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Kein "arabischer Frühling"

Kolonialkrieg gegen Afrika - Der Krieg gegen Libyen

Von Joachim Guilliard *

Teil I: Über den Charakter der Revolte und die Opposition im Land

In der Nacht zum 17. Juli erschüttern zwei Stunden lang die Abwürfe von rund 70 Bomben mehrere Wohnviertel in Tripolis. Die Hochhäuser in der ganzen Stadt erzittern wie bei einem Erdbeben, viele Anwohner flüchten voller Angst auf die Straße. Zahlreiche Gebäude werden zerstört und die Bewohner unter den Trümmern begraben – seit 120 Tagen ist dies nun Alltag in Libyen. Das besonders schwere Bombardement an diesem Sonntagmorgen war offenbar die Antwort der NATO auf die Großdemonstration vom Freitag (22. Juli), wo erneut Hunderttausende gegen den NATO-Krieg protestierten und ihre Unterstützung für die Regierung demonstrierten.

Seit über vier Monaten führen Frankreich, Großbritannien und die USA nun schon mit Unterstützung der NATO Krieg gegen die »Sozialistische Libysch-Arabische Dschamahirija (dt.: Herrschaft der Massen)« – mit dem erklärten Ziel, das derzeitige Regime zu stürzen. Seit 120 Tagen gehen Tag für Tag und Nacht für Nacht schwere Bomben und Raketen auf libysche Städte nieder. Dennoch wird die neueste Aggression gegen ein Land des Südens in der westlichen Öffentlichkeit nicht als Krieg wahrgenommen. Gingen bei den vorangegangen Kriegen gegen Jugoslawien, Afghanistan und den Irak Zehn- und Hunderttausende auf die Straße, so regt sich gegen die Zerstörung des nordafrikanischen Landes im Westen kein nennenswerter Protest.

Viele, auch in der Linken, halten den Aufstand in Libyen immer noch für eine Fortsetzung des »arabischen Frühlings« und stehen hinter den als »demokratische Opposition« idealisierten »Rebellen«. Vorbehaltlos übernahmen die meisten das von der Kriegsallianz in kürzester Zeit erschaffene Feindbild. Hartnäckig hält sich– ungeachtet aller historischen Erfahrungen – die Hoffnung, die NATO würde eine fortschrittliche Entwicklung im Land herbeibomben.

Außerhalb Europas und Nordamerikas stößt der Krieg auf breite Ablehnung. Hier sind die meisten davon überzeugt, daß er nicht zum Schutz der Zivilbevölkerung oder für Demokratie geführt wird, sondern für den unmittelbaren Zugriff auf die libyschen Öl- und Gasvorräte. Die parallele militärische Intervention Frankreichs in der Elfenbeinküste und die forcierte Ausweitung der militärischen Präsenz der USA in Afrika deuten zudem auf Ziele hin, die darüber hinausgehen: die Sicherung und Ausweitung westlicher Dominanz auf dem gesamten afrikanischen Kontinent.

Es begann mit einer Lüge

Wie jeder Krieg von NATO-Staaten begann auch dieser mit einer großen Lüge. Der Ruf nach einer Flugverbotszone über Libyen wurde damit begründet, Machthaber Muammar Al-Ghaddafi würde die Luftwaffe gegen friedliche Demonstranten einsetzen und die »eigene Bevölkerung abschlachten«. Doch selbst US-Verteidigungsminister Robert Gates gab vor Kriegsbeginn zu, dafür keine Beweise gesehen zu haben. Weder die UNO noch die westlichen Botschaften in Tripolis konnten irgendwelche Belege vorweisen. Mittlerweile sind die Vorwürfe eindeutig widerlegt.[1] Auch für das vielbeschworene Blutbad, das bei der Einnahme der Rebellenhochburg Bengasi durch Regierungstruppen drohe, gab es keine ernstzunehmenden Hinweise. Libysche Truppen hatten in den Tagen vor der Verabschiedung der UN-Resolution mehrere Städte zurückerobert. In keiner war es dabei zu Massakern gekommen, und es gab keinen Grund anzunehmen, daß dies in Bengasi anders sein sollte.

Eine entscheidende Rolle bei der Manipula­tion der öffentlichen Meinung spielte der Satellitensender Al-Dschasira, dessen gute Reputation wesentlich zum Erfolg der Propaganda beitrug. Dieser wertete, so der algerische Politologe Djamel Labidi, in erster Linie die von den Aufständischen präsentierten Meldungen zu Nachrichten auf. In einer Zeit, in der wir ständig mit Live-Bildern von den Schauplätzen des Geschehens informiert werden, traten dabei plötzlich »Zeugen« auf, die man nur hört, ohne sie zu sehen, und die ihre Eindrücke schildern, ohne daß sie mit Bildern unterlegt werden.

In der Nacht vom 17. auf den 18. März, d.h., unmittelbar nach dem Sicherheitsratsbeschluß, der die »Willigen« zur Intervention ermächtigte, inszenierte Al-Dschasira beispielsweise ein regelrechtes Drama. »Augenzeugen« erschienen, die behaupteten, die libysche Regierung würde, entgegen ihrer Zusage, die verordnete Waffenruhe nicht respektieren, Regierungstruppen seien »in die Vororte von Bengasi eingedrungen«. Gleich darauf interviewte Al-Dschasira die US-Botschafterin Susan Rice, um ihr mit großer Empörung vorzuwerfen, daß nichts unternommen würde, den bedrohten Rebellen zu helfen, »bevor es zu spät ist«. Minuten später verkündete Rice, als habe sie auf nichts anderes gewartet, unter Berufung auf Al-Dschasira, daß Ghaddafi den Waffenstillstand gebrochen habe. Andere Medien übernahmen diese Nachricht sofort wie eine offizielle Verlautbarung. Deren Reporter hatten selbst nichts gesehen, verfügten über keinerlei Bilder, befanden sich aber »vor Ort« und verliehen dadurch ihren Aussagen die nötige Glaubwürdigkeit. Der Druck durch die Medien nahm am folgenden Tag immer mehr zu, passend zum gleichzeitigen Gipfeltreffen in Paris, auf dem der Beginn von Luftangriffen beschlossen wurde.

Weitere Propagandalügen – wie etwa die »angeordneten Massenvergewaltigungen« unter Einnahme von Viagra (!) oder der Einsatz von Streubomben durch libysche Truppen – folgten. Obwohl sie meist rasch widerlegt wurden, prägen sie nach wie vor das Feindbild im Westen.

