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Libyen: 42 Jahre Volks-Dschamahirija

Eine Analyse aus sozioökonomischer Sicht. Von Gerd Bedszent *

Von Gerd Bedszent *

Anfang Oktober erscheint im Promedia Verlag, Wien, ein von Fritz Edlinger herausgegebener Band mit Hintergrundberichten und Analysen zu Libyen. Das Buch wird Texte von Karin Leukefeld, Peter Strutynski, Thomas Hüsken, Konrad Schliephake, Awni al Ani, Stefan Brocza und anderen enthalten. Wir veröffentlichen aus dem Band vorab den Beitrag von Gerd Bedszent und danken dem Promedia Verlag, daß er uns den Artikel aus aktuellem Anlaß bereits jetzt zur Verfügung gestellt hat. (jW)

Teil 1: Von der Agrarkolonie zum souveränen Staat

Der heutige Staat Libyen ist ein Produkt der italienischen Kolonial­macht. Zu Beginn des 20.Jahrhunderts annektierte Italien die bis dahin eigenständigen Landesteile – die Kyrenaika im Osten, Tripolitanien im Westen und den Fessan im Süden – und faßte sie zur Kolonie »Libia italiana« zusammen. Zwischen den Zentren dieser drei Landesteile erstreckt sich lebensfeindliche Wüste, die nur gelegentlich von kleinen Oasen unterbrochen wird. Seit dem 7.Jahrhundert ist das heutige Libyen islamisiert und weitgehend arabisiert, Reste vorarabischer Bevölkerungsgruppen leben hauptsächlich in den westlichen und südöstlichen Randgebieten. Libyen galt bis in die 1960er Jahre hinein als rückständig und ist derzeit noch immer jenes nordafrikanische Land, das am meisten von vormodernen Stammesstrukturen dominiert wird. Etwa 140 verschiedene Stämme und Clans nehmen Einfluß auf das gesellschaftliche und politische Leben.

Unter der osmanischen Herrschaft (ab dem 16.Jahrhundert bis 1911) lebte die Oberschicht der Küstenregionen hauptsächlich von Seeraub, während die Stämme im Landesinnern sich selbst überlassen blieben. Piraterie, Angriffe europäischer Flotten, Stammesfehden sowie die extensive Nomadenwirtschaft schädigten nachhaltig die aus der Antike erhaltenen Wirtschaftsstrukturen. Von Machtvakuum und Niedergang profitierte der Senussi-Orden, der sich seit 1837 über weite Teile Nordafrikas ausgebreitet hatte. Kern der Senussi-Herrschaft waren »Zawiyas«, islamische Klöster, die sich zu landwirtschaftlichen, kulturellen und kommerziellen Zentren entwickelten.

Besatzung und Widerstand

Ab 1902 nahm Italien zunehmenden wirtschaftlichen Einfluß auf die libyschen Küstenregionen. Als Folge des italienisch-osmanischen Krieges von 1911/12 wurden Tripolitanien und die Kyrenaika vom Königreich Italien annektiert. 1914 besetzten italienische Truppen auch den Fessan.

Das Osmanische Reich hatte in Libyen kaum Truppen stationiert. Träger des Widerstandes gegen die italienische Landnahme waren daher hauptsächlich einheimische Stammeskrieger. Die Senussi, die der osmanischen Herrschaft kritisch, aber nicht ablehnend gegenüberstanden, setzten sich gegen das italienische Militär ebenfalls zur Wehr und konnten im Bündnis mit mehreren Stammesverbänden zeitweise den größten Teil des Landes zurückerobern.

Unter Muhammad Idris Al-Mahdi Al-Senussi, einem Enkel des Ordensgründers, vollzog ein Teil der Senussi-Führung 1917 einen Frontwechsel. Idris konnte sich mit italienischer Unterstützung als Emir der Kyrenaika etablieren, in Tripolitanien wurde eine unabhängige Republik ausgerufen.

Nach der faschistischen Machtübernahme in Italien 1922 leitete Mussolini umgehend eine »Wiedereroberung« und Ausweitung des Kolonialbesitzes ein. Idris verschwand im britischen Exil, der Widerstand organisierte sich unter dem Senussi-Scheich Umar Al-Muchtar. Die Besatzer reagierten mit Razzien und Massenhinrichtungen. Italienische Piloten bombardierten zudem die wehrlose Oasenbevölkerung – aus den Jahren 1927/28 ist auch der Einsatz von Giftgas nachgewiesen. Etwa 100000 Bewohner der Kyrenaika wurden im Jahr 1930 in Lagern interniert. Nur die Hälfte von ihnen überlebte. Umar Al-Muchtar wurde im Jahre 1931 hingerichtet. Die genaue Anzahl der libyschen Opfer des Eroberungskrieges ist bis heute nicht bekannt. Etwa ein Drittel der Bevölkerung fiel dem Hunger und den italienischen Militärs zum Opfer, bis in die jüngere Vergangenheit wurden die kolonialen Verbrechen Italiens geleugnet.

Italiens Besatzung führte auch dazu, daß die traditionelle Infrastruktur Libyens zerstört und das Land zu einer Agrarkolonie wurde. Die Kolonialverwaltung enteignete sämtliche wertvolle Ländereien und übertrug sie Italienern. Über 100000 Bauern siedelte die faschistische Führung aus dem unterentwickelten Süditalien auf zuvor enteigneten Ländereien Tripolitaniens und der Kyrenaika an. Die Politik der faschistischen Landnahme erwies sich jedoch als wenig nachhaltig: Viele italienische Siedler verließen das Land nach 1945 wieder. Andere wurden von den Briten zwangsdeportiert, die letzten 1969 vom Revolutionären Militärrat ausgewiesen.

