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Millionen-Kopfgeld auf Gaddafi

Immer noch Kämpfe in Libyen / SPD und Grünen ist deutsche Kriegsenthaltung peinlich *

Während die libyschen Aufständischen Siegesfeiern zelebrieren, leisten Truppen Gaddafis weiter Widerstand. Bundesaußenminister Westerwelle äußerte derweil bereits die Erwartung, Deutschland werde eine Schlüsselrolle beim Wiederaufbau in dem nordafrikanischen Land spielen.

In Tripolis und anderen Orten Libyens lieferten sich Truppen von Muammar al-Gaddafi und die Aufständischen am Mittwoch (24. Aug.) weiterhin Gefechte. Von dem Staatschef fehlte nach der Erstürmung seines Hauptquartiers immer noch jede Spur. In einer Audiobotschaft kündigte der 69-Jährige aber einen Kampf »bis zum Märtyrertod oder Sieg« an.

Laut Medienberichten setzte der Übergangsrat ein Kopfgeld auf Gaddafi aus – tot oder lebendig. Dem Sender Al-Dschasira zufolge beträgt es 1,7 Millionen Dollar.

Der Übergangsrat sieht wegen der instabilen Lage noch keine Chance, aus Bengasi umzuziehen und eine provisorische Regierung in der Hauptstadt zu installieren.

Nach Berichten arabischer Medien hielten Gaddafi-Truppen noch in zwei Stadtvierteln von Tripolis die Stellung. Auch in Gaddafis Hauptquartier wurde noch gekämpft. Der innere Bereich werde weiter von dessen Soldaten kontrolliert, hieß es. Laut Al-Dschasira griffen Regierungstruppen in der Nacht auch die Rebellenhochburg Misrata mit Scud-Raketen an.

Über 30 in einem Hotel in Tripolis eingeschlossene Journalisten konnten indes befreit werden.

Allein beim Kampf um Tripolis seien bisher 435 Menschen getötet und 2000 verletzt worden, hieß es aus dem Zentralkrankenhaus.

Der Übergangsrat führte am Mittwoch Gespräche mit Vertretern der EU, der USA und anderen Staaten. Laut BBC baten sie um die Freigabe von 2,5 Milliarden Dollar eingefrorener Gelder des Gaddafi-Regimes. Zugleich legte die Übergangsregierung einen Zeitplan vor. Danach soll es innerhalb von acht Monaten nach dem Sturz Gaddafis Parlaments- und Präsidentenwahlen geben.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle äußerte am Mittwoch (24. Aug.) die Erwartung, Deutschland werde eine Schlüsselrolle beim Wiederaufbau in Libyen spielen. Während der FDP-Politiker erneut die Entscheidung Deutschlands verteidigte, sich bei der Abstimmung im März im Sicherheitsrat über den internationalen Militäreinsatz in Libyen der Stimme zu enthalten, kritisierte SPD-Fraktionsvize Gernot Erler die deutsche Stimmenthaltung als »Akt der Selbstisolierung«. Auch hätte ohne den Militäreinsatz »das Ganze einen völlig anderen Verlauf genommen«.

Grünen-Chef Cem Özdemir forderte ein Ende des »deutschen Sonderweges« in Libyen. »Wir sind nun in der Bringschuld«, sagte er. »Mit demokratischer Aufbauhilfe können wir Deutschen eine kleine Form der Wiedergutmachung dafür leisten, dass wir praktisch nicht dazu beigetragen haben, dass Diktator Gaddafi vertrieben wurde.« Der LINKE-Außenpolitiker Jan van Aken warf der NATO in Libyen erneut einen »mandatswidrigen« Einsatz zugunsten der Gaddafi-Gegner vor.

