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Zuspitzung in Tripolis

Gefechte und Explosionen aus Vororten der libyschen Hauptstadt gemeldet. Situation undurchsichtig. UNO zieht Mitarbeiter ab

Von Karin Leukefeld *

Verschiedene Medien hatten am Sonntag morgen unter Berufung auf die so enannten Rebellen von Benghasi bereits von einer »Entscheidungsschlacht« um Tripolis berichtet. Doch die NATO ruderte am Sonntag mittag auf höchster Ebene zurück. Man könne den Vorstoß der Rebellen bis auf Tripolis nicht bestätigen, sagte NATO-Sprecher Oberst Roland Lavoie in Brüssel. Die Lage verändere sich ständig, es sei schwer, den Frontverlauf genau zu bestimmen.

Ein BBC-Korrespondent, der bei den Rebellen »eingebettet« ist, berichtete, daß die Stadt Zawiya am Samstag eingenommen worden sei. Anschließend seien sie 40 Kilometer weiter westlich in die Stadt Jaddayim vorgerückt. Weitere Rebellengruppen näherten sich von Süden der Hauptstadt Tripolis, immer von Kampfflugzeugen der NATO unterstützt. NATO-Kriegsschiffe blockieren derweil den Zugang zur libyschen Hauptstadt seeseitig. Der Widerstand in Tripolis gegen die Rebellen sei offenbar weiter sehr groß, so der BBC-Korrespondent. Der Ölhafen Brega, dessen Einnahme die Rebellen ebenfalls verkündet hatten, sei weiterhin schwer umkämpft, die Rebellen hätten sich teilweise wieder zurückziehen müssen.

Der libysche Regierungssprecher Moussa Ibrahim warf am Sonntag der NATO vor, »verrückt« zu spielen. Seit Tagen hätte die NATO den Rebellen, »die zu schwach sind, irgend etwas allein zu schaffen, den Weg frei bombardiert«, sagte Ibrahim in Tripolis. Die Rebellen verübten »Massaker« an der Bevölkerung und töteten die Einwohner in den Städten und Dörfern, die sie in den letzten Tagen erobert hätten. Erst am Wochenende hatte die libysche Führung zum wiederholten Mal einen Waffenstillstand und Verhandlungen angeboten. Weder der »Nationale Übergangsrat« in Bengasi noch die NATO gingen darauf ein.

Der libysche Präsident Muammar Al-Ghaddafi wandte sich Berichten zufolge in der Nacht zum Sonntag an die Libyer und rief diese erneut zum Widerstand gegen die NATO auf. Wo er und seine Familie sich aufhalten, ist unklar. Gerüchten zufolge sollen Verhandlungen über ein mögliches Exil in Südafrika laufen. Andere Gerüchte nennen Algerien als möglichen Fluchtort.

Der US-amerikanische Friedensaktivist Franklin Lamb, der sich in Tripolis aufhält, meinte, die Meldungen von Kämpfen in der Stadt sollten möglicherweise die letzten westlichen Ausländer zur Flucht bewegen. Die meisten hätten Tripolis über Nacht verlassen, so Lamb, teilweise zusammen mit der UNO, die ihre Mitarbeiter seit Samstag abziehe. Er habe keine Kämpfe in der Hauptstadt feststellen können. Die eigentliche Gefahr seien die NATO-Kampfjets, die im Stundenrhythmus Bomben und Raketen auf Ziele in der Stadt feuerten, sagte Lamb im russischen Nachrichtensender Russia Today (RT).

Inzwischen melden westliche Nachrichtenagenturen, daß die Evakuierung von Ausländern aus Tripolis gestoppt worden sei. Ein polnisches Schiff sei beschossen worden und müsse nun abwarten. Spiegel online berichtete, die Bundesregierung habe die GSG9 in Marsch gesetzt, um deutschen Diplomaten in Tripolis zur Hilfe zu kommen.

Abdel Hafiz Ghoga, stellvertretender Vorsitzender des Nationalen Übergangsrates in Bengasi, hatte am Samstag bereits die »Stunde Null« für Libyen beschworen. Der Vorsitzende des gleichen Gremiums, Mustafa Abdel Jalil, gab an, daß an der am Samstag abend begonnenen »Operation Sirene« Rebelleneinheiten in Tripolis und im Umland der Hauptstadt beteiligt seien.

* Aus: junge Welt, 22. August 2011

Heftiger Kampf um Tripolis

Nach NATO-Luftangriffen begann Offensive der Rebellen / Gaddafi auf der Flucht? **

Die Entscheidungsschlacht um Tripolis ist offenbar in vollem Gange. Nach nächtlichen Kämpfen zwischen Aufständischen und Regierungstruppen gab es am Sonntag in mehreren Stadtvierteln Gefechte. Die NATO hatte den Rebellenvormarsch durch verstärktes Bombardement vorbereitet.

Augenzeugen berichteten, am Sonntag (21. Aug.) hätten die Rebellen in Tripolis den internationalen Verkehrsflughafen eingenommen sowie den Militärflughafen Mitiga. Gaddafi-Anhänger hätten den Stadtteil Tadschura, in dem die Rebellen bereits in der Nacht die Kontrolle übernommen hatten, mit Mörsergranaten beschossen.