Der Zweite Weltkrieg brachte Libyen heftige Zerstörungen – Mussolinis Truppen und ihre deutschen Verbündeten nutzten das Land als Ausgangspunkt für Angriffe auf das damals britische Ägypten. Bis zur endgültigen Niederlage Italiens wechselte allein die Stadt Bengasi fünfmal den Besitzer; die Stadt Tobruk erhielt die Bezeichnung »Verdun von Afrika«. Die geschlagenen Reste der italienischen und deutschen Armeen flüchteten schließlich nach Tunesien und streckten dort am 10. Mai 1943 die Waffen.

Unabhängigkeit und Königreich

Auf den Zweiten Weltkrieg folgte in Libyen eine Periode britisch-französischer Militärverwaltung. Die Briten wollten die Kyrenaika annektieren, der Fessan sollte französisch werden, Tripolitanien als UN-Mandatsgebiet italienisch bleiben. In Tripolitanien ließen die Briten daher die faschistischen Kolonialstrukturen weitgehend unangetastet. Die geplante Aufteilung Libyens wurde jedoch nicht vollzogen, das Land entsprechend einem Mehrheitsbeschluß der UNO im Jahre 1951 als »Vereinigtes Königreich Libyen« eine unabhängige Föderation der drei Landesteile.

Das Erbe der Kolonialära war grauenhaft. So betrug die Analphabetenrate im Jahre 1951 95Prozent der Bevölkerung. Nur 5000 Libyer hatten mehr als fünf Jahre Schulbildung, gerade 16 waren Hochschulabsolventen. Libyen zählte zu den ärmsten Ländern der Welt, das jährliche Pro-Kopf-Einkommen betrug umgerechnet durchschnittlich 15 Dollar. Die fruchtbarsten Ländereien befanden sich nach wie vor im Besitz italienischer Grundbesitzer, die einheimische Landarbeiter für einen Hungerlohn für sich arbeiten ließen. Der einzige bedeutende Exportschlager war Militärschrott, der auf verlassenen Schlachtfeldern aufgesammelt wurde.

König Idris I. war wenig mehr als eine Marionette der Briten. So verpachtete er beispielsweise mehrere Militärstützpunkte an Großbritannien und die USA, deren Nutzung während der Suez-Krise von 1956 und im Sechs-Tage-Krieg von 1967 schwere Unruhen hervorrief.

Idris I. umgab sich in seiner Herrschaft hauptsächlich mit ehemaligen Senussi-Scheichs und Stammesführern der Kyrenaika; die Stämme Tripolitaniens und des Fessan blieben von jeder Machtausübung weitgehend ausgeschlossen. Erst im Jahre 1963 erfolgte, auf dem Papier, eine Umwandlung Libyens von einer Föderation zu einem Einheitsstaat.

Die von den faschistischen Besatzern enteigneten Ländereien blieben auch nach der Unabhängigkeit (1951) im italienischen Besitz, Handel und Industrie waren weiterhin italienische Domänen. Nach den ersten Erdölfunden im Jahre 1955 duldete Idris, daß das libysche Territorium unter den weltweit führenden Erdölkonzernen faktisch aufgeteilt wurde, und kassierte für den Staatshaushalt nur eine vergleichsweise niedrige Grundrente. Die Öleinnahmen kamen fast ausschließlich Mitgliedern der privilegierten Oberschicht zugute, während die Bevölkerungsmehrheit in Armut und Unterentwicklung verblieb. Zahlreiche Nomaden und Oasenbauern gaben in der Folge die Landwirtschaft auf und strömten in der Hoffnung auf guten Verdienst auf die Ölfelder. Ohne hinreichende Schulbildung und Ausbildung konnten sie dort meist nur als Hilfsarbeiter Beschäftigung finden.

In der herrschenden Schicht rief der Ölboom eine blühende Korruption hervor. Auf sich mehrende Proteste reagierte das Herrscherhaus mit Repression – formell war Libyen zwar eine konstitutionelle Monarchie, praktisch konnte der König aber jede ihm nicht genehme Gesetzesvorlage blockieren. Schon im Jahre 1952 verbot Idris I. alle politischen Parteien und unabhängigen Gewerkschaften. Nach dem Sturz des Königshauses im benachbarten Ägypten 1952 ließ Idris I. zahlreiche oppositionelle Politiker inhaftieren oder hinderte sie an der Teilnahme am politischen Leben.

Aufstieg Al-Ghaddafis

Unter Idris I. blieben sämtliche höheren Posten in Staatsapparat, Polizei und Geheimdienst Angehörigen der Oberschicht vorbehalten. Die einzige Möglichkeit des Aufstiegs auch für Angehörige nicht privilegierter Stämme bildete das Militär. Gerade in den niederen Offiziersrängen gab es daher Gruppen Unzufriedener, die gegen die konservierte Rückständigkeit und den nationalen Ausverkauf opponierten. Der »Bund der Freien Unionistischen Offiziere« stürzte Idris I. im Jahre 1969 durch einen im wesentlichen unblutigen Militärputsch. Der gerade 27 Jahre alte Armeeoberst Muammar Al-Ghaddafi ließ sich als Oberhaupt der Verschwörung vom Revolutionären Militärrat als Befehlshaber der Streitkräfte bestätigen. Unter der Losung »Freiheit, Sozialismus, Einigkeit« wurde in der nun beginnenden Ghaddafi-Ära ein Prozeß der radikalen Modernisierung der libyschen Gesellschaft in Gang gebracht.

