Liberias Traum von Freiheit
Auch ein Jahr nach der Abdankung des Diktators Charles Taylor kämpfen die Menschen noch immer ums Überleben
Von Hans-Peter Hecking*
25 Jahre drehte sich Liberia im Teufelskreis aus Militärputsch, Diktatur und Bürgerkrieg. Als im vergangenen Jahr Präsident Charles Taylor zur Ausreise gezwungen worden war, atmete das westafrikanische Land auf. Doch der Neubeginn gestaltet sich schwierig, die Infrastruktur ist zerstört und Rechtssicherheit noch nicht garantiert.
Auch ein Jahr nach der erzwungenen Ausreise von Ex-Präsident Charles Taylor ins nigerianische Exil am 11. August 2003 leidet Liberia an den Folgen eines fünfundzwanzig Jahre dauernden katastrophalen Niedergangs: heruntergewirtschaftet und am Boden zerstört durch einen brutalen Teufelskreis von Militärputsch, diktatorischer Herrschaft und Bürgerkriegen. Dabei galt die an natürlichen Ressourcen reiche, ehemals prosperierende "älteste Republik Schwarzafrikas", 1847 von freigelassenen US-Sklaven gegründet, bis in die 1980er Jahre wirtschaftlich als "die Schweiz" Westafrikas. Heute ist Liberia ein ruiniertes Land und steht am Ende der UN-Rangliste der am wenigsten entwickelten Länder.
Die öffentliche Infrastruktur ist nach dem 2002/03 erneut aufgeflammten Bürgerkrieg zerstört. Fast alle privaten, staatlichen und kirchlichen Gebäude, Krankenhäuser, Schulen und Versorgungseinrichtungen sind beschädigt oder vollkommen demoliert. Was nicht durch direkte Kriegseinflüsse ruiniert wurde, ist danach von Zivilisten oder marodierenden Soldaten der offiziellen Armee GOL ("Government of Liberia") und Kämpfern der beiden, die Taylor-Regierung bekämpfenden Rebellenorganisationen "Liberians United for Reconciliation and Democracy" (LURD) und "Movement for Democracy in Liberia" (MODEL) geplündert worden. Auf den Märkten Monrovias bieten Händler und Hehler das im vergangenen Jahr während der Rebellenoffensive auf die Hauptstadt erbeutete Diebesgut zum Verkauf an. "Buy your own" ist in Liberia zu einem geflügelten Wort geworden.
Wirtschaftlich am Boden
Der martialische Schlussakkord des vergangenen Jahres kostete Zehntausende das Leben und machte große Teile der Bevölkerung zu Flüchtlingen im eigenen Land oder zwang sie, erneut Schutz in einem der Nachbarländer zu suchen. Seit Jahren verwüstete und geschlossene Schulengebäude sowie die hohe Zahl der Kinder und Jugendlichen in den Flüchtlingslagern (IDP-Camps), wo Schulen und Unterrichtsmaterial weitgehend fehlen, führten dazu, dass die Analphabetenrate derzeit bei etwa 70 Prozent liegt. Liberia ist heute vermutlich das einzige afrikanische Land, in dem die Analphabetenrate unter Kindern und Jugendlichen höher ist als unter Erwachsenen. Flucht und Vertreibung führten dazu, dass die landwirtschaftliche Produktion fast vollständig eingestellt ist. Lediglich die 1926 für 99 Jahre an den amerikanischen Firestone-Konzern verpachteten riesigen Kautschukplantagen sind in tadellosem Zustand, und auch die geteerten Überlandstraßen vom Hafen in Monrovia zu dem "flüssigen Gold" Liberias sind bestens gewartet. Die ehemals bedeutende Eisenerzindustrie, deren Erträge 51% des liberianischen Ausfuhrwerts ausmachten, steht still seit dem von Charles Taylor 1989 angezettelten Bürgerkrieg. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der etwas mehr als drei Millionen Liberianer sank unter 150 US-Dollar.