Auch das große Viertel Souk al-Dschumaa werde inzwischen von den Rebellen beherrscht. Anwohner hörten in der Nacht auch Schüsse und Luftangriffe der NATO. Der arabische Fernsehsender Al-Arabija berichtete, die Aufständischen hätten Dutzende Soldaten Gaddafis gefangen genommen. Doch auch die Aufständischen erlitten offenbar hohe Verluste bei den Kampfhandlungen. Allein bei den Gefechten im Stadtviertel Tadschura kamen nach Angaben eines Rebellenführers laut Al-Dschasira mindestens 123 Aufständische ums Leben.

Wie ein AFP-Korrespondent berichtete, drangen mehrere hundert Rebellen in einen Militärstützpunkt westlich von Tripolis ein und erbeuteten Waffen und Munition. Die Kaserne galt als schwierigste Hürde auf dem Weg in die Hauptstadt.

Der Vorsitzende des Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil, sagte gegenüber Al-Dschasira, dass alle Aktionen vorbereitet und koordiniert seien. Die NATO hatte ihre Kampfeinsätze am Sonnabend stark auf Libyens Hauptstadt konzentriert. Die Kampfjets des Militärpakts hätten allein in Tripolis 22 Ziele angegriffen, berichtete die NATO am Sonntag in Brüssel. Ein kanadischer NATO-Sprecher erklärte, die Angriffe seien nicht mit den Rebellen abgestimmt. »Wir reduzieren die militärische Stärke der Pro-Gaddafi-Truppen«, so Oberst Roland Lavoie. »Die Opposition hat das zu ihrem Vorteil genutzt.« Attackiert wurden demnach Militäreinrichtungen, Lagerhallen, gepanzerte Fahrzeuge, Raketen und Raketenwerfer sowie Radarsysteme. Insgesamt habe die NATO am Sonnabend 36 Kampfeinsätze über Libyen geflogen. Neben Tripolis griff das Bündnis auch Ziele in Sirte, Al-Brega und Slitan an.

Gaddafi soll die Hauptstadt angeblich in Richtung algerische Grenze verlassen haben. Aus als gut informiert geltenden Kreisen in Tripolis verlautete, er halte sich mit Familie in einer Region an der Grenze auf und werde vom Al-Orban-Stamm beschützt. Eine Bestätigung für die Nachricht von der Flucht Gaddafis gab es zunächst nicht – weder von den Rebellen noch von algerischer Seite. Ein Beamter des Außenministeriums in Algier sagte, Gaddafi halte sich derzeit nicht in Algerien auf.

Das libysche Fernsehen hatte in der Nacht zu Sonntag (21. Aug.) eine vorab aufgezeichnete Rede von Gaddafis Sohn Seif al-Islam ausgestrahlt. Darin sagte dieser, es sei ausgeschlossen, dass er und sein Vater das Land verlassen würden. In einer während der Gefechte im staatlichen Fernsehen übertragenen Audiobotschaft nannte Gaddafi die Rebellen »Verräter« und »Ratten« und beschuldigte sie, Libyen zerstören zu wollen. Seine Anhänger rief er auf, in Massen die Rebellion zu beenden. Die europäischen Länder und namentlich Frankreich beschuldigte er, hinter dem libyschen Öl her zu sein.

Aus der Industriezone der monatelang umkämpften und zuletzt von den Rebellen eingenommenen Öl- und Hafenstadt Al-Brega mussten sich die Aufständischen unterdessen nach eigenen Angaben wegen starken Beschusses durch die Gaddafi-Truppen zurückziehen.

** Aus: Neues Deutschland, 22. August 2011


Arabische Ligaorakel

Von Roland Etzel ***

Es ist eine bizarre Situation: Im arabischen Staat Libyen bahnt sich ein blutiges Finale zwischen Regierungstreuen und -gegnern an, und die Arabische Liga beruft eine Sondersitzung ein – zur Lage an der israelisch-ägyptischen Grenze. Das Gremium erweist sich einmal mehr als intransparentes Orakel: Zum bedrängten Gaddafi hingegen keine Silbe, auch nicht zur kriegsbedrohten Zivilbevölkerung, deretwegen doch angeblich bei der NATO die Militärsanktionen gegen Tripolis bestellt und ihre großzügige Auslegung schweigend hingenommen wurden.

Den Zynismus derlei Handelns einmal beiseite gelassen, ist dies ein Beleg dafür, dass Gaddafis Versuche, unter den arabischen »Brüdern« mittels stiller Diplomatie doch noch Verbündete zu finden, offenbar gänzlich gescheitert sind. Einen politischen Dialog zu führen, gehörte nie zu den ausgewiesenen Fähigkeiten des Revolutionsführers von 1969, schon gar nicht als Bittsteller. Und so nimmt der Krieg den von der NATO zurechtgebombten Lauf.

Die unvermittelt lauten Worte der Liga gegen Israel können dagegen kaum ernst genommen werden: Zwar mögen sie manchen in Israel überrascht haben, der noch dachte, auch ohne den Verbündeten Mubarak könne mit den Arabern verfahren werden wie bisher. Dass aus Kairo aber mehr als Theaterdonner zur Beschwichtigung erzürnter Massen erscholl, muss erst noch bewiesen werden.

*** Aus: Neues Deutschland, 22. August 2011 (Kommentar)


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