Muammar Al-Ghaddafi gilt heute, mehr noch als damals, als eine widersprüchliche Persönlichkeit. Geboren als Sohn eines halbnomadischen Wüstenbauern in einem wenig einflußreichen Stamm, besuchte er zunächst eine islamische Schule. Sein Großvater war 1911 im Kampf gegen die Italiener gefallen, Vater und Onkel wurden jahrelang in faschistischen Internierungslagern gefangengehalten. Ghaddafi wurde Kadett an der Militärhochschule des Landes, kam als junger Offizier zur Weiterbildung nach Großbritannien und begann anschließend einen steilen Aufstieg in der libyschen Militärhierarchie.

Ghaddafis politische Vorstellungen werden häufig als »sozialistisch« oder »marxistisch« beschrieben, tatsächlich ist er eher ein stark islamisch geprägter panarabischer Nationalist. Sein zeitweiliges Zusammengehen mit dem sozialistischen Osteuropa war rein taktischer Natur.

Die vom Revolutionären Militärrat durchgesetzten Reformen wiesen allerdings gewisse Ähnlichkeiten zum osteuropäischen Sozialismusmodell auf: hoher Mindestlohn, Verstaatlichung zahlreicher Unternehmen, Bodenreform, staatliche Lenkung der Wirtschaft und Preiskontrolle sowie staatliches Monopol des Außenhandels. Die dahinter stehenden Überlegungen entsprachen den realen Verhältnissen im Land: Ein nationales Bürgertum als Träger des angestrebten Modernisierungsprozesses hatte in der libyschen Stammesgesellschaft keine Grundlage, die Reformer konnten sich daher nur auf eine Staatsbürokratie stützen.

»Herrschaft der Massen«

Viele der Merkwürdigkeiten der Ghaddafi-Ära haben ihre Ursache darin, daß ein umfassendes Modernisierungsprogramm eigentlich nur auf der Grundlage eines funktionierenden Nationalstaats hätte erfolgen können. Ein solcher Nationalstaat ist aber Libyen bis heute nie gewesen, sondern eher ein loses Bündnis vormoderner Stämme und Clans, das durch die übergestülpte Staatsbürokratie mehr als notdürftig zusammengehalten wurde. Der Staat Libyen ist daher dauerhaft instabil, seine Staatsführung auf ein Lavieren zwischen den verschiedenen Stammesinteressen, zwischen Erneuerern und Traditionalisten, zwischen vormodernen Clanchefs und einem modernen Management angewiesen. Auch der Kult, den Ghaddafi um seine eigene Person kreierte, hat seine Ursache genau in diesen Elementen: Er begriff sich selbst als einzige Person, die die widerstrebenden Interessen ausbalancieren und die libysche Gesellschaft zusammenhalten konnte. Eine lange Zeit gelang ihm dies auch.

Da Ghaddafi selbst einem unbedeutenden und relativ machtlosen Wüstenstamm der Syrte angehört, verfügte er über keine traditionelle Hausmacht. Der von ihm angeführte Revolu­tionsrat wurde ständig von Militärverschwörungen, Putschversuchen und Stammesrevolten bedroht. Gegen die königstreuen Stammesführer der Kyrenaika verbündete sich der Revolutionäre Militärrat zunächst mit verschiedenen Stammes­koalitionen Tripolitaniens und des Fessan. So konnten erste Reformen durchgesetzt und die Rolle der Zentralgewalt gegenüber den Stämmen gestärkt werden.

Die offizielle Auflösung des Militärrates und die Ausrufung der »Volks-Dschamahirija«, der »Herrschaft der Massen«, im Jahre 1977 waren der Versuch, die soziale Basis des Regimes zu verbreitern und so das gesamtstaatliche Modernisierungsprogramm dauerhaft gegen partikulare Stammesinteressen durchzusetzen. Nachdem eine Massenmobilisierung mittels einer nach ägyptischem Vorbild gegründeten Einheitspartei mit dem Namen »Arabische Sozialistische Union« gescheitert war, wurden die bereits geschaffenen Parteizellen in sogenannte Volkskomitees umgewandelt. Sie sollten in »Volkskonferenzen« direkt von der Bevölkerung gewählt werden und als Interessenvertretungen und lokale Verwaltungsgremien fungieren.

In seiner im »Grünen Buch« beschriebenen »Dritten Universaltheorie« arbeitete Ghaddafi die ideologischen Grundlagen für die von ihm geführte »Revolution von oben« aus. Er verwarf sowohl das bürgerliche Demokratiemodell als auch die Diktatur des Proletariats. An deren Stelle traten Vorstellungen von direkter Demokratie der Volksmassen durch eine permanente Revolution – was sein Werk eine Zeitlang auch für westeuropäische Linke attraktiv machte.

Faktisch aber beförderte die Volks-Dschamahirija das Fortbestehen der Stammes- und Clanstrukturen. Die oft nur unter Druck sich konstituierenden »Volkskomitees« waren leere Hüllen, in denen die Besetzung lukrativer Posten nach Stammeszugehörigkeit ausgehandelt wurde. Auch mit der westlicherseits belächelten »Kulturrevolution« gelang Ghaddafi keine Umgestaltung der libyschen Stammesgesellschaft.

