Aggressoren schockiert
Libyen: Überraschender Auftritt von Saif Al-Islam im Zentrum von Tripolis. Ghaddafis Sohn gibt sich siegessicher
Von Karin Leukefeld *
Schockiert haben westliche Medien und Politiker am Dienstag (23. Aug.) auf das Auftauchen von Saif Al-Islam in Tripolis reagiert. Der zweitälteste Sohn von Staatschef Muammar Al-Ghaddafi war in der Nacht zum Dienstag umjubelt von Hunderten Anhängern vor dem Hotel Rixos vorgefahren, in dem die ausländischen Korrespondenten in Tripolis untergebracht sind. Noch am Vortag hatten Journalisten berichtet, das Hotel sei von den Rebellen umstellt und würde geplündert. Nur Stunden zuvor hatten die Rebellen berichtet, sie hätten Saif Al-Islam festgenommen, der vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit Haftbefehl gesucht wird. Dessen zuständiger Richter, Luis Moreno Ocampo, hatte die Festnahme bestätigt und die Auslieferung verlangt. Der Chef des »Nationalen Übergangsrates« der Rebellen, Mustafa Mohammed Abdul Dschalil, hatte die Aufständischen aufgefordert, das Leben des Ghaddafi-Sohnes zu schonen und keine Vergeltung zu üben.
Angeblich waren am Sonntag (21. Aug.) auch zwei weitere Söhne Ghaddafis festgenommen worden. Am Dienstag morgen hieß es allerdings, der älteste Ghaddafi-Sohn, Mohammed, der sich am Sonntag ergeben haben soll, sei wieder entkommen. Offenbar wurde dieser von Regierungstruppen aus dem Hausarrest befreit. Unklar blieb, wo sich sein Bruder Al-Saadi aufhält, den die Aufständischen eigenen Angaben zufolge ebenfalls in ihrer Gewalt hatten.
Sollte Saif Al-Islam sich tatsächlich in der Haft der Rebellen befunden haben, sei ihm entweder die Flucht gelungen oder die Rebellen hätten ihn wieder freigelassen, stellte ernüchtert ein BBC-Reporter fest, der selbst kurz mit ihm sprechen konnte. Auf die Frage, wie es seinem Vater gehe, habe Saif Al-Islam wie selbstverständlich geantwortet: »Gut, was sonst?« Gegenüber dem Sonderkorrespondenten des lateinamerikanischen Fernsehsenders TeleSur, Rolando Segura, versicherte er, sein Vater befinde sich nach wie vor in Tripolis. Außerdem dementierte er Berichte, wonach die Rebellen mehr als 80 Prozent der Hauptstadt unter ihrer Kontrolle hätten.
Gegenüber dem US-Fernsehsender Fox News erklärte er, die Regierungstruppen hätten die Aufständischen in eine Falle gelockt und würden diese nun zerschlagen. Die unabhängige Journalistin und Aktivistin von »Global Civilians for Peace in Libya«, Lizzie Phelan, die sich ebenfalls in der libyschen Hauptstadt aufhält, berichtete gegenüber dem russischen Fernsehsender Russia Today, das Auftauchen Saif Al-Islams habe eine spontane Kundgebung Tausender Regierungsanhänger ausgelöst. Bundesaußenminister Guido Westerwelle bezeichnete es im Deutschlandfunk als »eine beunruhigende Tatsache«, daß sich Saif Al-Islam in den Straßen von Tripolis »als freier Mann zeigen konnte«.
Der BBC-Reporter Rupert Wingfield-Hayes, der seit Tagen gemeinsam mit den Rebellen auf die Hauptstadt vorgerückt war, wurde am Montag (22. Aug.) bei der Fahrt entlang der Küstenstraße zum Grünen Platz im Zentrum von Tripolis heftig von Regierungstruppen beschossen und mußte umkehren. Rebellen hätten verschiedene Kontrollpunkte eingerichtet, berichtete er später. Sie hätten ihm aber gesagt, daß sie bei Nacht die Stadt wieder verlassen würden, weil es für sie zu unsicher sei. »Den Schußwechseln nach zu urteilen sind die Kräfte der Rebellen mal näher und mal weiter von unserem Gebäude entfernt«, informierte auch TeleSur-Korrespondent Segura, der sich mit 37 weiteren Kollegen im Hotel Rixos verschanzt hat, um sich vor den Kämpfen in der Stadt in Sicherheit zu bringen. Es sei deshalb sehr schwierig, über die reale Lage zu berichten, räumte der Reporter ein. So habe es am Montag den ganzen Tag über keinen Strom gegeben, am Abend sei die Versorgung jedoch wiederhergestellt worden. In den von den Regierungstruppen kontrollierten Stadtvierteln käme es weiterhin zu Bombenangriffen durch die NATO, berichtete Segura. Auf den Straßen sei kaum noch Verkehr, und die meisten Geschäfte seien geschlossen, schilderten Journalisten vor Ort. Die Bewohner hätten sich in ihren Wohnungen verschanzt. In einigen Vierteln sei es zu Übereinkünften zwischen Aufständischen und Regierungstruppen gekommen, um die Stadtteile nicht in Mitleidenschaft zu ziehen.
