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Wie viel Macht hat der Übergangsrat?

"Tor nach Afrika" lockt Unternehmer

Von Karin Leukefeld *

Libyens Machtahber Muammar al-Gaddafi ist untergetaucht, die Hauptstadt Tripolis weitgehend in der Hand der Aufständischen, die bereits ihren Sieg feiern. Doch wohin die bunt zusammengewürfelte Opposition das ölreiche Land künftig lenken wird, weiß niemand. Ähnlich wie beim Krieg der USA in Irak geht es auch im Libyen-Krieg in erster Linie um die Ressourcen. Ein deutscher Geschäftsmann vertraut auf Rebellenchef Mustafa Abdel Dschalil.

Wenn Oberst Muammar al-Gaddafi, einst Revolutionsführer in Libyen, von den Bomben der NATO und einem bunten und undisziplinierten Rebellenhaufen vertrieben sein wird, beginnt der Kampf um die Macht im »Tor nach Afrika«, das über die größten Öl- und Gasressourcen auf dem afrikanischen Kontinent verfügt.

Die Aufständischen werden von einem Nationalen Übergangsrat geführt, der von den USA, Frankreich, Deutschland, Großbritannien und vielen anderen Staaten als »legitime Vertretung des libyschen Volkes« anerkannt und auch schon mit reichlich Geld ausgerüstet wurde. Ob aber auch das libysche Volk dieses Patchwork-Gremium zur nächsten Regierung wählen wird, bleibt abzuwarten. Diejenigen, die im Februar 2011 die ersten Proteste gegen Muammar al-Gaddafi in Bengasi organisiert hatten – Angehörige und Anwälte von mehr als 1000 politischen Gefangenen, die 1996 bei einer Razzia im Abu-Salim-Gefängnis in Tripolis getötet worden waren –, haben in dem großen Spiel keine Rolle mehr.

Die 31 Mitglieder des Ende Februar gegründeten Nationalen Übergangsrates sind ehemalige Weggefährten, Minister, Diplomaten und andere Funktionsträger Gaddafis sowie langjährige Oppositionelle, die aus dem Exil nach Libyen zurückgekehrt sind. Der Vorsitzende des Gremiums ist der aus Bengasi stammende frühere Justizminister Mustafa Mohammad Abdel Dschalil. Ihm räumt ein deutscher Unternehmer gute Chancen ein, der zukünftige Ministerpräsident zu werden.

»Natürlich geht es um die libyschen Ressourcen, wie in Irak«, sagt der Geschäftsmann (im Gespräch mit der Autorin), der anonym bleiben möchte. Trotz aller Kritik an dem »perversen Kriegsspiel der NATO« macht er keinen Hehl aus seiner großen Freude über das Ende des Regimes von Gaddafi. »Ich freue mich riesig, dass die Bevölkerung von Tripolis ihre eigene Stadt wieder eingenommen hat«, den so genannten Rebellen wäre das nicht gelungen, die seien militärisch kaum dazu in der Lage gewesen. Den Vorsitzenden des Übergangsrates, Abdel Dschalil, halte er für »vertrauenswürdig« weil dieser offenbar von den unterschiedlichen Stämmen geschätzt werde, ohne die keine Regierung in Libyen sich halten könne. Er habe eine Chance, auch wenn jetzt alles davon abhänge, »wie es mit Gaddafi weitergeht, wann Wahlen sind und ob er den Machtapparat in Zukunft kontrollieren kann«.

Der Mord an dem ehemaligen General Abdul Fatah Younis vor wenigen Wochen habe gezeigt, dass es gefährliche Konkurrenten gibt.

Dass so viele aus dem alten Machtapparat schon frühzeitig auf die Seite der Rebellen übergelaufen sind, zeige, wie wenig Rückhalt Gaddafi noch gehabt habe, meint der Geschäftsmann. Das habe an dessen Führungsstil gelegen, weniger an wirtschaftlichen Problemen. Er vertraue auf das Know-how der Libyer, die aus dem Exil zurückgekehrt seien und ihr Land wieder aufbauen wollten. »In jedem Fall bin ich optimistischer als bei Irak, denn der Übergangsrat will keine Rache, sondern die bisherigen Sicherheitsstrukturen wie Armee und Polizei in den Übergang integrieren.« In Irak seien damals alle Angestellten in Behörden, Ministerien und Universitäten, die Mitglieder der Baath-Partei waren, entlassen worden, erinnert der Unternehmer, der Irak wie seine Westentasche kennt. Die Auflösung der irakischen Armee sei damals ein wesentlicher Grund zur Entstehung des irakischen Widerstandes gewesen. Den Fehler werde man in Libyen hoffentlich vermeiden.