Gegen die partikularen Interessen der einzelnen Clans organisierte der formell aufgelöste Revolutionäre Militärrat ein System sogenannter Revolutionskomitees. Ursprünglich sollten sie die Massen mobilisieren, doch wandelte sich die Rolle dieser bezahlten Berufsrevolutionäre schnell zu einer Kontrollinstanz, die die vorgegebene Linie in den Basiskonferenzen durchzusetzen hatte. Die Befugnisse der »Revolutionäre« innerhalb der libyschen Gesellschaft waren nirgendwo definiert, die Revolutionskomitees agierten ohne gesetzliche Grundlage. Fälle von Machtmißbrauch waren damit vorprogrammiert. Ghaddafi gelang es immerhin dank eines gut organisierten Geheimdienstapparates, einer Reihe von Attentaten zu entgehen und die meisten Verschwörungen und Putsche im Keim zu ersticken.

Den Machtkämpfen im libyschen Staatsapparat fiel jedoch nach und nach die Mehrzahl von Gaddafis politischen Weggefährten und Mitstreitern zum Opfer. Häufig wurden sie durch Angehörige seines Familienclans und anderer »zuverlässiger Stämme« ersetzt.

Ghaddafi selbst hatte anfangs heftig gegen die vormodernen Stammesstrukturen gekämpft, erwies sich aber im Alter gegenüber der Begünstigung von Angehörigen des eigenen Clans als anfällig. Die meisten seiner Verwandten versorgte er mit hochdotierten Posten und duldete ihre merkwürdigsten Eskapaden.

Ölförderung in eigener Hand

Noch in der Zeit der Monarchie hatte sich ein Großteil der westeuropäischen Industrie auf die Verarbeitung libyschen Erdöls eingestellt. Ursache war einerseits dessen hochwertige Qualität, andererseits die günstige Verkehrslage: Bei einem Import aus Libyen konnten sich die Abnehmer den riskanten und teuren Transport durch den damals umkämpften Suezkanal sparen.

Sofort nach dem Umsturz von 1969 forderte die Revolutionsführung den Ölkonzernen höhere Renditen ab. Mit den auf diese Weise um das Mehrfache gesteigerten Staatseinkünften wurden eine Reform des Bildungssystems und die Ausbildung libyscher Fachkräfte finanziert, so daß die Volks-Dschamahirija ein paar Jahre später die Erdölförderung komplett in eigene Hände nehmen konnte. Die in den 1970er Jahren extrem hohen Ölpreise sorgten für Milliardeneinnahmen im Staatshaushalt, mit denen Ghaddafi nicht nur Militär und Außenpolitik finanzierte, sondern auch Industrieunternehmen aus dem Boden stampfte und ein für afrikanische Verhältnisse vorbildliches Gesundheits- und Sozialsystem aufbaute. Libyen wies das höchste Pro-Kopf-Einkommen im nördlichen Afrika auf.

In der Wüste wurden moderne Städte errichtet, in denen die Bevölkerung nach Abriß der Altbauten mietfrei wohnen konnte. Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg von 1970 bis 2010 von 53 auf 75 Jahre. Zudem wurde ein gigantisches Bewässerungsprojekt in Angriff genommen. Fossiles Grundwasser wird seitdem in der Sahara gefördert und in die Küstenregionen gepumpt. Die ökologischen Folgen des Projektes sind allerdings umstritten, die vorhandenen Grundwasservorräte erwiesen sich als begrenzt. Libyen unternahm auch mehrere Anläufe zum Aufbau einer Atomindustrie. Zuletzt unterzeichnete Ghaddafi im Jahre 2007 mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy einen Vertrag über den gemeinsamen Bau eines libyschen Atomreaktors– das Vorhaben wurde aber nicht mehr realisiert.

Die libysche Gesellschaft blieb jedoch auch in den Industriezentren tief gespalten: Wissenschaftliche und technische Führungskräfte wurden in der Regel aus Westeuropa importiert, Verwaltungspersonal und mittleres Management stellten die Einheimischen, während die niederen Arbeiten von Migranten aus den Nachbarländern verrichtet wurden.

Immerhin konnte nach der politischen Öffnung Libyens von westlichen Stellen erstaunt konstatiert werden, daß es sich um ein wohlhabendes Land mit einer modernen Infrastruktur und geringer Analphabetenrate handelte, die Bevölkerung mit allem Notwendigen versorgt wurde und – im Gegensatz zu den meisten Nachbarstaaten – keine bettelnden Kinder auf den Straßen zu sehen waren.


Teil 2: Schaukelpolitik im Zeichen der Krise

Die zuweilen äußerst abenteuerliche Politik der Volks-Dschamahirija ist zumindest in den Anfangsjahren mit Ghaddafis entschiedenem Haß auf den europäischen Kolonialismus zu erklären. Für die angestrebte Modernisierung der libyschen Gesellschaft fand der Revolutionäre Militärrat in der panarabischen Ideologie eine geeignete politische Programmatik.