Das katastrophale Gesundheitssystem wurde durch die Kriegsereignisse des vergangenen Jahres fast vollends ruiniert. Im Land sind noch etwa 60 Ärzte, die meisten von ihnen ohne fachärztliche Qualifikation. Die Inneneinrichtungen der Krankenhäuser und Dispensarien sind größtenteils demoliert oder gestohlen, es fehlt an geeigneten Medikamenten, die hygienischen Verhältnisse in den feucht-heißen und vollkommen überfüllten Krankensälen sind kaum erträglich. Allein das katholische St. Joseph's Hospital der Barmherzigen Brüder in Monrovia, das auch während des Krieges 2002/03 den Betrieb aufrecht erhielt, arbeitet als einziges Krankenhaus des Landes auf einem relativ akzeptablen medizinischen Niveau. Die Spritkosten zum Betrieb der rund um die Uhr laufenden Stromgeneratoren des Hospitals sind gewaltig. Eine öffentliche Strom- und Wasserversorgung in der Hauptstadt, geschweige denn außerhalb Monrovias, gibt es nicht; sie wurde bereits während des Bürgerkrieges 1989 - 1996 zerstört, in dem sich Charles Taylor an die Macht kämpfte.
Katholische Kirche zwischen Resignation und Hoffnung
Während der Rebellenoffensive 2002/03 wurden auch fast alle Einrichtungen der drei katholischen Diözesen (Monrovia, Cape Palmas, Gbarnga) außerhalb der Hauptstadt geplündert, ausgeraubt und zerstört. Das Leben in den meisten Pfarreien dort existiert faktisch nicht mehr. Auch das nationale "St. Paul's College Seminary" in Gbarnga ist zerstört. Jetzt leben die 23 Seminaristen in einer provisorischen Unterkunft in Monrovia.
Wie in dem vorangegangen Bürgerkrieg (1989-1996) wurden die beiden Bistümer Cape Palmas im Süden und Gbarnga im Norden erneut 2003/04 am stärksten in Mitleidenschaft gezogen. Von dort kamen die größten Flüchtlingsströme, denn die LURD-Rebellen rückten von Guinea her auf die Hauptstadt vor, während die Krieger der kleineren Rebellenorganisation MODEL, die von Côte d'Ivoire her angriff, die Menschen von Süden her in Richtung Hauptstadt trieben. Hunderttausende wurden so zum zweiten Mal innerhalb von 15 Jahren zu Vertriebenen im eigenen Land. Die Menschen fanden Zuflucht in der umkämpften Metropole oder in einem der mehr als 60 IDP-Camps rund um die Hauptstadt. Nach UNHCR- Angaben leben dort mehr als eine halbe Million Flüchtlinge.
Bischof Boniface Nyema Dalieh von Cape Palmas musste mit seinen Priestern und Ordensleuten erneut Schutz jenseits des Cavalla-Flusses in Côte d'Ivoire suchen. Mgr. Lewis Zeigler, der einheimische Bischof von Gbarnga, lebte 2003 für einige Wochen als Vertriebener mit seinen Gläubigen in einem der IDP-Camps, die Monrovia wie einen Ring umgeben. Das Gemeindeleben in den Vertriebenenlagern wird heute von Katechisten und Katechistinnen, haupt- und ehrenamtlichen pastoralen Laienkräften, aufrecht erhalten, die auch in den zurückliegenden Kriegswirren die wichtigsten Begleiter der notleidenden Menschen vor Ort waren.
er einflussreichste Fürsprecher und Anwalt der erniedrigten und gequälten Menschen Liberias war in den zurückliegenden Jahren der Erzbischof von Monrovia, Michael Kpakala Francis. Die Nachricht, dass der Oberhirte der katholischen Kirche, zu der nur knapp vier Prozent der rund drei Millionen Einwohner Liberias gehören, Anfang März einen Gehirnschlag erlitten hatte, wurde deshalb im ganzen Land mit großem Entsetzen aufgenommen. Nach jüngsten Berichten aus Liberia ist nicht davon auszugehen, dass der Erzbischof jemals wieder seine Amtsgeschäfte aufnehmen kann.
