Libyens Chemiewaffen sorgen für Kopfschmerzen
Am Sonntag lief Frist für Vernichtung der Vorräte ab / Giftgaseinsatz gegen Rebellen wäre illegal
Von Wolfgang Kötter *
Ab heute hätte Libyen frei von Chemiewaffen sein sollen. Denn am gestrigen 15. Mai war die bereits mehrfach verlängerte Frist abgelaufen, bis zu der alle libyschen C-Waffen-Vorräte hätten vernichtet sein sollen. Stattdessen wächst aber die Sorge, was mit den verbliebenen Giftgasbeständen geschehen könnte. Ziemlich hilflos klang der Generaldirektor der Chemiewaffenorganisation (OPCW), Ahmet Üzümcü, als er jetzt vor dem Exekutivrat der Organisation in Den Haag erklärte: “Ich habe die libysche Regierung an ihre internationale Verpflichtung erinnert, die Vernichtungsfristen einzuhalten, und bekräftigt, dass ausschließlich die Regierung verantwortlich für die physische Sicherheit der Chemiewaffen ist.“
Doch angesichts der gewaltsamen Unruhen und bewaffneten Kämpfe scheint dieses Ziel auf absehbare Zeit nicht realisierbar. Schlimmer noch. Es wird befürchtet, Staatschef Muammar al-Gaddafi könnte in äußerster Bedrängnis auch Giftgas gegen die Aufständischen einsetzen. Ex-Justizminister Mustafa Abdel Galil, der nach seinem Rücktritt die Seiten gewechselt hatte, warnte gegenüber dem Sender El Dschasira, dass Gaddafi nicht zögern werde, chemische Waffen anzuwenden. Vor allem dann nicht, wenn die Hauptstadt Tripolis bedroht sei. „Wenn er zum Schluss wirklich unter Druck steht, ist er zu allem fähig. Gaddafi wird nur verbrannte Erde hinterlassen.“ Auch in der umkämpften Stadt Misrata 210 km östlich von Tripolis wächst die Furcht, die Regierungsstreitkräfte bereiteten sich auf den Einsatz chemischer Waffen vor. Man habe gehört, dass die Soldaten in der nahegelegenen Stadt Slitan Gasmasken verteilt hätten, verlautete aus den Reihen der Rebellen. Doch Chemiewaffenexperte John Hart vom Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI wiegelt ab: „So einen Giftstoff anzuwenden, würde sehr negative Publizität auslösen, weshalb es schwer verständlich wäre, weshalb Gaddafi ihn einsetzen sollte.“
C-Waffen-Konvention verlangt Beseitigung der Giftgasbestände
Der Einsatz wäre in jedem Fall ein eklatanter Bruch des Völkerrechts, denn Libyen ist seit dem Jahre 2004 Mitglied der Chemiewaffenkonvention. Das Abkommen, dem heute 188 Staaten angehören, verbietet nicht nur, Giftgase herzustellen oder zu besitzen, sondern auch sie anzuwenden. Die bestehenden Vorräte müssen vernichtet werden. Als Gaddafi vor acht Jahren öffentlich auf Massenvernichtungswaffen verzichtete, meldete Tripolis der Chemiewaffenorganisation OPCW Bestände von über 23 Tonnen Giftstoffen. Hergestellt worden waren sie zum großen Teil in der von der deutschen Firma Imhausen-Chemie aus Freiburg gebauten Chemiewaffenanlage in Rabta. Seither wurden 3.500 Munitionsbehälter und Sprengköpfe für chemische Kampfstoffe zerstört. „Wir haben die gefährlichsten Elemente schon eliminiert, darunter auch die chemische Munition", sagte ein Sprecher des US-amerikanischen Außenministeriums, „aber es gibt noch chemische Kampfstoffe, die nicht in Waffensysteme integriert sind." Der libyschen Armee verbleibt rund die Hälfte der Vorräte an Senfgas, die in der Chemieanlage Ruwagha südöstlich der Hauptstadt gelagert sind. Würde das Giftgas nun gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden, wäre das grausam und menschenverachtend, aber mit dieser Untat stände Gaddafi nicht allein.
Einsätze von chemischen Kampfstoffen trotz völkerrechtlichen Verbots
Immer wieder gibt es Meldungen darüber, dass trotz des Verbots chemische Kampfstoffe angewendet werden. Irak setzte chemische Waffen in den 80-er Jahren im ersten Golfkrieg mit dem Iran und bei rund 40 Giftgaseinsätzen im Rahmen der Operation "Anfal" gegen die eigene kurdische Bevölkerung in Halabdscha, in den Tälern von Jafayeti und Balisan, in Kirkuk und Khurmal ein. Die Zahl der Todesopfer wird insgesamt auf über 50.000 geschätzt. Bagdad besaß laut Angaben der UN-Sonderkommission UNSCOM etwa 46.000 mit dem Nervengas Sarin gefüllte Sprengköpfe bzw. Bomben und weitere mehr als 400 Tonnen anderer chemischer Kampfstoffe. Obwohl Saddam Hussein sie im zweiten Golfkrieg letztlich nicht einsetzte, leiden noch heute Tausende GIs am "Golfkriegs-Syndrom", das sie sich, neuesten Veröffentlichungen zufolge, durch schlampige Aufklärung der CIA bei der Sprengung des irakischen C-Waffen-Lagers Chamisijah zuzogen. Die verbliebenen Bestände wurden später auf Beschluss des UN Sicherheitsrates unter internationaler Aufsicht vernichtet.