Als die britischen und US-amerikanischen Militärstützpunkte geschlossen wurden, konnte sich der Revolutionsrat des Beifalls der libyschen Bevölkerung, der übrigen arabischen Welt und des sozialistischen Osteuropas sicher sein. Um mit den ehemaligen Kolonialmächten und den USA militärisch gleichzuziehen, unternahm Libyen in den Folgejahren mehrere – vergebliche – Versuche, das eigene Militär mit Massenvernichtungswaffen aufzurüsten.

Getreu dem Motto »Der Feind deines Feindes ist dein Freund« unterstützte Ghaddafi in den 1970er und 1980er Jahren verschiedene militante Gruppen der westeuropäischen und palästinensischen Linken; libysche Geheimdienstler sollen auch persönlich in verschiedene Anschläge verwickelt gewesen sein. Dieser Verdacht diente seit 1973 immer wieder als Anlaß, Libyen mit Wirtschaftssanktionen zu belegen. In den 1980er Jahren erfolgten Zusammenstöße mit dem US-Militär, das schon damals, am 14./15. April 1986, die Hauptstadt Tripolis bombardiert hatte.

Im Sinne der panarabischen Ideologie unternahm Ghaddafi zahlreiche Versuche, Libyen mit verschiedenen Nachbarstaaten in einer Union zusammenschließen. Sämtliche dieser Projekte scheiterten entweder schon in der Verhandlungsphase oder aber hatten langfristig keinen Bestand. Ebenfalls aus der panarabischen Ideologie heraus sind Ghaddafis heftige Verbalattacken gegen Israel zu verstehen. Er ließ es jedoch nie zu einer offenen militärischen Konfrontation kommen, auch nicht, als die israelische Luftwaffe im Februar 1973 über der Sinai-Halbinsel ein libysches Passagierflugzeug abschoß.

Das libysche Militär führte jahrelang einen unerklärten Krieg gegen das Nachbarland Tschad, da Libyen die Grenzziehung zwischen den damaligen Kolonialmächten Italien und Frankreich nicht anerkannte. Hintergrund der Auseinandersetzungen waren aber in Wahrheit die Uranerzlagerstätten in diesem Gebiet. Libyen unterstützte Rebellenverbände im Tschad mit Waffen und Geld und rüstete eine multinational zusammengewürfelte »islamische Legion« auf. Nach dem militärischen Eingreifen Frankreichs erlitt Libyen eine Niederlage, Ghaddafi mußte schließlich seine Truppen aus dem Tschad zurückziehen.

In den 1990er Jahren trat in der libyschen Führung an die Stelle der gescheiterten panarabischen Ideologie zeitweilig eine panafrikanische: Ghaddafi machte palästinensische Arbeitsmigranten für die zunehmende Ausbreitung des Islamismus verantwortlich und ließ Zehntausende von ihnen ausweisen. Da die libysche Wirtschaft auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen war, öffnete Ghaddafi in der Folge die Grenzen für Arbeitsmigranten aus dem Süden, gefiel sich mehrere Jahre lang in heftiger Parteinahme für schwarzafrikanische Staaten und ließ sich in einer PR-Aktion von 200 afrikanischen Fürsten und Königen zum »König der Könige« krönen. Später schloß Libyen seine südlichen Grenzen wieder und warf einen großen Teil der afrikanischen Gastarbeiter aus dem Land.

Wirtschaftskrise, Politikwechsel

Bereits in den 1990er Jahren konnte man absehen, daß die Bildung einer libyschen Nation gescheitert war und ein Auseinanderbrechen des Staates entlang der Stammesgrenzen bevorstand. Trotz des mit Brachialgewalt vorangetriebenen Modernisierungsprogramms war es nicht gelungen, die traditionelle Stammesgesellschaft aufzulösen. Im Hintergrund der offiziell propagierten Volksdemokratie tobten andauernd Machtkämpfe zwischen Angehörigen der verschiedenen Clans. Das System der Volks-Dschamahirija funktionierte als ein labiles Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Stammes- und Claninteressen, das Ghaddafi lange Zeit aufrechtzuerhalten verstand. Doch es funktionierte nur, solange die libysche Gesellschaft sich im wirtschaftlichen Aufschwung befand.

Das staatliche Modernisierungsprogramm war Ende der 1980er Jahre an seine Grenzen gestoßen. Die meisten Produkte der neu errichteten Industrieanlagen und dank des Bewässerungsprojektes erschlossenen Agrarflächen erwiesen sich als überteuert und auf dem Weltmarkt nicht absetzbar. Dies lag weniger an der vielbeschworenen »Mißwirtschaft« der libyschen Staatsbürokratie als vielmehr daran, daß Libyen ein »Zuspätkommer« in der Reihe der Industrienationen war. Ein Hineindrängen in längst aufgeteilte Absatzmärkte kann im Regelfall nur auf der Basis von Niedriglöhnen erfolgen. Da diese in der libyschen Gesellschaft trotz des massiven Einsatzes von Billiglohn-Gastarbeitern aus den Nachbarländern nicht durchsetzbar waren, blieb nur die Subventionierung von Produkten auf der Basis der Öleinnahmen. Eine solche volkswirtschaftliche Umschichtung widerspricht zwar eklatant den Grundlagen neoliberalen Wirtschaftens, ist aber durchaus nichts Ungewöhnliches. Die Abhängigkeit der gesamten Volkswirtschaft von Ölexporten war der Hintergrund, vor dem Ghaddafi trotz seiner zeitweise heftigen antiwestlichen Rhetorik jahrzehntelang als zuverlässiger und vertragstreuer Handelspartner und Lieferant der westlichen Staaten galt.