ie kein anderer hat sich Erzbischof Francis, der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz von Liberia (CABICOL), während des Taylor-Regimes für eine friedliche Lösung der Konflikte in seinem Heimatland und als Mahner für die Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte eingesetzt. Es ist nicht zuletzt seinen eindringlichen Appellen an die Weltöffentlichkeit zu verdanken, dass der diktatorische Präsident vor einem Jahr abdanken musste. Das Fehlen des Erzbischofs wird gerade in der gegenwärtigen politischen Übergangsphase von vielen Verantwortlichen in Kirche und Gesellschaft als schmerzlich empfunden. Gerade jetzt wäre er als Ratgeber gefragt, als warnende Stimme und öffentliches Gewissen, wenn es darum geht, auf Fehlentwicklungen hinzuweisen und die Achtung von Menschenwürde, Bürger- und Menschenrechten einzufordern.
Gegen Kultur der Straflosigkeit
Der jüngste CABICOL-Hirtenbrief ("Liberia: At Cross Roads: Hopes and Challenges), der am Aschermittwoch veröffentlicht wurde und wegen seiner deutlichen Sprache zur Lage der Nation große Beachtung fand, trägt noch unverkennbar die Handschrift des Erzbischofs. Die Menschen werden darin ermutigt, aus den schrecklichen Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte zu lernen und furchtlos für ihre Rechte einzutreten. Die Bischöfe rufen dazu auf, gemeinsam Verantwortung für den Aufbau einer lebendigen Gesellschaft zu übernehmen, sich für die Wahrung der Menschenwürde einzusetzen; sie fordern dazu auf, nie mehr nur eine passive Rolle in der Gesellschaft einzunehmen, sondern sich dafür einzusetzen, dass alle Menschen im Lande in Gerechtigkeit und Gleichheit, Frieden und Freiheit leben können. Den für das Unheil der vergangenen Jahre Verantwortlichen sollte, so die Bischöfe, der Prozess gemacht werden. Menschenrechtsverletzungen müssten benannt und aufgearbeitet werden. Vor dem Hintergrund der vergangenen Schreckensjahre und der derzeit noch instabilen politischen Übergangssituation fordern die Bischöfe konkrete Maßnahmen der Erziehung und Bewusstseinsbildung, um bei den Menschen das Vertrauen in die Durchsetzbarkeit und Achtung der Menschenrechte zu fördern. Ein wachsendes Rechtsbewusstsein soll nach den Worten der Bischöfe helfen, die herrschende "Kultur der Straflosigkeit" im Land zu überwinden. Deshalb fordern sie die Aufnahme des Faches "Menschen- und Bürgerrechtserziehung" in die Lehrpläne aller Schulformen sowie die Durchführung eines gezielten Aufklärungsprogramms über Menschen- und Bürgerrechte in allen Gemeinden, auch als Vorbereitung des Volkes auf die anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Oktober 2005.
Mit der schwierigen Aufgabe der Planung und Leitung der Wahlen wurde Frances Johnson-Morris, die neue Vorsitzenden der "Nationalen Wahlkommission" (NEC), im April diesen Jahres beauftragt. Sie war bis dahin Leiterin der nationalen katholischen "Justice and Peace Commission" (JPC).
Die 1991 gegründete Kommission für Gerechtigkeit und Frieden hat als politisch unabhängige Organisation in der jetzigen Phase des politischen Wandels eine wichtige Rolle inne. Die JPC-Mitarbeiter führen landesweit Seminare und Workshops zur Aufklärung der Bevölkerung über Bürger- und Menschenrechte durch, die u.a. vom katholischen Hilfswerk Missio in Aachen finanziell unterstützt werden. Ein weiterer wichtiger Aspekt der JPC-Arbeit ist die Dokumentation und Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen während der vergangenen Jahrzehnte des Schreckens und der Unterdrückung.