Anders als in Tunis und Kairo

Die Entwicklung in Libyen ist mit den Revolten in den anderen arabischen Ländern nicht vergleichbar. In Tunesien und Ägypten war es eine überwiegend gewaltfreie Oppositionsbewegung, die allein durch ihre zahlenmäßige Stärke und ihre enorme Ausdauer die Machthaber in Bedrängnis brachte, die Zentren der Bewegung waren überall – mit Ausnahme des gleichfalls atypischen Syrien – die Hauptstädte. In Libyen konzentrierten sich die verhältnismäßig kleinen Demonstrationen mehr auf den Ostteil des Landes.

In den anderen arabischen Ländern waren es der soziale Niedergang in Folge der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die materielle Not und die völlige Perspektivlosigkeit, die die Leute auf die Straße trieben. Im Vordergrund standen soziale Forderungen. In Libyen hingegen mit seinem relativen hohen Lebensstandard leidet kaum einer materielle Not.[2] Im wesentlichen geht es hier um die Verteilung von Einfluß und Macht, um Rivalitäten zwischen Stämmen und zwischen der unter der Monarchie dominierenden, religiös-konservativen Kyrenaika im Osten und dem bevölkerungsreicheren Tripolitanien im Westen. Demokratie und Menschenrechte sind dabei höchstens Rhetorik.[3]

Zweifelsohne gingen auch in Libyen junge Leute, Anwälte und Akademiker gewaltfrei mit der Forderung nach mehr Freiheit, mehr Demokratie auf die Straße, veröffentlichten Manifeste oder bildeten Arbeitsgruppen, die eine demokratische Verfassung ausarbeiten wollten. Sie waren aber nie besonders zahlreich und in dem Maß, wie die militärischen Auseinandersetzungen eskalierten, wurden sie von den bewaffneten Aufständischen, den abtrünnigen Regierungspolitikern und der gut organisierten Exilopposition an den Rand gedrängt. Mit Beginn der NATO-Intervention waren sie endgültig aus dem Spiel.

Bereits Tage vor den Zusammenstößen am 17.Februar, die als Auslöser der Revolte gelten, hatten oppositionelle Kräfte schon zu massiver Gewalt gegriffen. Am 15.2. waren in Zintan und Al-Baida Polizeistationen in Brand gesetzt worden. Auch in den folgenden Tagen wurden vielerorts Polizeireviere und andere öffentliche Gebäude niedergebrannt. In der Großstadt Al-Baida wurden fünfzig als Söldner bezeichnete Schwarzafrikaner exekutiert und in Bengasi zwei Polizisten gelyncht. Bewaffnete Islamisten stürmten schließlich in Derna ein Armeedepot und den daneben liegenden Hafen, nahmen eine größere Zahl von Soldaten und Zivilisten als Geiseln und drohten sie zu erschießen, falls die libysche Armee sich nicht aus der Stadt zurückziehe.

Es waren diese Angriffe, gegen die die libysche Polizei und Armee mit Waffengewalt vorgingen. In westlichen Ländern hätte man mit Sicherheit nicht zurückhaltender auf eine solche massive Gewalt reagiert.

Was zunächst als Protestbewegung erschien, ging auf diese Weise unmittelbar in einen bewaffneten Aufstand über. Erste Anhaltspunkte über dessen Charakter gaben die sich bald häufenden Berichte über brutale Angriffe von Rebellen auf schwarzafrikanische Fremdarbeiter. »Bekanntlich versucht Ghaddafi wie kein anderer regionaler Führer, das Image des arabischen Rassismus zu durchbrechen«, so Gunnar Heinsohn, Autor des »Lexikons der Völkermorde« in der FAZ. Seine »Bemühungen um Schwarze« komme diese jetzt allerdings teuer zu stehen. Eine Million afrikanische Flüchtlinge und Tausende afrikanische Wanderarbeiter sind nun in Gefahr, ermordet zu werden.[4] Als Vorwand für die Übergriffe dient meist der Verweis auf schwarze Söldner in den Reihen der Regierungstruppen. Opfer sind jedoch meist einfache Arbeiter und Flüchtlinge. Ein türkischer Bauarbeiter berichtete der britischen BBC, daß er mitansehen mußte, wie siebzig bis achtzig Arbeiter seiner Firma aus dem Tschad mit Baumscheren und Äxten niedergemetzelt wurden. Aktuell sind u.a. die Bewohner von Tawergha von Gewalt und Vertreibung durch Rebellenmilizen bedroht. Hier, 40 Kilometer südlich der unter der Kontrolle von Aufständischen stehenden Hafenstadt Misurata, wohnen– ein Erbe des Sklavenhandels im 19. Jahrhundert– überwiegend schwarze Libyer.

Von langer Hand geplant

Der Aufstand war keineswegs, wie meist angenommen, spontan, sondern schon seit langem geplant. Die Protestbewegungen in den arabischen Ländern waren nicht die Ursache, sondern nur ein willkommener Aufhänger.

Eine zentrale Rolle spielt dabei die Nationale Front für die Rettung Libyens (NFSL). Diese wurde bereits 1982 mit israelischer und US-amerikanischer Unterstützung gegründet, um Ghaddafi zu stürzen. Unter Führung des zur CIA übergelaufenen Kampfgefährten Ghaddafis, Khalifa Haftar, legte sie sich 1988 mit der Libyschen Nationalarmee (LNA) auch einen militärischen Arm zu. Die von den USA ausgerüstete kleine Untergrundarmee unterhielt in Virginia ein Trainingscamp und führt seit den 1990er Jahren Aufstandsversuche und Terroraktionen in Libyen durch. 2005 gründete sie mit sechs kleineren Gruppen die Dachorganisation »Nationale Konferenz der Libyschen Opposition« – Vorbild war hier offensichtlich die Irakische Nationalkonferenz von Ahmad Tschalabi (»Irakischer Nationalkongreß«), während die NFSL analog Iyad Allawis »Irakischer Nationaler Eintracht« gestrickt wurde. Beide spielten und spielen eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung des Irak-Krieges und der folgenden Besatzung.

Die NFSL war treibende Kraft hinter den Demonstrationen vom 17. Februar, zu der sie über Facebook und ähnliche Netzwerke mobilisierte. Haftar reiste unmittelbar danach nach Bengasi, um die militärische Führung des Aufstands zu übernehmen.