* Aus: Neues Deutschland, 25. August 2011


Libyen vor langem Krieg

Von Karin Leukefeld **

Als »schrecklich« haben Beobachter gegenüber der katholischen Nachrichtenagentur ­Fides die Erstürmung der »Bab Al-Asisija« in Tripolis bezeichnet. Das weitläufige Regierungszentrum mit der Residenz von Staatschef Muammar Al-Ghaddafi war am Dienstag abend von den Aufständischen besetzt worden. »Die Flugzeuge der NATO warfen stundenlang Bomben auf die Festung ab«, zitierte die offizielle Agentur des Vatikan einen Augenzeugen. Bei dem Angriff seien die Kämpfer des Nationalen Übergangsrates von lokalen Berberstämmen, NATO-Sondereinheiten und Soldaten arabischer Staaten unterstützt worden, berichteten das dem israelischen Geheimdienst nahestehende Internetportal Debka und der britische Guardian.

Die New York Times hatte am Dienstag unter Berufung auf namentlich nicht genannte Regierungsverantwortliche in Washington bestätigt, daß US-Präsident Barack Obama bereits Ende März die CIA ermächtigt hatte, die libyschen Rebellen direkt zu unterstützen. Er habe weitreichende Operationen für den Geheimdienst genehmigt, »jede Art verdeckter Aktionen«. Nordamerikanische Beobachter äußerten sich indes unzufrieden mit der aktuellen Situation in der libyschen Hauptstadt. Die Rebellen seien schlecht organisiert und undiszipliniert. Gruppen von Aufständischen zogen plündernd durch die Stadt, berichteten Journalisten vor Ort.

Die Einwohner von Tripolis gingen »sehr zurückhaltend auf die Straßen«, wo die Rebellen patrouillierten, meldete Fides. Jeder werde dort zu einer lebenden Zielscheibe. Lebensmittel und Treibstoff seien knapp. Die Mönche im Franziskanerkloster hätten sich verbarrikadiert, alle Telefonverbindungen seien zusammengebrochen. Der päpstliche Nuntius in der Haupstadt, Bischof Giovanni Innocenzo Martinelli, sagte gegenüber Radio Vatikan, er rechne mit einem langen Kampf zwischen den Rebellen und den Ghaddafi-Anhängern und rief alle Seiten zum Dialog auf. In Libyen herrsche Chaos, viele Menschen befürchteten eine Entwicklung wie in Somalia.

Im südafrikanischen Johannesburg haben derweil mehr als 200 afrikanische Intellektuelle die Bombardierung Libyens durch die NATO als »Teil eines Plans zur Rekolonialisierung des Kontinents« verurteilt. Der UN-Sicherheitsrat sei für eine »kriegerische Diplomatie mißbraucht« worden, um einen »Regimewechsel in Libyen« zu erzwingen und »die Afrikanische Union auszugrenzen«, heißt es in der Stellungnahme. Chris Landsberg, Professor für Politik an der Universität von Johannesburg sagte für die Gruppe, die NATO habe »das Völkerrecht verletzt«. Zu den Unterzeichnern des Briefes gehören auch der frühere südafrikanische Präsident Thabo Mbeki sowie die ehemaligen Kabinettsmitglieder Ronnie Kasrils und Aziz Pahad. Der Dichter und Schriftsteller Wally Serote sagte, der einzige Weg zum Frieden für das Volk in Libyen sei der Verhandlungsplan, den die Afrikanische ­Union (AU) vorgelegt habe. Staatschef Jacob Zuma warf der NATO ebenfalls vor, durch ihr Vorgehen die Umsetzung der AU-Friedenspläne verhindert zu haben. »Wir hätten sehr viele Menschenleben retten können«, erklärte Zuma in Kapstadt.

Die Rebellen haben unterdessen denjenigen aus dem Umfeld Ghaddafis, die den Staatschef gefangennehmen oder umbringen, Straffreiheit angeboten. Zudem setzte ein Geschäftsmann aus Bengasi ein Kopfgeld in Höhe von etwas mehr als einer Mil­lion Euro auf seine Ergreifung aus

** Aus: junge Welt, 25. August 2011


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