Seit mehr als 40 Jahren ist sein Familienunternehmen in arabischen Staaten tätig und der Geschäftsmann geht davon aus, dass der politische Wandel in Libyen »geschäftlich gut für uns sein wird. Wir werden in Zukunft sauberer und direkter arbeiten können.« Die junge Generation sei allerdings »nicht so anpackend und aktiv wie die Iraker«, sie würde stattdessen »lieber in einem Büro sitzen und Briefe unterschreiben«. Man dürfe nicht vergessen, dass anders als in Ägypten oder Tunesien »sich jeder in Libyen ein Auto leisten und reisen konnte«.

Im Moment ist das Büro des Unternehmens in Tripolis nur mit wenigen lokalen Mitarbeitern besetzt, erzählt der deutsche Geschäftsmann. Keiner der Mitarbeiter habe sich bei den Rebellen engagiert, dennoch hätten die meisten Beschäftigen Libyen schon im März verlassen. Für einige sei die Flucht gefährlich gewesen und habe lange gedauert. Doch mittlerweile seien alle in Sicherheit und einige von ihnen, berichtet der Unternehmer schmunzelnd, »nutzen die Zeit für einen Deutschkurs in Berlin«.

* Aus: Neues Deutschland, 23. August 2011


Der Araber Gaddafi war lieber Afrikaner

Mit dem Machtwechsel in Libyen endet auch ein Kapitel für die AU

Von Roland Etzel **


Der 1. September 2011 wird in diesem Jahr in Libyen gewiss kein Staatsfeiertag mehr sein. Es ist der Jahrestag der Revolution, mit der 1969 eine Gruppe junger Offiziere den Herrscher des Königreichs Libyen im Handstreich absetzte und die Republik ausrief. An ihrer Spitze stand ein 27- jähriger Leutnant namens Muammar al-Gaddafi, genau jener, dessen Herrschaft nach fast genau 42 Jahren zu Ende geht. Gaddafi ist damit nicht nur der mit Abstand dienstälteste Herrscher Afrikas, sondern auch einer derjenigen, die Afrikas Selbstverständnis am stärksten prägten.

Wenngleich von Gaddafi in erster Linie seine exzentrischen, ja geradezu schrill anmutenden Auftritte im Gedächtnis bleiben werden, seine politische Unberechenbarkeit gegenüber Freunden und Feinden gleichermaßen, sein in jeder Hinsicht konventionsfeindliches Verhalten, so widerspräche es doch der geschichtlichen Wahrheit, ihn darauf zu reduzieren.

Gerade Afrika war von Gaddafi, nachdem all seinen hochfliegenden panarabischen Ambitionen an eigenen Fehleinschätzungen und Trugbildern, vor allem aber an der nüchternen Realität zerschellt waren, zu seinem Tätigkeitsfeld auserkoren worden. Neben manch Politklamauk, der häufig die Grenze zur Lächerlichkeit streifte, indem er sich zum Beispiel von den afrikanischen Staatsoberhäuptern zum »König der Könige« küren ließ, hinterließ der Libyer nennenswerte entwicklungspolitische Spuren auf dem Kontinent.

Möglich war das, weil Libyen seit den 60er Jahren stets unter den zwölf wichtigsten Ölexporteuren war und bei einer Bevölkerung von derzeit knapp 6,5 Millionen Menschen hohe Überschüsse erwirtschaftete. Doch während andere Mitglieder des Ölförderkartells OPEC, wie die Monarchien am Persischen Golf, ihre Milliarden in höchst fragwürdigen Überbietungswettbewerben um den höchsten Turm oder das größte Hotel verpulverten, finanzierte Libyen zum Beispiel vor knapp einem Jahr den ersten panafrikanischen Nachrichtensatelliten. Mit den mindestens 400 Millionen Dollar wird der Schwarze Kontinent erheblich unabhängiger von Westeuropa auf dem Gebiet der Telekommunikation.

Das Gros von Gaddafis Hilfsprojekten macht im Kontrast zu seinen martialischen Auftritten aber eine ganze Reihe unspektakulärer, jedoch sehr unmittelbar hilfreicher Unternehmungen aus; zum Beispiel »Malibia«, ein Bewässerungsprojekt im Grenzgebiet Libyens zu Mali, das dort Hunderten Bauern eine zuvor undenkbare landwirtschaftliche Existenz ermöglicht. Ähnliche Kooperationen existieren mit überwiegend armen schwarzafrikanischen Ländern.

Allerdings hatte die Hilfe Gaddafis immer auch eine Kehrseite, denn der sendungsbewusste Revolutionsführer verlangte für sein Engagement nicht selten eine regelrechte Unterwerfung unter seine mitunter sehr bizarren ideologischen Vorstellungen. Mal ging es um eine forcierte islamische Ausrichtung wie im Falle Gabuns, mal um verbale Huldigungen seiner »Dritten Universaltheorie« zur Entwicklung der Menschheit, wie sie in seinem in den 70er Jahren erschienenen Grünen Buch veröffentlicht wurde. Auf jeden Fall überzeugte er die Mehrheit der afrikanischen Staatsoberhäupter von einigen seiner überhaupt nicht wirren politischen Ideen.