Die NFSL nutzte sofort ihre guten Kontakte zu den westlichen Politikern und Medien und prägte so maßgeblich die Berichterstattung im Westen über die Auseinandersetzung. Ihr Generalsekretär Ibrahim Sahad zieht seither weiterhin von Washington aus die Fäden, während andere führende Mitglieder eine maßgebliche Rolle im sogenannten ›Nationalen Übergangsrat‹ spielen. Dieser Rat wird, ohne daß nach seiner Legitimation gefragt wird, vom Westen als Repräsentant der gesamten Opposition im Land angesehen und von der Kriegsallianz sogar offiziell als neue libysche Regierung anerkannt.

Auch Frankreich und Großbritannien hatten ihre Vorbereitungen offensichtlich schon lange vor dem 17. Februar begonnen. So trafen sich Vertreter der französischen Regierung im Herbst letzten Jahres in Paris mit abtrünnigen libyschen Politikern, darunter der ehemalige Protokollchef und enge Vertraute Ghaddafis, Nouri Mesmari. Vermutlich nahmen die Franzosen auch Kontakt zu libyschen Offizieren in Bengasi, wie dem Luftwaffenoberst Abdallah Gehani, auf, die mit Mesmari konspirierten und einen Aufstand vorbereiteten. All diese Dissidenten gehören seit Februar zur Führung der Aufständischen.

Im November 2010 verabredeten Paris und London auch das gemeinsame Manöver »Südlicher Mistral«, bei dem die Luftwaffen beider Länder die Bekämpfung einer »südländischen« Diktatur üben sollten. Die Vorbereitungen zu der für den 21. März 2011 angesetzten Übung gingen dann nahtlos in die »Operation Morgendämmerung« über – dem am 19. März von französischen Kampfjets eingeleiteten Luftkrieg gegen Libyen. Bereits einen Monat zuvor waren nach Informationen der britischen Zeitung Daily Mail bereits 250 britische Elitesoldaten nach Libyen eingedrungen – d.h. gleich nach Beginn des Aufstands oder sogar schon davor.

Wirtschaftsliberale und Exilpolitiker

Aus welchen Kräften sich im einzelnen die Anti-Ghaddafi-Koalition zusammensetzt, an deren Seite die NATO bombt, ist – wie auch westliche Politiker und Medien häufig beklagen – nicht zu überblicken. Die Personen, die im Zusammenspiel mit der westlichen Kriegsallianz die Führung des Aufstandes übernommen haben und nach deren Willen die Macht im Land übernehmen sollen, sind jedoch sehr gut bekannt. Es sind Exilpolitiker und ehemalige Regierungsmitglieder, die alle seit langem engen Kontakt mit Washington, London und Paris halten.

An der Spitze steht, als Chef der »Exekutive« des Übergangsrats, Mahmoud Dschibril, der sich bis dahin in der libyschen Regierung als Leiter des Ausschusses für wirtschaftliche Entwicklung um einen radikalen Privatisierungskurs bemüht hatte. Zuvor hatte er lange Zeit an US-amerikanischen Universitäten wirtschaftspolitische Planung gelehrt und war erst 2005 nach Libyen zurückgekehrt. Seinen vertrauten Kontakt zur US-Regierung hatte er, wie die von Wikileaks veröffentlichten Botschaftsdepeschen enthüllten, nie aufgegeben. Darüber hinaus gilt er auch als enger Freund des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, der den Rat als erster anerkannte.

Neben Dschibril sorgt der frühere libysche Wirtschaftsminister Ali Al-Issawi für die enge Abstimmung der Rebellenführung mit der Kriegsallianz. Al-Issawi verlor das für die Privatisierung zuständige Ressort im Streit um den Umfang der wirtschaftsliberalen Reformen, die er, wie Dschibril, gerne radikaler gestaltet hätte. Ebenso eng verbunden mit Washington und ausgewiesen neoliberal ist der »Finanzminister« in der Gegenregierung, Ali Tarhouni. Er ist langjähriger US-Bürger und lehrte bis zum Beginn des Aufstands an der University of Washington Wirtschaft und Finanzwesen. Seine Frau arbeitet als Anwältin im US-Justizministerium.

Eine wichtige Rolle spielt als Vorsitzender des unter der alten Flagge der Monarchie agierenden Übergangsrates auch der ehemalige Justizminister Mustafa Mohammed Abdul Dschalil. Zum Militärchef avancierte, in Abstimmung mit der Westallianz, Abdulfattah Junis, bis dahin Innenminister und Kommandeur der libyschen Sondereinheiten. Er soll vor allem enge Verbindungen zur britischen Regierung haben. Als »Generalstabschef« ist er nun zuständig für die enge militärische Koordination zwischen den Rebellenmilizen und den Kommandeuren der NATO.[5]

Zum Kreis der Abtrünnigen gehört auch Generalstaatsanwalt Abdul-Rahman Al-Abbar, der kurz nach Junis zu den Rebellen überlief. Somit stehen nun die drei wichtigsten bisherigen Verantwortlichen für die staatliche Repression an der Spitze dessen, was im Westen als demokratische Opposition angesehen wird.

Die drei, die schon beruflich eng verbunden waren, traf die Entwicklung offenbar nicht unvorbereitet. Sie standen vermutlich, wie der ehemalige Protokollchef auch, seit langem mit jenen Kreisen in Verbindung, die den Aufstand planten. Junis hat den Ausbruch der Unruhen vermutlich in seiner Funktion als Innenminister auch direkt gefördert. Nach Angaben eines hochrangigen Polizisten hatten die Sicherheitskräfte bereits am 17. Februar den Befehl vom Hauptquartier in Tripolis erhalten, die Polizeistationen zu verlassen. »Wir wurden aufgefordert, unsere Uniformen auszuziehen und nach Hause zu gehen.«[6]

Schließlich spielt im Hintergrund noch der frühere Chef der Zentralbank Farhat Omar Beng­dara eine entscheidende Rolle. Auch er kommt aus Bengasi und war offensichtlich in die Umsturzpläne eingeweiht. Der wirtschaftsliberale Banker, der wegen seines »Nebenjobs« als Vizepräsident der italienischen Großbank UniCredit sehr oft in Mailand weilte, hatte sich zu Beginn des Aufstands ins Ausland abgesetzt und seine Position genutzt, um den Abzug libyscher Kapitalanlagen aus Europa und den USA solange zu blockieren, bis UN-Sanktionen deren Einfrieren ermöglichten. Er hatte auch engen Kontakt zu Berlusconis Regierung und dürfte dazu beigetragen haben, sie zu überzeugen, trotz der umfangreichen italienischen Geschäfte in Libyen an der Seite der Aufständischen in den Krieg zu ziehen. Auch nach seinem Abgang von der Zentralbank behielt Bengdara seinen Posten bei UniCredit und arbeitet nun an den Plänen zum Aufbau eines neuen Banksystems in der Rebellenhauptstadt Bengasi.

