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"Hier ändert sich nichts"

Im Beiruter "Café 33" wird zwischen Salat und Sesam die jüngste Wahl diskutiert

Von Karin Leukefeld, Beirut *

»So haben wir uns das nicht vorgestellt, wie konnte das geschehen?« Der junge Mann mit der weißen Strähne in seinem schwarzen Haar spricht leise mit einem Gast, der in seinem Lokal zu Abend isst. Der Tisch ist gefüllt mit Meze, den traditionellen Vorspeisen aus Salaten, Pasten, gefüllten Weinblättern und der Sesampaste Humus, es duftet nach frisch gebackenem Brot, das schneller nachgereicht wird, als es gegessen werden kann...

Der Schock über die verlorene Wahl in Libanon ist bei den Anhängern der Opposition auch Tage nach der Wahl nicht überwunden. So, wie im Café 33 in Hret Hreik, einem südlichen Vorort von Beirut. Wo sonst meist alle Tische besetzt sind und die Kellner mit den schwer beladenen Tabletts hin- und herlaufen, ist es ruhig an diesem ersten Abend nach der Wahl. Einige Männer rauchen nachdenklich Wasserpfeife, die Stimmung ist gedämpft. Das Café und Restaurant ist nach dem 33-tägigen Krieg benannt, den Israel 2006 gegen Libanon führte, Hret Hreik wurde damals schwer zerstört. Doch so oft die israelische Armee hier schon die Menschen gequält und ihr Leben zerstört hat, so oft haben sie trotzig wieder aufgebaut. Das Café 33 sieht schöner aus als zuvor.

»Das System versagt uns die Mehrheit«

Hier hat man für die Opposition gestimmt, viele für die Hisbollah, die ihnen nach dem letzten Krieg zuverlässiger beim Wiederaufbau half als die Regierung. Andere stimmten für die Amal-Bewegung oder die Freie Patriotische Union des Christen Michel Aoun. Die südlichen Vororte von Beirut werden vor allem von Schiiten bewohnt, auch eine kleine Christengemeinde lebt hier. Nun versucht man zu ergründen, warum es bei den Wahlen für den von vielen Libanesen so sehnlich erhofften Regierungswechsel nicht gereicht hat.

»Das Wahlsystem versagt uns die Mehrheit, die wir bei der Abstimmung errungen haben«, erläutert ein Anhänger der Opposition, der aus Gründen der Anonymität Nasib genannt werden möchte. Das bedeutet, obwohl die Opposition 55 Prozent und damit 840 000 der abgegebenen Stimmen erhalten hat, reichte es nur zu 45 Prozent und 57 Sitzen im neuen Parlament. Die siegreiche Partei um Saad Hariri dagegen erhielt 45 Prozent und damit 692 000 Stimmen. Im Parlament wird sie dennoch mit 55 Prozent der Sitze, nämlich 68, vertreten sein. Weil drei der gewählten unabhängigen Kandidaten sich dem Hariri-Block anschließen, erhöht sich der Anteil auf 71 Sitze.

Das widersprüchliche Ergebnis ist dem aus dem Jahr 1960 stammenden Wahlgesetz des Zedernstaates geschuldet. Das teilt die Wahlbezirke nach religiösen Gruppen ein, die vor fast 50 Jahren andere Mehrheiten zählten, als es heute der Fall ist. Damals hielten sich Christen und Muslime in Libanon etwa die Waage, wobei die Gruppe der schiitischen Muslime relativ klein war. Heute ist sie die stärkste, doch im Wahlgesetz zählt das nicht.

Nach dem Bürgerkrieg (1975- 1990) sollte ein säkulares politisches System installiert werden, so sieht es die libanesische Verfassung vor. Doch Clan- und Familieninteressen regieren das Land, Geschäftsinteressen stehen über allem. Wer das Geld hat, hat das Sagen. Viel Geld in Libanon kommt aus Saudi-Arabien und Iran, doch offenbar reichte der iranische Einsatz im »Wahlen-Ebay« nicht an die 715 Millionen Dollar heran, die Saudi-Arabien seinen Günstlingen gezahlt haben soll, schreibt das US-Magazin »Newsweek«. Das wäre mehr Geld, als die Wahlkampagne von Barack Obama kostete.

Fakt ist, dass Familien aus aller Welt die Heimflüge bezahlt wurden, damit sie am Wahltag ihre Stimme abgeben sollten. Ende Mai/Anfang Juni stieg die Zahl der Einreisenden am Internationalen Flughafen Beirut um das Vierfache, heißt es im Tourismusministerium. Leider seien aber offenbar nur Flüge und nicht auch Hotelkosten finanziert worden, wird bedauernd angemerkt. Hotels und Restaurants hätten keinen Zuwachs verzeichnet, die Auslandslibanesen hätten wohl bei ihren Familien gewohnt und gegessen.

Bezahlte Heimflüge – aber nicht für alle

Nicht so der Pensionär Harry Koundakjian, ein ehemaliger Fotograf der Nachrichtenagentur Reuters. Er und seine Frau kamen mit einem Ticket der armenischen Taschnag Partei (Opposition) nach Beirut. »Erst gehen wir wählen, dann machen wir Urlaub«, meint der gewichtige 70-jährige aus New York gelassen. Seit 30 Jahren lebt er nicht mehr in Libanon.