Die Abhängigkeit von der Ölförderung erwies sich für das libysche Entwicklungsmodell jedoch langfristig als fatal. Als der Absatz stockte und die Preise in den Keller fielen, fehlten dem libyschen Modernisierungsprogramm mit einem Mal die Grundlagen. Mitte der 1990er Jahre waren die Öleinnahmen auf ein Drittel des Standes von 1980 gesunken. Im reichen Libyen wurden plötzlich monatelang keine Gehälter mehr gezahlt, Angestellte mußten schlecht bezahlte Zweitjobs annehmen. Und im florierenden Schwarzmarkt, jenseits des staatlich organisierten Handels, explodierten die Preise.

Wo es nichts mehr zu verteilen gibt, funktioniert auch die erkaufte Loyalität nicht mehr: Die oppositionellen Kräfte erstarkten zunehmend. Entmachtete Armeeoffiziere verbanden sich mit traditionalistischen Clanchefs und gewesenen islamischen Würdenträgern, und vor allem in der ehemaligen Senussi-Hochburg Kyrenaika organisierten sich islamistische Geheimbünde, die von den im benachbarten Ägypten starken Muslimbrüdern gefördert und offenbar auch von westlichen Geheimdiensten insgeheim hochgepäppelt wurden.

Ghaddafi reagierte mit der für ihn typischen Schaukelpolitik und versuchte, das gestörte Gleichgewicht in der libyschen Gesellschaft wiederherzustellen. Putschversuche des Militärs und islamistische Aufstände ließ er brutal niederschlagen – die dabei ausgeübte Repression hob sich allerdings nicht sonderlich von anderen nationalistischen Regimes in der Region ab. Gleichzeitig aber versuchte Ghaddafi, der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er sich ihre Forderungen zu eigen machte: Im weitgehend laizistischen Libyen wurde 1994 die Scharia wieder eingeführt (allerdings kaum angewendet). Die Macht der Revolutionskomitees wurde zurückgedrängt, eine Liberalisierung des Wirtschaftslebens angekündigt und schrittweise ein Drittel der Staatsbetriebe privatisiert.

Die Auslieferung von libyschen Geheim­dienstoffizieren an ein schottisches Gericht wegen des Attentats von Lockerbie (21.12.1988) sowie Entschädigungszahlungen faßte der Westen zutreffend als Kniefall auf. In der Folge wurden Wirtschaftssanktionen und das Waffenembargo ausgesetzt. Ghaddafi war plötzlich ein bevorzugter Partner: Milliardeninvestitionen flossen in die libysche Wirtschaft, veraltete Ölförderanlagen wurden saniert, staatliche Investitionsprogramme zunehmend an westliche Firmen vergeben und das Militär von westeuropäischen Waffenschmieden neu aufgerüstet.

Flankiert wurde Ghaddafis politischer Schwenk durch eine nationalistische Rhetorik, die ausgerechnet die Schwächsten im Lande traf. Von über zwei Millionen Gastarbeitern, die in der Zeit des »libyschen Wirtschaftswunders« ins Land geströmt waren, blieben bis ins Jahr 2006 nur etwa 600000 übrig. Auch Angehörige nicht-arabischer Stämme wurden nun als »Ausländer« betrachtet und ausgewiesen. Zu den finstersten Kapiteln der Ghaddafi-Ära gehören die Pogrome gegen afrikanische Gastarbeiter im Jahre 2000, bei denen über 130 Menschen starben.

Bürgerkrieg und Intervention

Die verstärkte Zusammenarbeit Libyens mit der Europäischen Union äußerte sich auch in der Gewährung von Wirtschaftshilfen. Als Gegenleistung kooperierte Ghaddafi , damals Duzfreund des italienischen Premiers Berlusconi und des österreichischen Rechtsaußen Jörg Haider, mit der italienischen Marine und der europäischen Grenzschutzorganisation Frontex. Libyen war der erste afrikanische Staat, der sich umfassend in das europäische Sicherungssystem zur Migrationsabwehr integrieren ließ. Hunderte von Booten mit afrikanischen Elendsflüchtlingen, die über das Mittelmeer in Richtung Europa strebten, wurden seitdem von der libyschen Marine aufgebracht, Zehntausende Migranten interniert und zurück in Richtung Hunger und Bürgerkriegs­chaos abgeschoben. Allein im Jahre 2006 wurden von der libyschen Regierung 60000 illegale Einwanderer in Lagern festgehalten.

Ghaddafis Annäherung in Richtung Westen hatte ihre Hauptursache in der seit den 1990er Jahren unübersehbaren Stagnation. Mittels der Wirtschaftsreformen wurde ein bescheidener Aufschwung erreicht – Libyen war bis zum Ausbruch der Unruhen wieder der weltweit achtgrößte Ölproduzent. Außerdem baute das Land dank der sprudelnden Öleinnahmen seine Schulden fast vollständig ab. Die wirtschaftspolitische Öffnung führte jedoch dazu, daß die libysche Gesellschaft sozial stark ausdifferenziert wurde. Durch ein Privatisierungsprogramm wurde nicht der propagierte »Volkskapitalismus« geschaffen. Statt dessen ging ein großer Teil der nunmehr privaten Unternehmen an westliche Konzerne, andere gerieten in die Hände einer Schicht privilegierter Angehöriger der Staatsbürokratie.