Die militärisch erfahrensten Kämpfer in den Reihen der libyschen Opposition scheinen radikal-islamische Veteranen zu sein, die in Afghanistan und im Irak gegen US- und NATO-Truppen kämpften. Ein Teil von ihnen ist in der Libyschen Islamischen Kampfgruppe organisiert, die bereits in den 1990er Jahren Anschläge in Libyen durchführte. Ihre Hochburg ist die östlich von Bengasi liegende Stadt Derna.

Obskures Gremium

Wohl noch nie haben sich aufständische Kräfte trotz ideologischer Vielfalt und differierenden Interessen derart schnell auf eine Führung geeinigt. Der am 27. Februar gegründete »Nationale Übergangsrat« (NTC: National Transitional Council) sei, so heißt es, von Ad-hoc-Räten der »befreiten Städte« im Osten im Schnellverfahren bestimmt worden. Wahrscheinlicher ist es, daß er schon lange zuvor in enger Abstimmung mit den Regierungen in Washington, Paris und London konzipiert wurde. Allein aus dem engen Kontakt mit diesen bezieht er bis heute seine Autorität.

Das obskure Gremium, von dessen nominell 31 Mitgliedern bisher nur 13 in Erscheinung traten, repräsentiert – wenn überhaupt – nur einen kleinen Teil der Opposition und keineswegs die des gesamten Landes oder gar – wie die NATO-Staaten glauben machen wollen – des »libyschen Volkes«. Der Rat ist zudem zwischen den verschiedenen politischen und militärischen Befehlshabern gespalten, sein Einfluß auf das lokale Geschehen geht kaum über Bengasi hinaus.

Die anderen aufständischen Städte haben ihre eigene Führung, und auch viele bewaffnete Verbände kämpfen auf eigene Faust. Die Rebellen von Brega z.B., die bisher vergeblich versuchten, die Kontrolle über die Stadt zu erlangen, erkennen seine Autorität nicht an. Er würde in keiner Weise Brega repräsentieren, so ihr Sprecher Mohammed Musa Al-Maghrabi. »Uns erscheint der NTC wie eine ausländische Regierung, voller Nepotismus und Korruption.« Er sei wesentlich geschickter dabei, sich Legitimation unter europäischen Regierungen zu verschaffen als in der libyschen Bevölkerung.

Die größte Rebellenmiliz, die »Märtyrerbrigade des 17. Februar«, steht in direkter Opposition zum Übergangsrat wie auch zu den diversen anderen Milizen. Mehrfach kam es, wie die kanadische Zeitung Globe and Mail berichtete, zwischen diesen zu bewaffneten Auseinandersetzungen.

Die libysche Gesellschaft ist stark stammesbezogen und schon daher wenig geneigt, ferne Autoritäten anzuerkennen. Auch das politische System der »Dschamahirija«, der »Herrschaft der Massen« durch eine direkte Demokratie über die lokalen »Basisvolkskongresse«, hat eher eine dezentrale Selbstverwaltung als eine echte nationale Administration gefördert, so der private texanische Informationsdienst Stratfor. »Ironischerweise war es dieses Erbe von Ghaddafis Regime, das den einzelnen östlichen Städten half, rasch lokale Komitees zu bilden und die Verwaltung ihres jeweiligen Gebietes zu übernehmen. Aber es wird Schwierigkeiten schaffen, sollten sie versuchen, wirklich zusammenzukommen. Die Rhetorik ist weit entfernt von einer handfesten Demonstration der Einheit.«[7]

Im Westen hat es, mit Ausnahme von Misrata, nie sonderlich große Demonstrationen gegeben. Seit die NATO bombt, dürften auch viele Gegner Ghaddafis wieder hinter ihrer Regierung stehen. »In Libyen gibt es vielleicht Millionen Menschen«, so der norwegische Friedensforscher Johan Galtung, »die Ghaddafi nicht mögen, aber sehr wohl seine Errungenschaften schätzen.«[8]

Teil II: Kampf um die Reichtümer des Landes und die Dominanz über den gesamten Kontinent

Der neue Krieg der NATO wird von der überwiegenden Mehrheit der Staaten in der Welt abgelehnt. Die meisten Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika sind überzeugt, daß er nicht zum Schutz der Zivilbevölkerung geführt wird, sondern für den unmittelbaren Zugriff auf die libyschen Öl- und Gasvorräte. In Europa herrscht jedoch bei der Einschätzung der Ziele des neuen NATO-Krieges auch bei Linken häufig Konfusion. Viele bezweifeln, daß hinter der Intervention ökonomische und strategische Motive stehen könnten.

Die Tatsache, »daß Ghaddafi Libyen in den Weltmarkt und den neoliberalen Kapitalismus integriert« habe und »von einem Feind des Westens zu einem der verläßlichsten Partner in der Region geworden« sei, schreibt z.B. Ingar Solty in der Zeitschrift Sozialismus, schließe »die Möglichkeit aus, daß es beim Krieg gegen Libyen um dessen »Einreihung in den globalen Kapitalismus« gehe.[9]

Hinter dieser Einschätzung steht ein sehr oberflächlicher Blick auf die Entwicklungen in Libyen. Er ignoriert zum einen die massiven Zwänge, denen Libyen durch die UN-Sanktionen und die Kriegsdrohungen aus Washington ausgesetzt war, und überschätzt die Zugeständnisse an den Westen. Zwar sind alle großen Ölfirmen wieder im Land, doch zu sehr restriktiven Bedingungen. Das libysche Engagement für die afrikanische Einheit und Unabhängigkeit steht den Bemühungen der USA und der alten Kolonialmächte diametral entgegen, ihren Einfluß auszuweiten.

Riesige Ölvorkommen

Mit 46,6 Milliarden Barrel (ein Barrel sind 159 Liter) verfügt Libyen über die größten nachgewiesenen Ölreserven Afrikas und steht weltweit auf Platz acht. Da bisher nur ein Viertel der weiten Flächen des Landes auf Kohlenwasserstoffvorkommen untersucht wurden, sind die Vorkommen vermutlich noch wesentlich größer.

