Regime muß einsehen, daß das Spiel vorbei ist«, sagte Fox. Einer am Freitag von der NATO veröffentlichten Statistik zufolge hat das Militärbündnis seit dem 31. März über 20000 Einsätze gegen Libyen geflogen. Allein am Donnerstag seien es 133 Flüge gewesen, darunter 46 Angriffe. Die meisten hätten sich gegen Sirte gerichtet, aber auch Tripolis wurde mehrfach bombardiert. Beobachter werteten dies als Eingeständnis, daß die Aufständischen und die NATO die Hauptstadt noch nicht eingenommen haben. »Eine Stadt, die ich kontrolliere, muß ich nicht bombardieren«, kommentierte das Internetportal Methaba. Trotzdem hat der »Nationale Übergangsrat« seinen Sitz offiziell aus Bengasi nach Tripolis verlegt. Dessen Vizepräsident Ali Tarhuni kündigte an, daß sein Chef Mustafa Abdel Dschalil nach Tripolis kommen werde, sobald die Sicherheitslage dies zulasse. (dapd/AFP/jW)

* Aus: junge Welt, 27. August 2011

amnesty international: Kriegsverbrechen begehen beide Seiten

Both sides in Libya conflict must protect detainees from torture

Both sides to the ongoing conflict in Libya must ensure that detainees in their custody are not tortured or otherwise ill-treated Amnesty International said today.

The call followed reports from Amnesty International's delegation in Libya on Tuesday, which has gathered powerful testimonies from survivors of abuse at the hands of both pro-Gaddafi soldiers and rebel forces, in and around the town of Az-Zawiya.

TESTIMONIES OF ABUSE COMMITTED BY REBEL FORCES:

Against fighters loyal to Colonel Mu'ammar al-Gaddafi

On Tuesday, Amnesty International met officials at Bir Tirfas School which is now being used to detain pro-Gaddafi soldiers, alleged foreign mercenaries, and suspected Gaddafi loyalists.

The officials said that they would not repeat the human rights violations of the former regime. They vowed to uphold the rights of the detainees to be treated with dignity and afforded fair trials.

In an overcrowded cell, where some 125 people were held with barely enough room to sleep or move, a boy told Amnesty International how he had responded to calls by al-Gaddafi’s government for volunteers to fight the opposition.

He said that he was driven to a military camp in Az-Zawiya, where he was handed a Kalashnikov rifle that he did not know how to use.

He told Amnesty International: “When NATO bombed the camp around 14 August, those who survived fled. I threw my weapon on the ground, and asked for refuge in a home nearby. I told the owners what happened, and I think they called the revolutionaries [thuuwar], because they came shortly after.

"They shouted for me to surrender. I put my hands up in the air. They made me kneel on the ground and put my hands behind by head. Then one told me to get up. When I did, he shot me in the knee at close range. I fell on the ground, and they continued beating me with the back of their rifles all over my body and face.

"I had to get three stitches behind by left ear as a result. In detention, sometimes they still beat us and insult us, calling us killers."

A member of the al-Gaddafi security forces, told Amnesty International how he was apprehended by a group of armed men near Az-Zawiya around 19 August as he was bringing supplies to pro-Gaddafi forces.

He said that he was beaten all over his body and face with the backs of rifles, punched and kicked. He bore visible marks consistent with his testimony. He told Amnesty International that in detention, beatings are less frequent and severe, but take place intermittently depending on the guards on duty.

Against migrant workers

Detention officials in Az-Zawiya said that about a third of all those detained are "foreign mercenaries" including nationals from Chad, Niger and Sudan.

When Amnesty International delegates spoke to several of the detainees however, they said that they were migrant workers. They said that they had been taken at gunpoint from their homes, work-places and the street on account of their skin colour.

None wore military uniforms. Several told Amnesty International that they feared for their lives as they had been threatened by their captors and several guards and told them that they would be "eliminated or else sentenced to death".

Five relatives from Chad, including a minor, told Amnesty International that on 19 August they were driving to a farm outside of Az-Zawiya to collect some produce when they were stopped by a group of armed men, some in military fatigues.

The armed men assumed that the five were mercenaries and handed them over to detention officials despite assurances by their Libyan driver that they were migrant workers.

A 24 year-old man from Niger who has been living and working in Libya for the past five years, told Amnesty International that he was taken from home by three armed men on 20 August.

He said that he was handcuffed, beaten, and put in the boot of the car. He said: "I am not at all involved in this conflict. All I wanted was to make a living. But because of my skin colour, I find myself here, in detention. Who knows what will happen to me now?"

TESTIMONIES OF ABUSE COMMITTED BY PRO-GADDAFI FORCES:

Amnesty International's delegation uncovered evidence of rape being committed against inmates of Tripoli's notorious Abu Salim Prison.

Former detainees said they witnessed young men being taken from their cells at night – returning several hours later visibly distressed.

Two boys told cellmates that they had been raped by a guard. According to one former detainee: "One of the boys was in particularly bad shape after being brought back to his cell. His clothes were torn and he was almost naked. He told us that he had been raped. This happened to these two boys several times."

Thousands of men, including unarmed civilians, "disappeared" during the conflict, taken by pro-Gaddafi forces. Their relatives lived through months of anguish not knowing their fate.

Those recently freed brought back with them stories of torture and other ill-treatment in al-Gaddafi detention facilities in Sirte and Tripoli. They told Amnesty International how they had been beaten with metal wires, sticks and batons and electrocuted

Amnesty International delegates also met several men who said they had been shot by pro-Gaddafi forces after they had been caught, and clearly no longer posed a threat.

One man taken near the eastern frontline close to Ajdabiya on 21 March told us that his captors had inserted the barrel of a rifle into his anus, while he was blindfolded.

Source: amnesty international, 25 August 2011; www.amnesty.org




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