* Aus: junge Welt, 24. August 2011
Lügenkrieg in Libyen
Von André Scheer **
Die Financial Times Deutschland hat sich zu früh gefreut. »Libyen ist frei« titelte am Dienstag das Fachblatt für Börsenkurse. Die Rebellen hätten Tripolis erobert, Diktator Ghaddafi sei entmachtet, jubelte die Zeitung im Chor mit fast allen anderen Medien. Zu früh, wie sich herausstellte. Auch am Dienstag hielten die Kämpfe um Tripolis an und viele Siegesmeldungen der Aufständischen stellten sich als falsch oder zumindest verfrüht heraus. So ließ sich Ghaddafis zweitältester Sohn Saif Al-Islam in der Nacht zum Dienstag im Zentrum der Stadt von zahlreichen Anhängern bejubeln. Auch um den »Grünen Platz«, auf dem die Rebellen am Montag bereits ihren vermeintlichen Sieg gefeiert hatten, wurde wieder gekämpft. CNN-Reporterin Sara Sidner berichtete von einer Massenflucht der Bevölkerung vor den Kämpfen. Offenbar weit größere Teile der Hauptstadt als bisher von westlichen Medien und den Rebellen behauptet, stehen weiter unter Kontrolle der Regierungstruppen.
Trotzdem scharren die transnationalen Konzerne bereits mit den Hufen. Die New York Times titelte schon am Montag (Ortszeit) in ihrer Onlineausgabe, das Ringen um die libyschen Ölreserven habe bereits begonnen, während die Kämpfe noch gar nicht beendet seien: »Westliche Nationen, vor allem die NATO-Länder, die den Rebellen die entscheidende Luftunterstützung geliefert haben, wollen sicherstellen, daß ihre Unternehmen in erster Reihe stehen, um das libysche Rohöl zu fördern.« Der Außenminister der früheren Kolonialmacht Italien, Franco Frattini, forderte bereits, der italienische Ölmulti ENI müsse »künftig die Nummer eins« in dem nordafrikanischen Land sein.
Von der am Montag (22. Aug.) offenbar eingenommenen Hafenstadt Brega seien die Rebellen 40 Kilometer weit nach Westen vorgestoßen und näherten sich nun Ras Lanuf, meldete die Nachrichtenagentur AFP am Nachmittag. Am Abend wollten die Aufständischen diesen Ort erreichen, sagte Rebellensprecher Mohammed Sawiwa. Unterstützt werden sie dabei offenbar noch stärker als bisher bekannt durch Bodenoperationen der NATO. Das jedenfalls bezeichnete der russische NATO-Botschafter Dmitri Rogosin am Dienstag gegenüber dem Fernsehsender Russia Today als offensichtlich. Die Rebellen seien von der NATO ausgebildete und bis an die Zähne bewaffnete Einheiten, sagte Rogosin. In ihren Reihen seien auch westliche Söldner aktiv, die »als Mitarbeiter inoffizieller Sicherheitsfirmen« an den Bodenoperationen teilnehmen. Der in London erscheinende Telegraph berichtete ebenfalls, daß der Angriff der Rebellen auf Tripolis von Offizieren des britischen Geheimdienstes MI6 in Bengasi entworfen und mit der Luftwaffe der NATO koordiniert worden sei.
Diese will die Angriffe auf Libyen fortsetzen. Während Kampfflugzeuge den Gebäudekomplex Bab Al-Asisija, die Residenz von Staatschef Ghaddafi in Tripolis, bombardierten, behauptete NATO-Sprecher Roland Lavoie, die Allianz stelle den Aufständischen keine Luftunterstützung zur Verfügung. Zugleich bestätigte er die Präsenz von NATO-Soldaten auch in der libyschen Hauptstadt: »Ja, wir sind in Tripolis, beobachten, was passiert, und können Übergriffe auf die Zivilbevölkerung feststellen. Aber wir werden sie nicht unterstützen.«
** Aus: junge Welt, 24. August 2011
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