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Offensive der Rebellen auf Brega

Tote bei NATO-Angriff auf Tripolis / Gaddafi weist Rücktrittsforderungen weit von sich *

Die NATO griff in der Nacht zum Sonntag (17. Juli) die libysche Hauptstadt Tripolis an und die Rebellen sind in die Hafenstadt Brega eingedrungen. Staatschef Muammar al-Gaddafi erteilte derweil Forderungen nach seinem Rücktritt erneut eine Absage.

Die libysche Hauptstadt Tripolis ist in der Nacht zum Sonntag von zahlreichen schweren Explosionen erschüttert worden. Ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichtete, er habe mindestens 13 Detonationen gehört. Das libysche Staatsfernsehen berichtete, die NATO habe Luftangriffe auf militärische und zivile Ziele in zwei Stadtteilen von Tripolis geflogen. Dabei habe es Tote gegeben, nähere Angaben wurden nicht gemacht.

Die libyschen Rebellen sind unterdessen nach Fernsehberichten in die strategisch wichtige östliche Hafenstadt Brega eingedrungen. Die Regierungstruppen hätten sich nach heftigen Kämpfen in die 50 Kilometer westlich gelegene Stadt Bishr zurückgezogen, meldete der Sender Al-Arabija am Sonnabend. In Brega liegt ein wichtiger Ölhafen. Der neue militärische Erfolg der Rebellen kam, nachdem rund 40 Staaten ihren Übergangsrat als einzige legitime Vertretung des libyschen Volkes anerkannt hatten.

Ungeachtet der neuen Offensive der Rebellen auf die Ölstadt Brega und der anhaltenden NATO-Luftangriffe hat Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi Forderungen nach seinem Rückzug erneut eine Absage erteilt. »Ich werde niemals das Land meiner Vorfahren verlassen und das Volk, das sich für mich opfert«, sagte Gaddafi am Sonnabend. In einer über Lautsprecher übertragenen Rede vor Tausenden Menschen in der Stadt Sawija, 50 Kilometer westlich der Hauptstadt Tripolis, erklärte Gaddafi, er sei bereit, sich für sein Volk zu opfern. »Sie fordern mich auf, Libyen zu verlassen, das ist lustig«, sagte er. Die Vertreter der internationalen Libyen-Kontaktgruppe hatten bei einem Treffen am Freitag in Istanbul erneut den Rückzug Gaddafis gefordert. Sie erkannten zugleich den Nationalen Übergangsrat der Rebellen als offizielles Organ mit Regierungsvollmacht an.

Gaddafi bezeichnete in seiner Rede die Rebellen als »Ratten«, die »das Volk in Bengasi, in Misrata und in den Bergen des Westens in Geiselhaft genommen« hätten und als »menschlichen Schutzschild« missbrauchten. Die Stadt Bengasi im Osten Libyens ist die Hochburg der Rebellen, das 200 Kilometer östlich von Tripolis gelegene Misrata ist ebenfalls in Rebellen-Hand. Der libysche Staatschef versprach, dass »fünf Millionen bewaffnete Libyer« aufmarschieren und die »besetzten Städte befreien« würden, »sobald der Einsatzbefehl gegeben wird«. Gaddafi hatte seine Anhänger am Donnerstag zum Marsch auf Bengasi aufgerufen. Misrata ist bereits von seinen Truppen umstellt.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Juli 2011


Bomben und plündern

Von Rainer Rupp **

Auch am vergangenen Wochenende führte die NATO im Stil einer Terrororganisation ihre schweren Luftangriffe gegen zivile und militärische Ziele in und um die libysche Hauptstadt Tripolis fort und flog am Sonnabend und Sonntag laut BBC die schwersten Angriffe seit Wochen. Das Fernsehen Libyens berichtete, der östliche Vorort Tadschura sei getroffen worden, es habe Tote gegeben. Nähere Angaben machte der Sender nicht. Zuvor hatte Staatschef Muammar Al-Ghaddafi in einer Rundfunkansprache, die sich an eine Demonstration Tausender Unterstützer der Regierung in der westlich von Tripolis gelegenen Stadt Sawija richtete (siehe Foto Seite 3), erklärt, sein Land werde angesichts der Angriffe nicht zurückweichen.

Im türkischen Istanbul hatten am Freitag (15. Juli) die Mitglieder des »Nationalen Übergangsrats« ihre Anerkennung durch die selbsternannte, aus über 30 Ländern bestehende sogenannte Libyen-Kontaktgruppe gefeiert. Der Rat soll damit vor allem zum legitimen Empfänger von im Ausland eingefrorenen libyschen Regierungsgeldern in Höhe von 34 Milliarden Dollar gemacht werden.

Kurz nach der Zusammenkunft in Istanbul versuchten die Rebellen am Sonnabend (16. Juli) erneut, den strategisch wichtigen Ölhafen Brega zu »befreien«, wurden aber trotz Unterstützung durch NATO-Kampfhubschrauber zurückgeschlagen. Dabei sollen nach Angaben der Aufständischen zehn ihrer Kämpfer gefallen und über 170 teils schwer verletzt worden sein.

Angesichts der unbefriedigenden Lage am Boden wächst nicht nur in der NATO die Uneinigkeit über die Art und Weise, wie der Krieg fortzuführen ist. Auch innerhalb der Rebellenbewegung breiten sich Rivalitäten aus, die inzwischen mit Waffengewalt ausgetragen werden. Alle Gruppierungen beanspruchen, nach dem Krieg die Politik Libyens zu bestimmen, darunter die besonders kampfstarke, islamistische Formation der »Märtyrerbrigade des 17. Februar«. Der Führer einer anderen Kampftruppe, Mohammed Musa Al-Maghrabi, der »die Ölstadt Brega erobern will«, sieht in einem Interview mit der New York Times im »Nationalen Übergangsrat« in Bengasi eine »korrupte Vertretung fremder Regierungen« und fragt: »Warum sollen wir die Ghaddafi-Diktatur durch eine Bengasi-Diktatur ersetzen?« Der NATO sei klar, daß der »Nationale Übergangsrat« nicht einmal innerhalb der Rebellenbewegung über eine starke Unterstützung verfüge, hieß es am Wochenende in der kanadischen Globe and Mail. Das Bündnis halte es daher für »sehr unwahrscheinlich«, daß »der Übergangsrat nach dem Krieg kein wichtiger Faktor in der libyschen Politik sein« werde.

Hinter der Fassade der Einigkeit in Istanbul, so berichtete der britische Telegraph gleichzeitig, stiegen in den NATO-Metropolen Nervosität und Ungeduld. Gründe seien nicht nur die Aussicht auf einen sich noch lange hinschleppenden Krieg und die deutlich sichtbaren Spaltungen innerhalb der Rebellenbewegung, sondern auch wachsende Sorgen darüber, was im Fall eines Sieges der Aufständischen geschehen könnte. Für diese Unruhe gibt es konkrete Anlässe: Bereits am 10. Juli hat die New York Times in einem ausführlichen und mit Fotografien belegten Artikel geschildert, wie die Rebellen an der südwestlichen Front plündernd und brandschatzend in die gerade »befreite« Stadt Kawalisch einzogen und mit Lastwagen systematisch die Beute wegschafften. Zu ihrem Glück waren alle Einwohner von Kawalisch vor der »Befreiung« geflohen. Ereignisse wie dieses dürften die Widerstandskraft der Bevölkerung gegen die von der NATO unterstützten »Freiheitskämpfer« weiter stärken, insbesondere in der Kernregion um Tripolis, wo zwei Drittel der Einwohner des Landes leben.

** Aus: junge Welt, 18. Juli 2011


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