Korruption war in Libyen trotz mehrerer Gegenkampagnen während der gesamten Ghaddafi-Ära verbreitet. Mit dem Entstehen eines privaten Wirtschaftssektors wurde die zuvor illegale Bereicherung jedoch faktisch legalisiert, wobei insbesondere Angehörige von Ghaddafis Familien­clan mit gutem Beispiel vorangingen. Mit der hemmungslosen Selbstbedienung einer privilegierten Oberschicht am Staatsvermögen entstand jedoch auch eine zunehmend verarmte Schicht.

Durch die Privatisierung eines großen Teils der Staatsbetriebe stieg die Erwerbslosigkeit rapide an und betrug zuletzt an die 30 Prozent. Insbesondere die jüngere Generation sah für sich keine Perspektive mehr, die Jugendarbeitslosigkeit lag bei 40 bis 50 Prozent. Dies und die ständig steigenden Lebenshaltungskosten verbitterten Teile der Bevölkerung, während die neureiche Oberschicht nicht genug bekam und sich nach dem Wohlstand der Golf-Emirate sehnte. Libyens westlichen Partnern gingen wiederum die bereits eingeleiteten Reformen nicht weit genug. Sie erwarteten eine Streichung aller Subventionen sowie einen vollständigen Rückzug des Staates aus der Wirtschaft. Noch im Frühjahr 2010 sicherte Ghaddafi zu, in den Folgejahren die gesamte Wirtschaft der Kontrolle privater Investoren zu übergeben. Dazu sollte es aber nicht mehr kommen.

Um den vom Westen erhobenen Forderungen nach politischer Liberalisierung nachzukommen, wurden in den Jahren 2006 und 2009 Amnestien erlassen. Dies erwies sich als ein verhängnisvoller Fehler: Zahlreiche inhaftierte Islamisten kamen so auf freien Fuß und verstärkten die Reihen der Opposition.

Angesichts der fortdauernden Krise der libyschen Gesellschaft traf Ghaddafi mehrere Entscheidungen, die ihn vermutlich das Vertrauen seiner westlichen Partner kosteten. In Verhandlungen mit der italienischen Regierung forderte er ultimativ eine Erhöhung der Wirtschaftshilfe und drohte, andernfalls die Abwehr afrikanischer Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer einzustellen. Im Jahre 2009 verstaatlichte Libyen Eigentum der kanadischen Ölfirma Verenex. Aus Sicht der Ölindustrie und des Westens war Ghaddafi nun nicht mehr tragbar. Man lauerte nur noch auf eine günstige Gelegenheit, ihn loszuwerden.

Trotz des im Vergleich zu den Nachbarstaaten immer noch vorhandenen Wohlstands der Bevölkerung war es nur folgerichtig, daß Anfang 2011 die Welle von Zusammenbrüchen repressiver Regimes in der arabischen Welt auch auf Libyen überschwappte. Auslöser waren soziale Forderungen der städtischen Unterschicht, Proteste gegen Willkür und Korruption und hauptsächlich von Gruppen junger Intellektueller formulierte Forderungen nach Demokratisierung und Einhaltung elementarer Menschenrechte. Nach Angriffen revoltierender Jugendlicher auf öffentliche Einrichtungen reagierten Polizei und Geheimdienst in gewohnter Manier.

In der Kyrenaika nutzten der islamistische Untergrund und mit Ghaddafis Herrschaft unzufriedene Stammesführer die Situation, um in verschiedenen Städten die Macht an sich zu reißen. Daß die unter der Decke der Volks-Dschamahirija offiziell geeinte libysche Nation tatsächlich tief gespalten war, zeigte sich auch daran, daß Teile von Militär und Staatsbürokratie umgehend zu den Aufständischen überliefen. Mit den ursprünglichen Protesten hatte der Machtwechsel in der Kyrenaika allerdings nur mittelbar zu tun – so war von den anfangs geäußerten sozialen Forderungen sehr schnell keine Rede mehr. Die derzeit in Bengasi residierende Übergangsregierung besteht hauptsächlich aus vom Westen ausgehaltenen Exilpolitikern und neoliberal eingefärbten Wirtschaftsfunktionären, denen die Privatisierungswelle der letzten Jahre nicht weit genug ging, sowie unzufriedenen Stammesführern und radikalen Islamisten. Die einzige Gemeinsamkeit dieses äußerst heterogenen Bündnisses besteht in der Forderung nach dem Sturz Ghaddafis.

Die Mehrheit des Militärs und verschiedene Stämme Tripolitaniens und des Fessan hegen allerdings für dieses zusammengewürfelte Oppositionsbündnis kaum Sympathien. Sie stehen lieber loyal zum Regime oder wahren zumindest Neutralität. Nach einer Phase der Stabilisierung schien Ghaddafis Militär die abtrünnigen Städte des Ostens zurückzuerobern. Doch das militärische Eingreifen des Westens wendete das Blatt– derzeit (Mitte August 2011 – d. Red.) scheint sich eher ein Sieg der Aufständischen abzuzeichnen oder aber ein militärisches Patt von langer Dauer.

Daß in Gestalt der rechtsgerichteten Premiers Nicolas Sarkozy und Silvio Berlusconi ausgerechnet zwei Politiker maßgeblich den Sturz Ghaddafis betrieben, die zuvor am engsten mit ihm zusammengearbeitet hatten, ist ein gelungener Treppenwitz der Geschichte. Es mag die Gier nach den libyschen Ölvorkommen sein, die diese Staatschefs zum militärischen Abenteuer bewog – oder auch der Wunsch nach einer späten Revanche für die im vorigen Jahrhundert verlorenen Kolonialkriege.