Nur ein Fünftel der bekannten Vorkommen wurde bisher erschlossen, Libyen liegt daher mit einer Fördermenge von etwa 1,7 Millionen Barrel Rohöl am Tag (bpd) hinter Angola und Nigeria. Um seine Reserven nicht zu verschleudern, fördert das Land nur halb so viel wie bis 1969 unter der Monarchie, als die großen westlichen Konzerne die Ölpolitik des Landes bestimmten. Nur in zwei Ländern sieht die Ölbranche das Potential, die Produktion in absehbarer Zeit verdoppeln zu können – in Libyen und im Irak. Libyen plant jedoch lediglich eine Steigerung auf 2,3 Million bpd. Aus Sicht der Ölmultis liegt allein hier schon ein erhebliches, brachliegendes Potential.

Nach dem Sturz des von den USA und den Briten eingesetzten Königs Idris im Jahr 1969 waren nach und nach die meisten ausländischen Unternehmen verdrängt und die Ölproduktion in die Hände der staatlichen Libyschen Nationalen Ölgesellschaft LNOC überführt worden. Dies war besonders für US-amerikanische Konzerne, die bis dahin 87,5 Prozent der Ölproduktion in ihren Händen hielten, ein herber Verlust. Libyen entwickelte sich bald zum Vorreiter der OPEC-Staaten und setzte als erstes Land höhere Preise für sein Öl durch. Innerhalb von zehn Jahren verfünffachten sich nun die Staatseinnahmen. Mit diesen Einnahmen konnte der Staat seinen Bürgern einen relativ hohen Lebensstandard verschaffen, den höchsten Afrikas. Sozialistische Ideen spielten bei allen damaligen Revolutionen eine wichtige Rolle. Libyen setzte sie jedoch wesentlich gründlicher um als andere Länder der Region. Gesundheit und Bildung sind seitdem kostenlos, wichtige Güter und Dienstleistungen werden subventioniert, Alte, Witwen und Waisen erhalten eine Rente, Arbeitslose finanzielle Unterstützung u.v.m.

Es gelang jedoch nicht, Libyens Abhängigkeit vom Erdölexport zu verringern. Niedrige Rohölpreise und die gegen das Land verhängten Sanktionen brachten die Wirtschaft in den 1990er Jahren an den Rand des Ruins. Das Bruttoinlandsprodukt hatte sich am Ende fast halbiert, jegliche Modernisierung der Infrastruktur war blockiert. Die libysche Führung suchte daher nun einen Ausgleich mit dem Westen und machte dabei erhebliche Konzessionen. U.a. lieferte sie 1999 zwei Offiziere an Großbritannien aus, die für den Bombenanschlag auf ein Verkehrsflugzeug über dem schottischen Lockerbie verantwortlich gemacht wurden, obwohl die Beweise dafür äußerst zweifelhaft waren.

Die UN-Sanktionen wurden daraufhin ab 1999 sukzessive gelockert und 2004 vollständig aufgehoben. Im Gegenzug öffnete Libyen seine Öl- und Gasindustrie für ausländische Unternehmen. Mittlerweile sind wieder alle großen US-amerikanischen und europäischen Konzerne der Branche im Land aktiv.

»Knebelverträge« für Konzerne

Die Bedingungen im nordafrikanischen Land sind für ausländische Firmen jedoch sehr rauh. Seit August 2004 werden die Öl- und Gasgeschäfte nach dem neuen sogenannten EPSA-4-System abgeschlossen (EPSA: Exploration and Production Sharing Agreement). Das Vergabeverfahren für die neuen Beteiligungsabkommen wird zwar als sehr transparent gelobt – den Zuschlag erhält derjenige, der sich mit dem geringsten Anteil am geförderten Öl bzw. Gas zufriedengibt –, für westliche Manager wie Bob Fryklund vom US-Multi ConocoPhillips enthalten die Abkommen jedoch die strengsten Konditionen der Welt. Westliche Medien sprechen sogar von »Knebelverträgen«.[10]

Geschäfte sind nach diesem System grundsätzlich nur in Partnerschaft mit LNOC oder anderen staatlichen Unternehmen möglich, die dabei stets die Mehrheitsanteile (meist 60 Prozent und mehr) und somit die Kontrolle behalten. Schon für den Abschluß eines Vertrages sind hohe Zeichnungsgebühren zu entrichten. Bei der zweiten, 2005 durchgeführten Bieterrunde mußten die Interessenten z.B. jeweils 133 Millionen Dollar allein für den Vertragsabschluß hinblättern und Investitionen in Höhe mehrerer hundert Millionen Dollar für Explorationen zusichern. Die Konzerne, die den Zuschlag erhalten, tragen anschließend den größten Teil der Entwicklungskosten eines Ölfelds, die LNOC bleibt jedoch alleinige Eigentümerin.

Generell ist der Anteil der Produktion, den ausländische Firmen für sich behalten können, mit durchschnittlich elf Prozent recht bescheiden. Doch dafür ist das Öl von bester Qualität und liegt sehr nahe bei den europäischen Abnehmern, an die rund 70 Prozent der libyschen Exporte gehen. Der Anteil libyschen Erdöls am Verbrauch der EU-Staaten liegt mittlerweile bei zehn Prozent, in Deutschland sind es sechs Prozent.

Innerhalb von drei Jahren führte die LNOC vier Bieterrunden durch und vergab dabei 52 Verträge an knapp drei Dutzend Gesellschaften aus 20 Ländern. Nicht nur die großen US-Konzerne zogen wieder in Libyen ein, sondern weit mehr noch russische, chinesische und andere asiatische Firmen. Die ergiebigsten Ölfelder blieben zum großen Ärger der Multis weiterhin ausschließlich der LNOC und ihren Töchtern vorbehalten.

Die Hoffnungen, daß Ausländern auch noch diese Filetstücke zugänglich gemacht werden, erfüllten sich nicht. Nach der vierten Vergaberunde entschied die LNOC, vorerst keine neue durchzuführen, sondern statt dessen die bestehenden Verträge nachzuverhandeln und dabei die älteren dem strengeren EPSA-4-Standard anzupassen – für die Ölfirmen waren dies schwere finanzielle Rückschläge.