Gerechte Strafe für Taylor?
Mit großer Genugtuung und als Hoffnungszeichen für eine gerechte Aufarbeitung der Taylor-Zeit wurde im Land die Nachricht über eine Resolution des UN-Sicherheitsrates vom März aufgenommen, nach der alle Auslandskonten und Vermögenswerte des Taylor-Clans eingefroren wurden. Dadurch soll sichergestellt werden, dass dem namentlich genannten Personenkreis der Zugriff auf veruntreute und unrechtmäßig ins Ausland gebrachte Erlöse aus geplünderten Ressourcen und Wirtschaftsgütern Liberias verwehrt wird. Dabei soll es sich um Schwarzgelder in Höhe von ca. 100 Mio. US-Dollar handeln.
Man hofft, dass Taylor bald der Kriegsverbrecherprozess gemacht werden kann. Der ehemalige Staats- und Rebellenchef ist nicht nur in Liberia für zwei brutale Bürgerkriege zwischen 1989 und 2003 verantwortlich, sondern er war in dieser Zeit auch ein großer Unsicherheitsfaktor für die gesamte Mano-River-Region und Kriegstreiber im benachbarten Sierra Leone, wo er die RUF-Rebellen mit Waffen gegen Diamanten belieferte. Zwar war die Bereitschaft Taylors zur Abdankung im August vergangenen Jahres von Nigerias Präsident Olusegun Obasanjo mit der Zusicherung erkauft worden, ihn vor Strafverfolgung zu schützen. Doch hat der im Juni 2003 gegen ihn erlassene Haftbefehl des in Freetown mit Unterstützung der UN eingerichteten Sondergerichtshofs weiterhin seine Gültigkeit. Die Anklage wirft ihm in 17 Punkten Kriegsverbrechen während des in Sierra Leone wütenden Bürgerkrieges (1991-2001) vor. Bisher fand sich in der liberianischen Übergangsregierung NTGL ("National Transitional Government of Liberia") keine Mehrheit für einen Antrag an die nigerianische Regierung, Taylor an das Sondergericht in Sierra Leone auszuliefern.
Verwunderlich ist das nicht, denn in der NTGL unter dem im Oktober 2003 vereidigten Staatpräsidenten Gyude Bryant haben die Vertreter der ehemaligen GOL-Regierung Taylors und der beiden Rebellenorganisationen LURD und MODEL die Mehrheit. Allen drei Fraktionen, denen Menschenrechtsorganisationen Gräueltaten an der Zivilbevölkerung in Liberia vorwerfen, versuchen, ihre Machtansprüche mindestens noch bis zu den Wahlen nächstes Jahr zu wahren. Ihnen geht es weniger um die Umsetzung von Programmen und demokratischen Reformen zum Nutzen des Landes als vielmehr um das eigene politische Überleben und die Wahrung eigener ökonomischer Interessen. Politische Ämter wurden in Liberia schon immer weniger als Dienst an der Gesellschaft, sondern eher zur Sicherung des eigenen Einflusses und der Kontrolle über die wichtigsten Ressourcen des Landes betrachtet, wie die mehr als hundert Jahre dauernde Dominierung des Landes durch die protestantisch-freimaurerisch geprägte "True Whig Party" der afro-amerikanischen Liberianer zwischen 1877 und 1980 deutlich zeigte.
