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Die "Verpflichtung zu schützen"

Die Fälle Libyen und Elfenbeinküste

Von Marjorie Cohn *

Die Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich und das Vereinigte Königreich überfielen Libyen mit Lenkgeschossen, Tarnkappenbombern, Kampfflugzeugen und Angriffsjets. Obwohl die NATO das Kommando über die militärische Operation übernommen hat, bombardierte der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Barack Obama Libyen mit Hellfire-Raketen von unbemannten Predator-Drohnen aus. Die Zahl der Zivilisten, die diese ausländischen Streitkräfte getötet haben, bleibt unbekannt. Dieser militärische Einsatz wurde angeblich unternommen, um der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates zum Durchbruch zu verhelfen, um Zivilisten in Libyen zu schützen.

Weiters haben die Vereinten Nationen und Frankreich die Elfenbeinküste bombardiert, um Zivilisten vor der Gewalt von Laurent Gbagbo zu beschützen, der sich weigerte, nach einer umstrittenen Wahl die Macht an den neu gewählten Präsidenten abzugeben. UNO-Generalsekretär Ban-Ki-Moon bleibt dabei, dass die Vereinten Nationen „keine Partei in diesem Konflikt” sind. Frankreich, ehemalige Kolonialmacht von Elfenbeinküste, hat dort über 1.500 Soldaten stationiert. Elfenbeinküste ist weltweit der zweitgrößte Kaffeeproduzent und der größte Kakaoproduzent. Die Bombardierung von Elfenbeinküste erfolgt, um die Resolution 1975 des UN-Sicherheitsrates durchzusetzen, die Zivilbevölkerung dort zu beschützen.

Die UNO-Charta erlaubt nicht den Einsatz von militärischer Gewalt für humanitäre Interventionen. Die militärischen Überfälle von Libyen und Elfenbeinküste wurden gerechtfertigt unter Hinweis auf die Verpflichtung zu schützen - Doktrin.

Die Verpflichtung zu schützen findet sich im Ergebnisbericht der Vollversammlung des Weltgipfels 2005. Sie ist in keinem internationalen Abkommen enthalten noch hat sie sie es zu einer Norm des gebräuchlichen Internationalen Rechts gebracht. Der Absatz 138 dieses Dokuments besagt, dass jeder Staat die Verantwortung dafür trägt, seine Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu beschützen. Absatz 139 fügt hinzu, dass die internationale Gemeinschaft, durch die Vereinten Nationen, auch „Verantwortung dafür trägt, angemessene diplomatische, humanitäre und andere friedliche Mittel einzusetzen, in Übereinstimmung mit den Kapiteln VI und VIII der UN-Charta, um beim Schutz von Bevölkerungen vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu helfen.“

Kapitel VI der Charta verlangt von den Parteien einer Auseinandersetzung, die möglicherweise internationalen Frieden und Sicherheit gefährdet, „in erster Linie eine Lösung anzustreben durch Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Schlichtung, Schiedsspruch, Gerichtsurteil, Inanspruchnahme regionaler Agenturen oder Einrichtungen“ wie etwa NATO, Arabische Liga und Afrikanische Union. Das Kapitel führt aus, dass regionale Einrichtungen „jede Anstrengung unternehmen sollen, um friedliche Beilegungen lokaler Konflikte durch solche regionalen Einrichtungen zu erzielen ...”

Nur in dem Fall, dass friedliche Mittel eingesetzt worden sind und sich als unzureichend erwiesen haben, kann der UN-Sicherheitsrat Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta beschließen. Diese Maßnahmen inkludieren Boykotte, Embargos, Abbruch diplomatischer Beziehungen und selbst Blockaden oder Operationen in der Luft, zu Wasser und auf dem Land.

Die Verpflichtung zu schützen-Doktrin entstand aus der Frustration über das Versagen, mit entsprechenden Aktionen den Völkermord in Ruanda zu verhindern, wo ein paar hundert Soldaten eine Myriade Leben hätten retten können. Die Doktrin wurde allerdings nicht ins Spiel gebracht, um Israel von der Bombardierung Gazas Ende 2008/Anfang 2009 abzuhalten, in der 1.400 Palästinenser getötet wurden, in erster Linie Zivilisten.