Petro-Canada mußte z.B. für die Umstellung aller Verträge eine Abschlußgebühr von einer Milliarde Dollar bezahlen sowie Investitionen in Höhe von knapp vier Milliarden Dollar für die Erneuerung alter und die Erforschung neuer Öl- und Gasvorkommen bereitstellen. Gleichzeitig mußten die Kanadier die Reduktion ihres Anteils am Output auf zwölf Prozent akzeptieren. Anderen Firmen erging es nicht besser.

Die großen Konzerne versuchten sich natürlich dagegen zu wehren. Letztlich hatten sie jedoch wenig in der Hand. Da sie bereits erhebliche Summen in die Erkundung gesteckt hatten, kam ein Ausstieg nicht mehr in Frage. Die LNOC drohte zudem damit, die weitere Entwicklung der Ölförderung zukünftig auch allein durchzuführen.

Für weiteren Unmut sorgten vor zwei Jahren öffentliche Überlegungen Ghaddafis, angesichts sinkender Mineralölpreise einige Einrichtungen internationaler Ölkonzerne wieder zu verstaatlichen. Auch die Mitteilung der LNOC an die im Land aktiven US-Konzerne im März letzten Jahres, Washingtons erneut unfreundliche Politik könne negative Auswirkungen auf ihre Geschäfte im Lande haben, verunsicherte die Branche, deren Investitionsvolumen in Libyen mittlerweile auf über 50 Milliarden Dollar geschätzt wird.

Liberalisierung vs. Libyenisierung

Zur gleichen Zeit kamen aus Tripolis aber auch andere Töne. Führende Kader aus dem »Ausschuß für Privatisierung und Investitionen« kündigten z.B. gleichfalls im März 2010 an, bis 2020 die Hälfte aller Staatsbetriebe in die Hände privater Investoren übergeben zu wollen.

In der libyschen Führung herrschen offensichtlich zwei Tendenzen vor: Die eine setzte auf eine stärkere Privatisierung und wollte mit besseren Konditionen für westliche Konzerne und Banken mehr ausländisches Kapital anlocken. Die andere wollte die Kontrolle über die Ressourcen des Landes behalten und propagierte eine stärkere »Libyenisierung« der Ölproduk­tion.[11] Letztere behielt, gestützt auf die Stimmung in der Bevölkerung, meist die Oberhand.

Trotz vollmundiger Ankündigungen umfassender Privatisierungspläne, mit denen große Erwartungen in der westlichen Geschäftswelt geweckt wurden, ist außerhalb des Öl- und Gassektors nicht viel passiert. 2000 hatte die libysche Führung zwar angekündigt, daß der Staat sich aus der Industrieproduktion zurückziehen wolle und im November 2003 auch eine Liste der ersten 360 Privatisierungskandidaten veröffentlicht. Die sich infolge steigender Ölpreise rasch entspannende Finanzlage des Landes nahm dem Verkauf von Staatsbetrieben jedoch jegliche Dringlichkeit. Bis 2010 waren erst 110 Staatsbetriebe tatsächlich privatisiert worden.[12] Zum größten Teil waren es kleinere Firmen, die an libysche Unternehmen oder Tascharukiayyas (Genossenschaften) verkauft wurden.

Selbstverständlich machten ausländische Konzerne blendende Geschäfte im Land, das nach langen Embargojahren einen großen Nachholbedarf hatte und in großem Stil Infrastrukturprojekte vorantrieb. Siemens z.B. setzte in den letzten Jahren mehrere hundert Millionen Euro mit Schaltanlagen und Gasturbinen sowie Steuerungssystemen, Pumpen, Motoren und Antrieben für das Wasserversorgungsprojekt »Great-Man-Made-River« um. Allein im Geschäftsjahr 2010 betrug der Umsatz mit libyschen Kunden 159 Millionen Euro. Ein Einstieg in libysche Firmen und Banken blieb ausländischem Kapital jedoch weitgehend verwehrt.

Wirksamer Widerstand gegen die Privatisierungspläne kam jedoch nicht allein von alten Kadern in der Regierung und Verwaltung, sondern aus der gesamten Gesellschaft. Bereits im September 2000 erschien in Al-Zahf Al-Akhdar, einer Zeitschrift, die als Sprachrohr der Basisvolkskongresse angesehen wird, ein Bericht, in dem die wachsende Geschäftstätigkeit ausländischer Firmen im Land scharf kritisiert und als Gefahr für die libysche Gesellschaft dargestellt wurde. Die öffentliche Kritik an der Liberalisierungspolitik verschärfte sich 2005, als einige Subventionen abgebaut und Importzölle abgeschafft wurden. Der reformorientierte Ministerpräsident Schukri Ghanem wurde daraufhin abgesetzt und mußte sich mit dem Chefposten der LNOC begnügen. Die Ölmultis wurden nun angewiesen, alle Jobs, für die keine speziellen Kenntnisse nötig sind, an Libyer zu vergeben, und zwar zu denselben Bedingungen wie für ausländische Angestellten. Zusätzlich wurden sie gesetzlich zu deren Weiterbildung verpflichtet.

Eine klare Absage erhielten die Pläne einer Liberalisierung der Wirtschaft und des Abbaus von Subventionen schließlich auch, wie FAZ-Korrespondent Christoph Ehrhardt aus Tripolis berichtete, von den Basisvolkskongressen bei deren Sitzungen im Februar 2009.[13]

Die Befürworter neoliberaler Reformen waren zunehmend frustriert. Ihre entschiedensten Verfechter, wie Mahmud Dschibril und Ali Al-Issawi, sitzen nun in den führenden Positionen der Gegenregierung. Die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren sie jedoch offensichtlich nicht. Ähnlich wie 1999 gegen Serbien dienen der Krieg, die Sanktionen und die immer umfassendere Zerstörung der Infrastruktur daher auch dazu, deren Widerstand zu brechen.

Lukrativ: Banken und Wasser

Im Visier westlicher Banken und Konzerne liegt dabei nicht nur die Petrolindustrie. Aufgrund seiner außerordentlich hohen Liquidität streben sie z.B. auch schon lange einen Einstieg in den libyschen Banksektor an. Während führende Ökonomien der Welt mit riesigen Defiziten zu kämpfen haben, die ihre Währung schwächen und ihnen die Neuaufnahme von Krediten erschweren, monierte der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem Jahresbericht 2010 zu Libyen, das Land sitze auf einem Überschuß von 150 Milliarden Dollar.