Entwaffnung und Reintegration
Ganz in der Linie dieser "politischen Strategie" haben sich die drei Kriegsparteien in dem am 18. August 2003 in Accra (Ghana) geschlossenen Friedensvertrag die Schlüsselressorts der 22 NTGL-Ministerien zugeschoben. Als besonders skandalös wird von vielen im Land die Tatsache bewertet, dass sich die drei Fraktionen im Accra-Friedensvertrag bis zu den nächsten Wahlen sogar die Kontrolle über die zentralen staatlichen Unternehmen zusicherten. Vor dem Hintergrund dieser nach wie vor korrupten wirtschaftlichen Einstellung ist es als positiv zu bewerten, dass das 2001 bzw. 2003 verhängte UN-Embargo auf Diamanten bzw. Tropenholz aus Liberia weiter aufrecht erhalten wird. Darüber hinaus wird eine strenge Kontrolle der derzeitigen Regierung durch die UN bzw. direkt durch die Geberstaaten notwendig sein, damit die im Februar 2004 von einer internationalen Liberia-Geberkonferenz in New York zugesagte 520-Millionen-Dollar-Wiederaufbauhilfe sinnvoll eingesetzt wird und nicht in dunklen Regierungskanälen oder, was ebenfalls im Land für möglich gehalten wird, in teuren und wenig effektiven Programmen der UNMIL versickert.
Die 15.000 Soldatinnen und Soldaten der "United Nations Mission in Liberia" (UNMIL) erhielten im September 2003 den Auftrag, die Umsetzung des Accra-Friedensvertrages und den gesamten Friedensprozess im Land zu unterstützen. Zudem sollen sie Beistand leisten bei humanitärer Hilfe und Menschenrechtsarbeit und die Reform der nationalen Sicherheitsorgane fördern. Nach dem im Accra-Friedensvertrag festgelegten DDRR-Programm ("Disarmament, Demobilisation, Rehabilitation and Reintegration") soll die UNMIL vor allem für die Entwaffnung und Wiedereingliederung der Rebellen in die Gesellschaft sorgen. Die Kinder- und Frauensoldaten sollen dabei besonders unterstützt werden. Das Programm sieht vor, dass die Kämpfer bei Waffenübergabe 150 US-Dollar (von 300 US-Dollar) sowie Nahrung erhalten und danach in speziellen Camps ein mehrwöchiges Reintegrationsprogramm unter psychologischer Betreuung durchlaufen. Das Anfang Dezember 2003 verkündete DDRR-Programm für die geschätzten vierzig bis sechzig Tausend bewaffneten Rebellen im Land lief zunächst nur sehr schleppend an; die logistischen Schwierigkeiten scheinen jedoch seit April diesen Jahres überwunden zu sein. Berichten kirchlicher Mitarbeiter vor Ort zufolge warteten die kriegsmüden Kämpfer seit Monaten darauf, endlich ihre Waffen abgeben zu können.
Nach der Regenzeit im Oktober soll das offizielle UNHCR-Repatriierungsprogramm für die liberianischen Flüchtlinge in den Nachbarländern starten. Rund 50.000 von 350.000 Menschen, die während des Bürgerkrieges in die Nachbarländer geflüchtet sind, sollen nach UN-Angaben inzwischen schon auf teils abenteuerlichen Wegen zurück ins Land gekommen sein. Von der Regierung wurde bisher noch kein Termin genannt für den Beginn des angekündigten "NCRR-Programms" ("National Community Resettlement and Reintegration"), des offiziellen Plans zur Wiederansiedlung und Reintegration der im Inland Vertriebenen. Die Frage der Finanzierung des Programms scheint noch völlig unklar. Außerdem sind die im NCRR-Strategiepapier festgelegten Bedingungen zur Einleitung des Programms noch immer nicht in allen Landesteilen erfüllt. Dazu zählt, dass die Kontrolle durch UNMIL-Truppen und der Abschluss des Entwaffnungsprogramms in den Regionen gewährleistet ist. Ferner soll die Polizeigewalt garantiert sein und die vorhandenen Schulen und Krankenhäuser wieder geöffnet sein. Außerdem soll der ungehinderte und sichere Zugang für Hilfs- und Entwicklungsorganisationen gewährleistet sein. Und viertens soll eine gewisse Zahl von "Spontanrückkehrern" die "Normalität der Lage" in den gefährdeten Regionen des Landes anzeigen.