Die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates beginnt mit der Forderung nach „der sofortigen Errichtung eines Waffenstillstands.” Sie wiederholt „die Verantwortung der libyschen Behörden, die libysche Bevölkerung zu schützen” und bekräftigt, dass „die Parteien in bewaffneten Konflikten die vorrangige Verantwortung dafür tragen, dass alle geeigneten Schritte zum Schutz der Zivilbevölkerung gesetzt werden.“ Die Resolution autorisiert Mitgliedsstaaten der UNO, „alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen ... um Zivilbevölkerung und zivil bevölkerte Gebiete Libyens zu schützen.“

Statt jedoch einen sofortigen Waffenstillstand in die Wege zu leiten, wurde unmittelbar zu militärischen Gewaltmaßnahmen gegriffen. Die militärische Streitmacht überschreitet die Grenzen der „alle erforderlichen Maßnahmen.” „Alle erforderlichen Maßnahmen“ hätten in erster Linie friedliche Maßnahmen sein sollen, um den Konflikt zu bereinigen. Die friedlichen Mittel wurden in keiner Weise ausgeschöpft, ehe mit dem militärischen Überfall begonnen wurde. Ein hochrangiges internationales Team – bestehend aus Vertretern der Arabischen Liga, der Afrikanischen Union und dem UNO-Generalsekretär – hätte nach Tripoli entsandt werden sollen, um zu versuchen, einen Waffenstillstand zu erreichen und eine Struktur für Wahlen und zum Schutz der Zivilisten einzurichten. Darüber hinaus bot Libyen sofort nach der Verabschiedung der Resolution an, internationale Beobachter zu akzeptieren und Gaddafi bot an, zurückzutreten und Libyen zu verlassen. Diese Angebote wurden umgehend von der Opposition abgelehnt.

Die Resolution 1975 betreffend Elfenbeinküste ähnelt der Resolution 1973 betreffend Libyen. Die erstere genehmigt den Einsatz „aller notwendigen Maßnahmen, um … Zivilisten zu beschützen, die (in Elfenbeinküste) unter unmittelbarer Bedrohung durch physische Gewalt stehen.“ Sie bestätigt erneut „die primäre Verantwortung jedes Staates, die Zivilbevölkerung zu schützen” und wiederholt, dass „die Parteien in bewaffneten Konflikten die vorrangige Verantwortung tragen, dass alle geeigneten Schritte unternommen werden, um den Schutz der Zivilbevölkerung zu gewährleisten.“

Die UNO-Charta fordert, dass alle Mitglieder ihre internen Konflikte mit friedlichen Mitteln bereinigen, um internationalen Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit zu bewahren. Die Mitglieder müssen auch Abstand nehmen von der Drohung mit oder vom Einsatz von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines jeden Staates oder in einer Weise, die nicht den Zielen der Vereinten Nationen entspricht.

Nur wenn ein Staat in Selbstverteidigung handelt, als Reaktion auf einen bewaffneten Angriff eines Landes gegen ein anderes, darf er laut UNO-Charta einen anderen Staat militärisch angreifen. Die Notwendigkeit der Selbstverteidigung muss überwältigend sein und darf keine Wahl der Mittel offen lassen und keinen Zeitraum für Beratungen. Weder Libyen noch Elfenbeinküste haben ein anderes Land angegriffen. Die Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich und das Vereinigte Königreich in Libyen, sowie Frankreich und die UNO in Elfenbeinküste handeln nicht in Selbstverteidigung. Humanitäre Bedenken schaffen keine Grundlage für Selbstverteidigung.

Es besteht zweierlei Maß für den Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz von Zivilisten. Obama hat Bahrain nicht angegriffen, wo tödliche Gewalt eingesetzt wird, um Demonstrationen gegen die Regierung zu unterdrücken, weil dort die fünfte Flotte der Vereinigten Staaten von Amerika stationiert ist. Tatsächlich, so berichtete Asia Times, schlossen die Vereinigten Staaten von Amerika vor dem Überfall auf Libyen einen Handel mit Saudiarabien, nach dem die Saudis in Bahrain einmarschieren würden, um bei der Niederschlagung der Demonstranten gegen die Antidemokratie zu helfen und Saudiarabien bei der Unterstützung einer Flugverbotszone über Libyen durch die Arabischen Liga mitmachen würde.