So prophezeite er ihnen, sie würden auch die nächsten Jahrzehnte noch am Katzentisch der Weltwirtschaft sitzen, wenn sie ihre Forderungen an den Westen bzw. den Norden nicht radikaler stellten. Außerdem sollten sie ihre Beziehungen zu den Ländern des eigenen Kontinents weniger als Konkurrenz- und mehr als Kooperationsverhältnis betrachten. Schließlich appellierte er an die Afrikaner, sich eigene, nicht nach westlichen Strukturen ausgerichtete Institutionen zu schaffen – die Afrikanische Union (AU).

Das war ihm eine Menge libyscher Petrodollars wert. Und so unbestritten es ist, dass Gaddafi zuletzt zu nicht einem einzigen arabischen Führer bzw. Staat wenigstens normale politische Beziehungen aufweisen konnte, so richtig ist ebenso, dass für Schwarzafrika nahezu das komplette Gegenteil gilt. Selbst die, die auf Grund der Bedeutung ihres Staates oder ihrer persönlichen Macht für Gaddafi eigentlich Rivalen um den Platz an der Spitze der AU hätten sein können, wie der jeweilige Staatschef Nigerias oder Südafrikas Präsident Jacob Zuma, gehören zu seinen ausgewiesenen Freunden.

Die Gründung der AU hätte es ohne Gaddafi nicht gegeben. Dass er ihr Vorsitzender wurde, war nur folgerichtig. In Westeuropa machte sich Gaddafi damit ein weiteres Mal unbeliebt. Ein derart unbequemer AU-Chef, der zudem mit Geld nicht zu kaufen war, stellte für sie den größten anzunehmenden Unfall dar.

Dass die afrikanischen Partner nicht zuletzt auf Grund der Spendierfreudigkeit Gaddafis über manche von dessen skurrilen Macken hinwegsahen, wird niemand ernsthaft bestreiten wollen. Allerdings müssen wohl auch seine Ideen für sie eine gewisse Überzeugungskraft gehabt und noch immer haben.

Anders als in Paris oder Rom, wo man heute den »Diktator« schmäht, den man gestern noch hofierte, hat sich Afrika trotz zu erwartender Erfolglosigkeit wiederholt um eine friedliche Lösung des libyschen Kriegs bemüht, namentlich Zuma. Noch immer gilt auch der Aufruf der AU an ihre Mitgliedsstaaten, den vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ausgestellten Haftbefehl gegen Gaddafi zu ignorieren.

** Aus: Neues Deutschland, 23. August 2011

Aufstand gegen Gaddafi - Ein Rückblick

  • 15. Februar: Beginn der Proteste gegen Gaddafi, die in Bengasi und El Baida niedergeschlagen werden, sich aber ausdehnen.
  • 22. Februar: Justizminister Mustafa Abdel Dschalil und Innenminister Abdel Fatah Junes schließen sich den Rebellen an.
  • 28. Februar: Nach den USA verhängt auch die EU Sanktionen gegen die Regierung Gaddafis.
  • 10. März: Frankreich erkennt den Nationalen Übergangsrat der Rebellen als »einzige Vertretung Libyens« an.
  • 17. März: Vor der drohenden Einnahme der Rebellenhochburg Bengasi erlaubt der UN-Sicherheitsrat »zum Schutz der Zivilbevölkerung« den Einsatz von Gewalt. Deutschland enthält sich bei der Abstimmung ebenso wie Russland und China.
  • 18. März: Koalition unter Führung von Frankreich, Großbritannien und den USA beginnt mit Luftangriffen.
  • 31. März: NATO übernimmt Kommando des Kriegseinsatzes.
  • 20. April: Nach Großbritannien entsenden auch Frankreich und Italien Militärberater zu den Rebellen.
  • 1. Mai: Gaddafis jüngster Sohn Seif el Arab und drei seiner Enkel werden bei einem NATO-Luftangriff getötet.
  • 11. Mai: Rebellen nehmen den Flughafen der Hafenstadt Misrata ein und durchbrechen damit die Belagerung.
  • 27. Juni: Internationaler Strafgerichtshof erlässt Haftbefehle gegen Gaddafi, Sohn Seif el Islam und Geheimdienstchef Abdallah el Senussi.
  • 29. Juni: Frankreich erklärt, Waffen für die Rebellen im Westen Libyens abgeworfen zu haben.
  • 15. Juli: Libyen-Kontaktgruppe erkennt den Übergangsrat als »einzige legitime Regierung« an.
  • 9. August: Die Gaddafi-Regierung wirft der NATO vor, bei einem Luftangriff auf Sliten 85 Zivilisten getötet zu haben.
  • 19. August: Nach Einnahme von Gharjan südlich von Tripolis geben die Rebellen die Eroberung von Al Sawija im Westen und Sliten im Osten bekannt.
  • 21. August: Die Aufständischen rücken in Tripolis ein und bringen weite Teil unter ihre Kontrolle. Seif el Islam wird festgenommen.
  • 22. August: Kämpfe konzentrieren sich auf das Viertel um Gaddafis Residenz. AFP/ND



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