Die japanische Aum Shinrikio-Sekte verübte am Morgen des 20. März 1995 einen Anschlag mit dem Nervengas Sarin auf die Tokioter U-Bahn. Zwischen sieben und acht Uhr morgens bestiegen fünf Sektenangehörige gleichzeitig jeweils einen Waggon der Marunouchi-, Hibiya- und Chiyoda-Linie. Alle drei U-Bahnlinien kreuzen sich im Tunnel unter dem Tokioter Regierungsviertel. Jeder der Aum-Attentäter ließ mehrere mit Sarin gefüllte Plastiktüten fallen, stach mit der Spitze des Regenschirms Löcher in die Beutel und verschwand. Kurz darauf brachen die ersten Menschen mit blutigem Schaum vor dem Mund in den Waggons zusammen, weitere krümmten sich auf den Bahnsteigen des U-Bahnhofs Kasumigaseki und der benachbarten Stationen. Der Anschlag forderte 12 Todesopfer, 54 weitere Menschen hatten das verdampfende Nervengas eingeatmet oder berührt und waren schwer, 980 weitere leicht verletzt. Rund 5.300 Patienten behandelten die Krankenhäuser der japanischen Hauptstadt an jenem Tag ambulant, und zahlreiche Opfer leiden bis heute unter physischen und psychischen Spätfolgen.
Die türkische Armee soll bei Kampfhandlungen gegen die Kurdische Arbeiterpartei PKK zwischen dem 8. und 15. September vergangenen Jahres im Osten des Landes Giftgas angewendet haben. Bewohner der Region beschrieben, wie Soldaten gasförmige, allem Anschein nach chemische Kampfstoffe mittels Geschossen in eine Höhle in der Nähe der Stadt Cukurca einbrachten und wenige Zeit später acht Mitglieder der Kurdischen Volksbefreiungskräfte, des bewaffneten Arms der PKK, aus dieser Höhle bargen. Das von C-Waffen-Experten Van Aken geleitete Sunshine Project hatte seinerzeit ein Dekret der türkischen Armee von 1986 entdeckt, demzufolge der Kampf gegen die PKK auch den Einsatz von Giftgas erfordere. Das sei zwar noch kein Beweis, aber dennoch vermutet er: „Gegen Widerstandskämpfer, die sich in Höhlen verschanzen, hat eine Armee wenig Möglichkeiten der legalen Bekämpfung.“ Da man mit Kugeln nicht um Ecken schießen könne, sei unter Umständen die Versuchung groß, Giftgas einzusetzen.
In Afghanistan kommt es immer wieder zu Giftgasanschlägen gegen Mädchenschulen in der Hauptstadt Kabul wie auch in den Provinzen Kapisa, Parwan und Kundus. Dabei wurden mehr als Hundert Schülerinnen und Lehrer vergiftet und mussten mit Bewusstseinsstörungen, Schwächeanfällen, Erbrechen und Kopfschmerzen ins Krankenhaus gebracht werden. Es wird vermutet, dass dahinter radikal-islamische Gruppierungen stecken, die damit die Mädchen vom Schulbesuch abschrecken wollen. Während der Herrschaft der Taliban von 1996 bis 2001 war Mädchen der Schulbesuch verboten.
Sechs Staaten haben sich offiziell zu ihrem Chemiewaffenbesitz bekannt. Zu den Anfangs gemeldeten Russland, USA, Indien und Südkorea kamen später noch Albanien und Libyen hinzu. Laut dem seit 1997 geltenden Vertrag hätten alle C-Waffen bereits nach 10 Jahren vernichtet sein müssen. Praktisch aber gilt die ursprünglich nur für Ausnahmefälle vorgesehene Verlängerung bis zum Jahr 2012. Inzwischen ist aber klar, dass gerade die Besitzer der größten C-Waffen-Arsenale - Russland und die USA - auch diese Frist nicht einhalten werden. Während Albanien, Indien und Südkorea ihre Bestände bereits vollständig beseitigt haben, hat Russland die Vernichtung erst für 2015 und die USA sogar erst für 2021 angekündigt. Bei weiteren Ländern werden geheime Giftgasvorräte bzw. Waffenprogramme vermutet. Das renommierte Washingtoner Henry L. Stimson Center zählt dazu Ägypten, Äthiopien, China, Iran, Israel, Nordkorea, Myanmar, Pakistan, Serbien, Sudan, Syrien, Taiwan und Vietnam.
Senfgas, auch unter den Namen Lost, Yperit oder Gelbkreuz bekannt, ist ein hochwirksames Hautgift. Die Verbindung gehört zu den organischen Schwefelverbindungen. Das Kontaktgift dringt innerhalb von Minuten durch Kleidung und Haut in den Körper ein. Der Hautkontakt mit flüssigem Senfgas verursacht schmerzhaft brennende Blasen und Verätzungen. Zudem kann der übermäßige Kontakt der Augen mit Senfgas zum Erblinden führen. Durch das Einatmen von Giftgasschwaden wird das Lungengewebe zerstört. Das Gas schädigt jedoch auch Nerven sowie das Herzkreislauf-System, erhöht das Krebsrisiko und kann sogar tödlich sein.
Senfgas, dessen Name vom Geruch nach Knoblauch, Zwiebeln und Senf herrührt, kommt nicht natürlich in der Umwelt vor, sondern muss chemisch hergestellt werden. Es kann dann als Gas, einer Flüssigkeit oder auch in fester Form auftreten. In gasförmigem Zustand ist Senfgas schwerer als Luft und sammelt sich dementsprechend am Boden. Es kann gut durch Kleider, Schuhe und andere Materialien dringen.
* Dieser Beitrag erschien unter demselben Titel, aber leicht gekürzt im "Neuen Deutschland" vom 16. Mai 2011
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