Hier ist Abhilfe schon in Sicht. Gleich nach Verabschiedung der UN-Resolution 1973 gründete der Übergangsrat in Bengasi parallel zu einer neuen »Libyschen Ölgesellschaft« auch die neue »Zentrale Bank von Libyen«. So wie die neue Ölgesellschaft dazu bestimmt ist, der staatlichen LNOC die Geschäfte in den vom Übergangsrat kontrollierten Gebieten zu entreißen, soll die neue Finanzinstitution offenbar, wie Äußerungen westlicher Politiker nahelegen, das eingefrorene Auslandsvermögen des Landes übernehmen.

Während die libysche Zentralbank zum Ärger der westlichen Finanzwelt völlig unabhängig von ausländischen Banken und dem Internationalen Währungsfonds ist, wird die neue von Anfang an unter den Fittichen europäischer Großbanken stehen. Vertreter des britischen Bankgiganten HSBC, der den größten Anteil am libyschen Auslandsvermögen verwaltet, eilten als erste nach Bengasi, um den Aufbau der Rebellenbank zu betreuen. Die italienische Großbank UniCredit, die Nummer zwei in Europa, folgte auf dem Fuße. Ihr Vizepräsident ist der bisherige Chef der libyschen Zentralbank, Farhat Omar Bengdara, der sich gleichzeitig auch um den Zugriff der selbsternannten Gegenregierung in Bengasi auf das eingefrorene libysche Auslandsvermögen bemüht.

Schließlich weckt sicherlich auch das gewaltige Wasserprojekt »Great Man-Made River«, durch das die Küstenstädte mit den unter der Sahara liegenden Grundwasservorräten versorgt werden, schon lang Begehrlichkeiten. 4000 Kilometer Pipelines mit dem Durchmesser von Straßentunneln bringen heute bereits 6,5 Millionen Kubikmeter pro Tag zu den Verbrauchern. Aktuellen Schätzungen zufolge reichen die gigantischen Wassermengen, mit denen man das Territorium Deutschlands 1000 Meter unter Wasser setzen könnte, noch mehrere tausend Jahre lang.

Libyen hat das Projekt, in das bereits über 25 Milliarden Dollar flossen, bisher vollständig in Eigenregie betrieben und ohne ausländisches Geld finanziert – schon das, so der brasilianische Journalist Pepe Escobar, war aus Sicht westlicher Banken und Konzerne »ein sehr schlechtes Beispiel« für Entwicklungsländer.[14] Weltweit wird die Wasserversorgung zunehmend zum lukrativen Geschäft. Beherrscht wird es von französischen Konzernen, den »drei Schwestern« Veolia, Suez-Ondeo und SAUR, die sich zusammen bereits 40 Prozent des Weltwassermarktes teilen. Angesichts der geringen Förderkosten könnte man schon heute bei den aktuellen Wasserpreisen von zwei Euro und mehr pro Kubikmeter problemlos Einnahmen von über vier Milliarden Euro erzielen – und das jahrhundertelang.

Afrikas Rohstoffe

Es geht jedoch nicht nur um die libyschen Ressourcen. Die gleichzeitige französische Intervention in der Elfenbeinküste wie die forcierte Ausweitung der militärischen Präsenz der USA in Afrika deuten auf weitere, über Libyen hinausgehende Ziele hin: die Sicherung und Ausweitung westlicher Dominanz auf dem gesamten Kontinent, um dessen Rohstoffressourcen ein erbitterter Wettkampf stattfindet.

Die Konkurrenz wirtschaftlich aufstrebender Nationen auf dem schwarzen Kontinent, allen voran China, wird von Washington als große Bedrohung wahrgenommen. Eine Reaktion auf diese Entwicklung war die Gründung von ­AFRICOM als eigenständiges Oberkommando der US-Streitkräfte für Afrika. Ein entscheidender Anstoß dafür war ein Report der »Afrikanischen Öl-Politik-Initiativen-Gruppe« AOPIG von 2002 gewesen, der hervorhob, daß die USA bis 2015 über 25 Prozent ihres Erdöls aus Afrika beziehen werden, und auf die zunehmend engeren Beziehungen zwischen afrikanischen Ländern und China hinwies.

»Es geht nicht nur um das libysche Öl, sondern um die afrikanischen Ölreserven und die Rohstoffe des ganzen Kontinents«, befürchtet daher auch Molefi Asante, Professor für Afrikanisch-Amerikanische Studien an der Temple University in Philadelphia.[15]

China unterhält im Unterschied zu den USA und Frankreich keine Militärstützpunkte in Afrika, hatte aber, wie eine Karte im »Atlas der Globalisierung 2009« von Le Monde diplomatique zeigt, 2008 zu ebenso vielen Ländern wie diese militärische Beziehungen in Form von Ausbildung, Ausrüstung, logistischer und technischer Unterstützung. In den drei Jahren, die AFRICOM existiert, haben die USA Boden gutgemacht. Fast alle afrikanischen Länder ließen sich seither in militärische Partnerschaften einbinden. Manche nahmen nur Militärhilfe in Form von Ausrüstung und Ausbildung an, viele beteiligten sich aber auch bereits an gemeinsamen Manövern. Nur fünf Staaten verweigerten sich bzw. wurden nicht gefragt: Libyen, Sudan, die Elfenbeinküste, Eritrea und Simbabwe.

In der Elfenbeinküste hat das französische Militär nach den umstrittenen Wahlen mit Alassane Ouattara einen stellvertretenden Direktor des Internationalen Währungsfonds ins Präsidentenamt gehievt, der das Land jetzt in das von den USA und der NATO geformte Militärbündnis »West African Standby Force« führen wird. Der Sudan wurde geteilt, Libyen liegt unter Feuer, und Simbabwe gilt neben Syrien als wahrscheinlichster Kandidat für den nächsten Angriff der NATO-Staaten.

Die libysche Regierung boykottierte zudem die von der EU gegründete »Mittelmeerunion«, die zusammen mit dem »Mittelmeerdialog« der NATO darauf zielt, die arabische Welt und Nordafrika – analog zu Osteuropa – in den Herrschaftsbereich der USA und der EU einzubinden. Ghaddafi nannte sie jedoch einen »neokolonialen Trick« zur Zerstörung der arabischen und afrikanischen Einheit und blieb den Treffen fern.

