Neues Kriegsmodell
Ein Sammelband zur NATO-Intervention in Libyen
Von Arnold Schölzel *
Im Hauptquartier des Nordatlantikpaktes und bei angeschlossenen Kriegsfreunden herrscht Freude. »Das war wohl eine der erfolgreichsten Missionen in der Geschichte der NATO«, trompetete deren Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am 27. Oktober 2011, eine Woche nach der Ermordung des libyschen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi, im Berliner Tagesspiegel. Die Chefredakteurin des einflußreichen US-Journals Foreign Policy, Susan Glasser, triumphierte bereits im September 2011 nach einigen zehntausend Toten: »Dies ist ein Krieg, der funktioniert.« – im Gegensatz zu denen im Irak und in Afghanistan nämlich.
Nachzulesen sind Zitate dieser Art in dem von den beiden Marburger Friedensforschern Johannes M. Becker und Gert Sommer herausgegebenen Sammelband »Der Libyen-Krieg. Das Öl und die ›Verantwortung zu schützen‹«. Das Buch enthält 13 Kapitel, in denen die Autorinnen und Autoren vor allem die strategischen (Jürgen Wagner, Uli Cremer), völkerrechtlichen (Hans von Sponeck, Norman Paech) und medialen (Becker, Sommer, Karin Leukefeld) Besonderheiten dieser militärischen Attacke und ihrer Rechtfertigung durch die sogenannte Schutzverantwortung untersuchen. Andere Abschnitte sind der Geschichte Libyens seit der Revolution von 1969 (Oliver Demny), den wechselnden Beziehungen Ghaddafis zum Westen (Sommer, Herbert Wulf), der Frage der »Werte« in diesem Krieg (Gertrud Brücher), den archäologischen Schätzen des Landes (Claudia Kleinwächter) sowie der Stellung Libyens in der arabischen Welt (Werner Ruf) gewidmet. Entstanden ist so ein Kompendium zur Vorgeschichte, zum Kontext und zu den Folgen dieses Waffengangs. Die Beiträge sind durchgängig wissenschaftlich-sachlich gehalten, mit dem Politikwissenschaftler Michael Daxner kommt ein Interventionsbefürworter im Gespräch mit dem Völkerrechtler Norman Paech zu Wort (siehe Vorabdruck in jW am 5. Juni). Trotz der Komplexität des Herangehens und trotz des moderaten Tons kommen Herausgeber und Autoren aber zu klaren Urteilen.
Sieben Länder
Das beginnt mit den ersten Sätzen der Einleitung, in der die Herausgeber das strategische Feld beschreiben, in dem dieser Krieg inszeniert wurde: »Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes Anfang der 1990er Jahre hat die westliche Wertegemeinschaft vier große Kriege begonnen, und weitere können folgen. Drei der vier Kriege (Jugoslawien 1999, Afghanistan seit 2001, Irak seit 2003 – d. Red.) verletzten das Völkerrecht, da ein entsprechender Beschluß des UN-Sicherheitsrates fehlte.« In allen Fällen waren die Kriegsgründe grotesk erlogen, aber durch Kampagnen zu Gewißheiten der veröffentlichten Meinung gemacht worden. Becker und Sommer führen an, daß US-General Wesley Clark, Oberbefehlshaber im Jugoslawien-Krieg, 2007 erklärte, die USA hätten nach dem 11. September 2001 geplant, Krieg gegen sieben Länder zu führen: Irak, Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, Sudan und schließlich Iran.
Das Programm ist also weitgehend erfüllt. Es hat im Namen der Demokratie weit über eine Million Menschen das Leben gekostet. Welche Bedeutung hat in diesem Kontext der Krieg gegen Libyen? Der Politikwissenschaftler Jürgen Wagner weist in seinem Beitrag darauf hin, daß im Westen die Rede von »historischer Wegmarke« und einer Art »Libyen-Doktrin«, d. h. von einem neuen Kriegsmodell sei. Wagner schreibt: »In der Tat weist der Einsatz mehrere weit reichende ›Besonderheiten‹ bzw. ›Neuerungen‹ auf: Auf der legitimatorischen Ebene lag ihm mit der Schutzverantwortung eine neue Kriegsrechtfertigung zugrunde; strategisch basierte er auf einer neuen transatlantischen Macht- und Arbeitsteilung; und taktisch-operationell wurde im Vergleich zu den vorherigen Interventionen im Irak und Afghanistan auf eine neue Form der Kriegsführung gesetzt.«
Verantwortungslosigkeit
Zentraler Punkt des Bandes ist die Auseinandersetzung mit der in der UN-Charta sei jeher enthaltenen »Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung«. Sie wurde von einer UN-Kommission unter Federführung Kanadas Anfang des vergangenen Jahrzehnts so zurechtgezimmert, daß sie als Kriegsanlaß dienen kann. Die in den 90er Jahren erfundene »humanitäre Intervention« war etwas unpopulär geworden. Sponeck schildert all dies und spricht in bezug auf Libyen von »Schutzverantwortungslosigkeit«. Er stellt sich damit gegen nicht wenige westliche Politiker, etliche Völkerrechtler, westliche Journalisten ohnehin, aber auch gegen UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon, der (auch mit Bezug auf den Krieg in Côte d’Ivoire) von einem »historischen Präzedenzfall« für die Durchsetzung von Menschenrechten sprach. Mit Hohn dieser Art geht Norman Paech scharf ins Gericht. Der Libyen-Krieg trug nach ihm »alle Merkmale eines spätkolonialen Feldzuges: von dem eindeutigen Mißbrauch eines nur begrenzten völkerrechtlichen Mandats über die Mißachtung der afrikanischen Vermittlungsangebote bis zur Auswechslung eines Regimes, welches schon immer auf der Austauschliste gestanden hat, durch ein verläßliches Klientelregime, um den strategischen Einfluß in einer wichtigen Region mitsamt seinen unentbehrlichen Rohstoffen zu sichern.«
Kapitalismus und Krieg sind untrennbar. Wäre es anders, hätte der Band eine Chance, an Schulen und Hochschulen Pflichtlektüre zum Thema »westliche Demokratien und Krieg« zu werden.
Johannes M. Becker/Gert Sommer (Hg.): Der Libyen-Krieg - Das Öl und die ›Verantwortung zu schützen‹«. Lit Verlag, Berlin 2012, 282 Seiten, 24,90 Euro
* Aus: junge Welt, Montag, 16. Juli 2012
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