Warum Ghaddafi sich nicht, wie die gestürzten Diktatoren von Tunesien und Ägypten, beizeiten davonmachte, als die Protestwelle Libyen erreichte, darüber kann man nur mutmaßen. Vielleicht lieferte er eine grandiose Fehleinschätzung der Lage, als er hoffte, das Ruder noch einmal herumreißen und seine Macht behaupten zu können. Oder es mag ihn das Bewußtsein darüber geführt haben, daß er ausgespielt hat und die sogenannte internationale Gemeinschaft ihn keineswegs ungeschoren davonkommen lassen wird. Möglicherweise möchte der langjährige Politschauspieler der Welt einen grandiosen Abgang vorführen: ein heroisches Ende inmitten letzter Getreuer in den Trümmern des zerbombten Palastes. Oder es kommt wieder der Antiimperialismus seiner Jugendzeit zum Vorschein: Ghaddafi will nach dem Beispiel seines Großvaters bis zuletzt Widerstand leisten gegen den Kolonialismus und dessen einheimische Helfershelfer.

Ausblick

Der blutige, partielle Zusammenbruch des Ghaddafi-Regimes entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Krieg um das Öl im Land. Es ist kein Zufall, daß die westlichen Staaten sehr schnell in den libyschen Bürgerkrieg eingriffen; bei den Umstürzen in Tunesien und Ägypten wurde dies nicht einmal im Ansatz erwogen. Ghaddafi galt als unsicherer Kantonist, dem man seine antiimperialistische Vergangenheit und seine scheinbar unberechenbaren politischen Schwenks übelnahm. In einem Regimewechsel sehen der Westen und seine Ölkonzerne eine gute Gelegenheit, sich die im Staatsbesitz befindlichen Teile der libyschen Wirtschaft anzueignen und das noch immer halbwegs funktionierende Sozialsystem zu zerschlagen. Ob diese Rechnung aufgeht, ist allerdings eher fraglich. Die nun schon seit Monaten andauernden Kämpfe ließen die Ölförderung massiv einbrechen. Und Teile der Anti-Ghaddafi-Allianz scheinen kaum gewillt, die von ihnen kontrollierten Ölvorkommen für ein Spottgeld zu verscherbeln.

Der sogar in linken Kreisen bejubelte »demokratische Aufbruch« in Libyen dürfte sich für die Bevölkerung langfristig eher fatal auswirken. Nicht nur, weil die meisten Rebellen alles andere als Demokraten sind und der Aufstand von blutigen Pogromen gegen nicht-libysche Gastarbeiter flankiert wurde. An den unter Ghaddafi begangenen Grausamkeiten und Menschenrechtsverletzungen gibt es nichts schönzureden. Dennoch handelt es sich bei seinem Regime um einen Rest des antikolonialen Aufbruchs der 1960er Jahre, der in kolonial heruntergewirtschafteten Territorien eine nachholende Modernisierung in Gang brachte. Eine Demokratisierung der libyschen Gesellschaft, wie sie vom Westen offiziell propagiert wird, könnte nur auf Grundlage eines neuen Modernisierungsschubs erfolgen, für den aber derzeit überhaupt nichts spricht. Der jetzt tobende Bürgerkrieg ist kein Kampf zwischen Diktatur und demokratischer Opposition, sondern primär ein simpler Verteilungskampf um die Reste des gescheiterten Modernisierungsversuchs. Die vom Westen angestrebte neokoloniale Inbesitznahme der Ölfelder dürfte den bereits begonnenen Prozeß der Entstaatlichung Libyens eher beschleunigen und einen schnellen Rückfall der libyschen Gesellschaft in die vormoderne Barbarei einläuten.

Sollten die mit Rückendeckung der westlichen Staatenallianz agierenden Rebellengruppen siegen, wird dies den Bürgerkrieg schwerlich beenden. Der nächste Konflikt zwischen Anhängern islamistischer Gruppen und abtrünnigen Wirtschaftsfunktionären der Ghaddafi-Ära ist bereits ausgemacht – antiwestlicher Fundamentalismus ist mit neokolonialem Ausverkauf kaum zu vereinbaren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es zu Verteilungskämpfen zwischen den Clans kommen, von denen jeder einen möglichst großen Happen vom Ölkuchen abbekommen will. So könnte auch der Import libyschen Öls für die Abnehmer zu riskant werden.

Sowohl die sich abzeichnende Auflösung Libyens in vormoderne Stammesterritorien als auch eine mögliche Besetzung des Landes durch westliche Militärs würden letztlich in einem blutigen Chaos münden, verglichen mit dem selbst die repressivsten Perioden der Ghaddafi-Herrschaft als friedlich und zivilisatorisch durchgehen können – die Invasionen im Irak, in Afghanistan und Somalia haben dies bewiesen. Die Zukunft wird für die libysche Bevölkerung nicht rosig aussehen. Eher pechschwarz.

Aus: Fritz Edlinger (Hg.), Libyen. Hintergründe, Analysen, Berichte. Erscheint Anfang Oktober im Promedia Verlag, Wien, ca. 224 S., ca.15,90 Euro

* Dieser Beitrag erschien in zwei Teilen in der "jungen Welt" vom 27. und 29. August 2011


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