Letzteres scheint inzwischen erfüllt zu sein. Durch die geographische Ausweitung der UNMIL-Präsenz hat sich die Sicherheitslage in den von den Rebellen kontrollierten entlegenen Landesteilen seit einigen Wochen erheblich verbessert. Bis dahin waren große Landstriche in Nord- und Südliberia praktisch entvölkert. Um den katastrophalen Lebensbedingungen in den erbärmlichen Lehmhütten und schäbigen Plastikplanenbehausungen der IDP-Camps zu entkommen, riskierten inzwischen schon einige Tausend den Weg in ihre Heimatdörfer, um die vom Krieg zerstörten Anwesen wieder aufzubauen. Die erste magere Ernte auf den während des Krieges lange verwaisten Farmen wird erst nach der Regenzeit erwartet.
Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) unterstützt nach wie vor nur die Menschen in den IDP-Camps. Die Dörfer sind hingegen von dem WFP-Versorgungsnetz ausgeschlossen. Gemeindepfarrer vor Ort versuchen die Landbevölkerung notdürftig mit Reis, dem Grundnahrungsmittel in Liberia, zu versorgen. Ihre Finanzen und Transportkapazitäten reichen jedoch nicht aus, um die Menschen ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die Männer in den Dörfern müssen deshalb regelmäßig in die IDP-Camps zurück, um dort WFP-Lebensmittelrationen für sich und ihre hungernden Frauen und Kinder zu holen.
Ungewisse Zukunft
Trotz der Schwierigkeiten, denen sich Kirche und Gesellschaft derzeit in Liberia gegenübersehen, herrschen im Land Optimismus und Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Zwölf Monate nach dem Ende der Schreckenszeit Taylors sind die Verhältnisse im Land jedoch alles andere als stabil. Nur mit größter Kraftanstrengung und langem Atem werden die zentralen Aufgaben zu lösen sein, um das Land wieder nach vorne zu bringen: die Entwaffnung und Wiedereingliederung der Rebellen, die Einleitung eines nationalen Aussöhnungsprozesses zwischen den verfeindeten Macht- und Interessensgruppen, der Aufbau rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturen und Organe, die Durchsetzung und Anerkennung von Bürger- und Menschenrechten und die Schaffung stabiler wirtschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten. Es ist fraglich, ob diese Aufgaben bei den gegebenen unüberschaubaren politischen Verhältnissen und auch bei mangelnder finanzieller Unterstützung durch die internationale Staatengemeinschaft in absehbarer Zeit zu lösen sind.
* Hans-Peter Hecking, geb. 1955, studierte Theologie und Politikwissenschaften. Ausbildung zum Pastoralreferenten in Trier. Seit 1983 arbeitet er bei Missio in Aachen, bis 1989 als Bildungsreferent, seit 1989 als Länderreferent für Asien und ab 1997 für Afrika. Seit Anfang 2002 leitet er das Afrikareferat bei Missio. Er unternahm zahlreiche Recherche und Projektreisen in asiatische und afrikanische Länder, zuletzt in diesem Jahr in den Norden Ugandas und nach Liberia.
Dieser Beitrag erschien in der Zeitschrift HERDER KORRESPONDENZ, Heft 09, September 2004 sowie in einer gekürzten Fassung auf der Dokumentationsseite der Frankfurter Rundschau vom 17. August 2004. Außerdem wird der Beitrag im September 2004 auf der Homepage des Internationalen Katholischen Missionswerks missio e.V., Aachen, veröffentlicht (www.missio-aachen.de).
Wir danken dem Autor für die Überlassung des Textes zu Dokumentationszwecken.
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