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Die Cyrenaika-Führer und ihre Liebe zur Autonomie

Die Zerschlagung der Gaddafi-Strukturen hat neue Begehrlichkeiten im vermeintlich unterprivilegierten Landesosten geweckt

Von Roland Etzel *

Ein zentralistisch regierter Staat hat in Libyen weder Tradition, noch ist er in der sehr stark von Stammesstrukturen geprägten libyschen Gesellschaft erwünscht. Dennoch war er unter der Herrschaft des Königs und später Gaddafis bis zu einem gewissen Maße erzwungen worden. Nach dessen Sturz driften die Regionen um so stärker auseinander.

Um die staatliche Einheit Libyens ist es nicht gut bestellt. Die Clan-Chefs in der Cyrenaika sind offenbar zu der Ansicht gelangt, jetzt genug stillgehalten zu haben. Der NATO-Luftkrieg gegen Gaddafi hat ihnen in die Karten gespielt. Seine Niederlage haben sie auch in dem Sinne als ihren Sieg betrachtet, als er die institutionelle Vorherrschaft von Tripolis und Tripolitanien zunächst gebrochen hat. Jetzt werden die Karten neu gemischt. Über 40 Jahre lang hatte Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi mit einer Mixtur aus Bestechung und Repression die Rivalität der libyschen Clans gesteuert. Wobei die Tripolitanier stets etwas besser davonkamen, weil dort nicht allein die Hauptstadt liegt, sondern auch Gaddafis Geburtsregion Sirte.

Jetzt schlägt Bengasi zurück. Warum die Einnahmen aus den in der Cyrenaika sprudelnden Ölquellen mit den ungeliebten Hauptstädtern teilen? Aber so ungeschickt machen sie es nicht. Die Gruppe von Stammesführern, die sich zu Monatsbeginn aus der Deckung wagte, erklärte nicht etwa die Abspaltung der Cyrenaika, sondern redete - die demokratiegetränkte Terminologie ihrer neuen Schutzmächte nutzend - viel lieber von Autonomie. Selbstverständlich beschwören sie weiter die »Einheit des libyschen Volkes«. Das ist gefahrlos und verpflichtet praktisch zu nichts. Und sollte tatsächlich jemand auf handfesten Konsequenzen bestehen, kann sofort, wie schon geschehen, darauf verwiesen werden, dies sei ja wie unter Gaddafi. Ein Totschlagargument, das Wirkung erzielt.

»Wir werden keine Teilung Libyens zulassen«, wettert Mustafa Abdel Dschalil, Chef des libyschen Übergangsrats und vielleicht bald ein König Johann Ohneland. In den NATO-Staaten, die für ihn den Krieg gewannen, kann man sich aber noch nicht so recht entscheiden. So erklärte Paris es zwar für »besorgniserregend«, dass Abdel Dschalil notfalls »mit Gewalt« eingreifen wolle. Dabei aber beließ man es.

Es geht um die Verteilung des libyschen Ölkuchens, und offenbar sind sich die großen Gesellschaften und ihre hilfswilligen Politiker noch im Unklaren, was vorteilhafter ist: die Förderkonzessionen mit Stammesfürsten auszuhandeln und dabei - den einen gegen den anderen ausspielend - vielleicht weniger bezahlen zu müssen, oder doch etwas mehr gegenüber einer Zentralregierung aufzuwenden, die dafür allzu unbotmäßige und damit auch das Geschäft störende Clanchefs notfalls an die Kandare nimmt.

Derzeit aber scheint das kaum denkbar. Seit der endgültigen militärischen Niederlage Gaddafis wurde zwar beinahe unablässig davon geredet, die Zehntausenden von Waffen von dessen Armee unter Verschluss zu bringen. Doch diese Chance ist längst vertan.

Von den Formationen der siegreichen »Rebellen« zeigte daran ohnehin kaum jemand Interesse, und auch bei großen Teilen selbst der städtischen Bevölkerung vertraut man im Zweifelsfall lieber der eigenen Schusswaffe. Es wird geschätzt, dass derzeit weit über 100 000 Handfeuerwaffen »schwarz« im Umlauf sind, und es werden tendenziell eher mehr als weniger. Libyen hat Tausende Kilometer lange Landgrenzen, und so leicht es war, dort 2011 Kanäle für die Bewaffnung der Gaddafi-Gegner zu öffnen, so schwer ist es nun, sie wieder zuzuschütten. Die Übergangsregierung könnte sich deshalb schnell selbst aus dem Verkehr ziehen, sollte sie versuchen, ihr Ansinnen mit Waffengewalt durchzusetzen.

Im Fezzan ist es dagegen ruhig. Auch dort ruht Öl im Boden, aber die Südregion ist dünn besiedelt und war an der Rivalität der Küstenregionen bisher weitgehend unbeteiligt.

Die Schaffung eines föderalen Systems sei der Wille der Region, erklärten mit Biedermannsmiene Stammesführer der Cyrenaika am 6. März bei einem Treffen mit Tausenden Anhängern. Einen der ihren, Scheich Ahmed Subair al-Senussi, bestimmten sie zum vorläufigen Gouverneur der Cyrenaika. Subair ist nahezu unantastbar, hat er doch jahrelang in Gaddafis Kerkern gesessen und ist auch noch Mitglied des Übergangsrats in Tripolis. Was kann die Regierung da eigentlich unternehmen?

* Aus: neues deutschland, 17. März 2012

Libyens Hauptregionen

Libyen besteht aus drei Großregionen: der Cyrenaika, dem Fezzan und Tripolitanien.
  • Die Cyrenaika ist 857 000 Quadratkilometer groß mit etwa 1,7 Millionen Einwohnern. Politisches Zentrum ist Bengasi, die zweitgrößte Stadt Libyens.
  • Der Fezzan ist 551 170 Quadratkilometer groß und hat eine 413 000 Personen zählende Bevölkerung. Bedeutendster Ort ist Marzuq mit 13 000 Einwohnern.
  • Tripolitanien mit der Hauptstadt Tripolis (Dreistadt) ist der historisch älteste Landesteil. Auf einer Fläche von 272 000 Quadratkilometern leben knapp vier Millionen Menschen.
  • 1951 wurde Libyen in die Unabhängigkeit entlassen. Nach der Verfassung war es eine föderale Monarchie, bestehend aus drei Regionen. Dieser Status wurde aber 1963 von König Idris zugunsten eines Einheitsstaates abgeschafft.




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