Die Unterstützung einer Flugverbotszone durch die Liga neutralisierte effektiv den Widerstand seitens Russlands und Chinas gegen die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats. Darüber hinaus gingen die militärischen Einsätze der Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreichs und des Vereinigten Königreichs weit über eine Flugverbotszone hinaus. In der Tat lancierten Obama, Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und David Cameron vom Vereinigten Königreich einen Gastkommentar in der International Herald Tribune, in dem es heißt, dass die NATO-Streitmacht in Libyen kämpfen wird, bis Präsident Muammar Gaddafi weg ist, auch wenn die Resolution keinen gewaltsamen Regierungswechsel zulässt.

Als Obama seinen Militäreinsatz in Libyen verteidigte, sagte er: „Einige Nationen werden es schaffen, sich von Gräueltaten in anderen Ländern abzuwenden. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind da anders.“ Zwei Wochen danach ersuchte die Arabische Liga den UN-Sicherheitsrat, die Einrichtung einer Flugverbotszone über dem Gazastreifen zu erwägen, um Zivilisten vor israelischen Luftüberfällen zu schützen. Die Vereinigten Staaten von Amerika, ein kritikloser Verbündeter Israels, werden den Beschluss einer derartigen Resolution nie zulassen, ganz egal, wie viele palästinensische Zivilisten Israel umbringt. Das heißt mit zweierlei Maß messen.

Die militärischen Einsätze gegen Libyen und Elfenbeinküste bilden einen gefährlichen Präzedenzfall in Hinblick auf Angriffe gegen Länder, deren Führung nicht auf gutem Fuß mit den Ländern steht, die für die Vereinigten Staaten von Amerika oder die Europäische Union sind.

Was wird die Vereinigten Staaten von Amerika davon abhalten, ein paar Demonstrationen zu inszenieren, diese in den Massenmedien zu Massenaktionen aufzubauschen und dann Venezuela, Kuba, Iran oder Nordkorea anzugreifen und zu bombardieren? Denken Sie daran, dass unter der Bushregierung Washington unbegründete Anschuldigungen verwendete, um einen illegalen Überfall auf den Irak zu rechtfertigen.

In einer Diskussion über die Verpflichtung zu schützen in der Vollversammlung am 23. Juli 2009 stellte die kubanische Regierung einige provokante Fragen, die denjenigen, die dieses Anliegen unterstützen, Anlass zum Nachdenken geben sollten: „Wer soll entscheiden, ob ein dringender Grund für eine Intervention in einem bestimmten Staat vorliegt, nach welchen Kriterien, in welchem Rahmen, auf der Basis welcher Bedingungen? Wer bestimmt, dass es offenkundig ist, dass die Behörden eines Staates ihre Bewohner nicht beschützen, und wie wird das bestimmt? Wer legt fest, dass friedliche Mittel in einer bestimmten Situation nicht angebracht sind und nach welchen Kriterien? Haben kleine Staaten auch das Recht und die tatsächliche Möglichkeit, in die inneren Angelegenheiten größerer Staaten einzugreifen? Wird irgendein entwickeltes Land grundsätzlich oder praktisch eine humanitäre Intervention auf seinem eigenen Territorium zulassen? Wie und wo ziehen wir die Linie zwischen einer Intervention unter dem Titel Verpflichtung zu schützen und einer Intervention zu politischen und strategischen Zwecken, und wann stehen politische Überlegungen über humanitären Bedenken?“

Die Verpflichtung zu schützen-Doktrin verstößt gegen die grundlegende Prämisse der UNO-Charta. Im vergangenen Jahr lehnte der fünfte Ausschuss der Vollversammlung eine Finanzierung für ein Büro eines neuen Sonderberaters für Verpflichtung zu schützen ab. Einige Mitgliedsstaaten argumentierten, dass die Verpflichtung zu schützen nicht als Norm auf dem Weltgipfel beschlossen worden ist. Die Debatte wird weiter gehen. Für viele Staaten ist das jedoch ein schlüpfriger Abhang, der mit größter Wachsamkeit beobachtet werden sollte.

* Der Originalbeitrag erschien unter dem Titel "The Responsibility to Protect – The Cases of Libya and Ivory Coast" am 15. Mai 2011 auf der Website der Autorin: www.marjoriecohn.com
Die deutsche Übersetzung erschien auf: www.antikrieg.com



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