Störfaktor Libyen

Mit seinem Engagement für die wirtschaftliche Unabhängigkeit und die Einheit der afrikanischen Länder steht Libyen dem Bemühen der USA und der alten Kolonialmächte, ihren Einfluß in Afrika wieder auszuweiten, diametral entgegen. »Es war Ghaddafis Libyen, das Afrika die erste Revolution in neuester Zeit ermöglichte«, schrieb der Kameruner Experte für Geostrategie Jean-Paul Pougala, »die den ganzen Kontinent durch Telefon, Fernsehen, Radio und verschiedene andere Anwendungen wie Telemedizin und Fernstudium verband«. Denn es war libysches Kapital, das entscheidend zur Realisierung des ersten afrikanischen Telekommunikationssatelliten beitrug. Über zehn Jahre lang hatten die 45 afrikanischen Staaten, die sich 1992 in der RASCOM (Regional African Satellite ­Comunication Organization) zusammengeschlossen hatten, vergeblich versucht, genügend Kapital für einen eigenen Satelliten aufzutreiben, um sich von den horrenden Telefongebühren europäischer und amerikanischer Firmen befreien zu können. Doch Weltbank, IWF, USA und EU hielten die Afrikaner nur hin. 2006 beendete Libyen das unwürdige Spiel und stellte 300 Millionen Dollar für das Projekt zur Verfügung. Die Afrikanische Entwicklungsbank steuerte weitere 50 Millionen bei. Nachdem der erste Satellit im Dezember 2007 seinen Dienst aufgenommen hatte, stiegen auch China und Rußland ins Geschäft ein, weitere Satelliten wurden in den Orbit geschossen und machten die Afrikaner Schritt für Schritt von den westlichen Systemen unabhängig, denen dadurch nun Hunderte Millionen Dollar jedes Jahr an Einnahmen verlorengehen.

Eine direkte Bedrohung des westlichen Einflusses ist der Aufbau dreier unabhängiger afrikanischer Finanzinstitute, mit dem die Afrikanische Union begonnen hat und für deren Gründung libysche Gelder die Basis bilden: die Afrikanische Investmentbank, der Afrikanische Währungsfonds und die Afrikanische Zentralbank. Die Entwicklung dieser Institute würde es den afrikanischen Ländern ermöglichen, sich der Kontrolle von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF), die bisher als Instrumente der neokolonialen Herrschaft fungieren, zu entziehen. Der Afrikanische Währungsfonds soll zukünftig die gesamten afrikanischen Aktivitäten des IWF übernehmen, die, so Pougala, mit einem Umfang von nur 25 Milliarden Dollar einen ganzen Kontinent in die Knie zwangen. Mit Hilfe der Afrikanischen Zentralbank könnten sich die 14 ehemaligen französischen Kolonien eine neue Währung schaffen, die den CFA-Franc endlich ablöst, der nach wie vor Frankreichs wirtschaftliche Dominanz in diesen Ländern sichert. Diese wird ohnedies bereits durch Libyens wachsenden Einfluß in diesen Ländern, der massive Auswirkungen auf deren Rohstoffexportkonditionen hat, in Frage gestellt.

Siegt die Kriegsallianz, so würde das all diesen afrikanischen Unternehmungen einen schweren Schlag versetzen. Bereits jetzt sind viele Projekte, die von libyschen Unternehmen wie der Libysch-Arabisch-Afrikanischen Investment-Gesellschaft südlich der Sahara betrieben werden, durch das Einfrieren der libyschen Fonds blockiert.

Es ist daher nicht übertrieben, wenn der nigerianische Poet und Journalist Obi Nwakanma schreibt, der Einsatz westlicher – insbesondere französischer – Truppen in Afrika stelle »eine neue strategische Kriegserklärung gegen Afrika, die afrikanischen Interessen und den afrikanischen Kontinent« dar.

Anmerkungen:
  1. Reinhard Mutz, Libyen: »Lizenz zum Töten?« Blätter für deutsche und internationale Politik, Juni 2011
  2. Joachim Guilliard, »Zerstörung eines Landes – Droht Libyen der gleiche Absturz wie dem Irak?« junge Welt, 5.5.2011
  3. »Den Demonstranten geht es nicht um Demokratie«, Interview mit Gabriele Riedle, Redakteurin des Magazins Geo, Berliner Zeitung, 21.2.2011
  4. Gunnar Heinsohn, »Da schweigt Ghaddafi – Wer sind die Aufständischen«, FAZ 22.3.2011. Siehe auch »African migrants targeted in Libya«, Al Jazeera, 28.2.2011 und Wolfgang Weber, »Libysche Rebellen massakrieren Schwarzafrikaner«, WSWS, 31.3.2011
  5. Knut Mellenthin, »Offen und kooperativ – Die ›Revolutionäre‹, denen der Westen vertraut«, jW, 1.4.2011; Prof. Peter Dale Scott, »Who are the Libyan Freedom Fighters and Their Patrons?« The Asia-Pacific Journal Vol 9, Issue 13 No 3, 28.3.2011.
  6. Amira El Ahl, »Sie feiern schon ihr neues Libyen«, Welt am Sonntag, 27.2.2011
  7. »Libya’s Opposition Leadership Comes into Focus«, Stratfor, 20.3.2011
  8. Johan Galtung, »Libya: The War Is On«, TRANSCEND Media Service, 28 3.2011
  9. Ingar Solty, Öl, Kontrolle und Ideologie, Sozialismus 25.4.2011
  10. Alle wollen Libyens Öl, Zeit online, 6.5.2009, siehe auch Energy profile of Libya, Encyclopedia of Earth , 25.8.2008
  11. Jan Köstner, Ölstaat mit Potential – Libyen verfügt über die größten Petroleumreserven Afrikas, junge Welt, 1.4.2011
  12. New Head Of Libyan Privatization Board Welcomes U.S. Firms, US-Botschaft in Tripolis, 16.2.2010, Wikileaks ­Cables
  13. Christoph Ehrhardt, Öl in Libyen – Alle Milliarden dem Volke – »Basisvolkskongresse« beschäftigen sich in Libyen mit der Frage, wer wie viel aus dem Ölreichtum bekommen soll., FAZ, 27.2.2009
  14. Pepe Escobar, There’s no business like war business, Asia Times, 30.3.2011
  15. Colin Benjamin, Libya, AFRICOM, And US Scramble For Africa, Black Star News, 8.4.2011
* Dieser Beitrag erschien in zwei Teilen in: junge Welt vom 27. und 28. Juli 2011


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