Geld spielt eine große Rolle in Libanon, und wer keines hat, bleibt Statist, weiß der Kellner Emile, der in einem Hotel in Hamra arbeitet. Dort leben Christen, Sunniten und Schiiten weitgehend friedlich Tür an Tür, der alte Stadtteil Beiruts bildet wie in einer Nussschale das libanesische Mosaik der 19 verschiedenen Volksgruppen ab. »Mehr als 50 Milliarden US-Dollar Schulden hat uns die letzte Regierung beschert«, schimpft Emile. »Libanesische Kinder sind noch nicht geboren und haben schon einen Berg Schulden auf ihren Schultern.«

Emile ist Christ und hat für Michel Aoun gestimmt, weil er hoffte, dass damit Korruption und Vetternwirtschaft endlich ein Ende haben würden. »Nun wird alles bleiben, wie es ist, und wir armen Leute bezahlen den Preis«, sagt Joseph, ein Kollege von Emile, der wie dieser für die Opposition gestimmt hat. »Jeden Tag wird alles teurer, und wir wissen nicht mehr, wie wir unsere Mieten, das Essen und die Ausbildung unserer Kinder bezahlen sollen.« Joseph würde Libanon gern verlassen und woanders nach Arbeit suchen, doch er kann seine Familie nicht allein lassen. Resigniert zuckt er mit den Schultern: »Das ist Libanon, hier wird sich nie etwas ändern, nie.«

Freudig strahlen dagegen die Anhänger von Saad Hariri, seit sie das Wahlergebnis kennen: »Die Hisbollah ist bankrott«, frohlockt ein Ladenbesitzer und meint damit, dass die Opposition nicht so viel Geld aufbringen konnte wie der Hariri-Block, um Auslandslibanesen zur Wahl einzufliegen.

Und der Zeitungshändler Sultan Bidawy, von dem die Anspannung deutlich abgefallen ist, freut sich über »klare Verhältnisse«. Die Familie Hariri hatte ihn am Vortag der Wahlen angerufen und angeboten, ein Auto zu schicken, damit er in Sidon seine Stimme abgeben sollte, erzählt er stolz und streicht die Krawatte mit dem großen Blumenmuster gerade: »Wir hatten VIP-Betreuung.«

Die Familien Bidawy und Hariri sind seit Generationen eng mit einander verbunden, erzählt der Zeitungshändler, der in seinem Schreibtisch Fotos von persönlichen Begegnungen mit der Hariri-Familie aufbewahrt. Doch während die Hariris ihr Geld schier unendlich vermehrten, hat der Zeitungshändler Mühe, die anstehenden Kosten für die Hochzeit seiner Tochter aufzubringen. Seiner Bewunderung für die Hariris tut das keinen Abbruch: »Saad Hariri wird ein guter Ministerpräsident«, ist Bidawy überzeugt. Die Anhänger der schiitischen Opposition hält er für ungebildete Hitzköpfe, auch wenn ihm der Hisbollahführer Hassan Nasrallah einen gewissen Respekt abnötigt. Immerhin hat die Hisbollah Israel aus dem Land vertrieben, und Israel ist auch für Bidawy ein Feind, wie Iran.

Die Wahlschlacht ist geschlagen, die Libanesen kehren in ihren Alltag zurück. Die Beiruter Taxifahrer hupen, um Kundschaft zu werben, Händler türmen Äpfel und Kartoffeln zu kunstvollen Pyramiden auf, aus Cafés und Imbissen tönt laute Musik, Angler stehen geduldig Stunde um Stunde an der Uferstraße, um vielleicht doch noch einen Fisch zu fangen, auch wenn er nur klein ist. Durch die engen Straßen der Stadt drängt sich der nicht enden wollende Verkehr und Abgase machen das Atmen fast unerträglich.

Am nächsten Tag zieht die Karawane der Journalisten weiter. Es geht nach Iran, wo die Präsidentschaftswahlen und die Ereignisse danach für Schlagzeilen sorgen und den kleinen Zedernstaat in der westlichen Welt schnell wieder in Vergessenheit geraten lassen. Die überdimensionalen Porträts der Kandidaten verbleichen in der Sonne oder wirbeln, vom Wind zerfetzt, über die Straße. Bettler drehen ihre Runden um die Hotels der Hauptstadt in der Hoffnung, von den Touristen etwas Geld zu bekommen. Schließlich landen sie dann doch vor den Stufen einer Moschee oder Kirche, wo sie sicher sein können, eine milde Gabe zu erhalten.

»Abu Tax« – der Vater der Steuern

Auf dem parkähnlichen Campus der Amerikanischen Universität Beirut wiegen sich die blütenschweren Oleanderbüsche leise im Wind, während weiter südlich, in Hret Hreik, noch immer Trümmer aus dem Krieg von 2006 weggeräumt werden, damit neue Hochhäuser für die ausgebombten Familien gebaut werden können. Die Hisbollah mag nicht genug Geld aufgebracht haben, um genügend Auslandslibanesen zu den Wahlen einzufliegen, sagt Timor Göksel, der an der Amerikanischen Universität in Beirut lehrt.

Doch sie bauen den Menschen ein neues Dach über dem Kopf. Der Regierung und Ministerpräsident Fouad Siniora, der im libanesischen Volksmund nur »Abu Tax«, Vater der Steuern, genannt wird, scheint das recht zu sein. Vermutlich werde man sich mit der Opposition auch arrangieren. An oberster Stelle stehe immer noch das Geschäft in Libanon, sagt Göksel: »Das zu verändern würde bedeuten, den Laden hier zu schließen.«

* Aus: Neues Deutschland, 23. Juni 2009


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