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Märtyrer-Liste gewinnt die erste Teilwahl im Libanon

Ergebnis und Hintergründe

Zum ersten Mal seit dem Abzug der syrischen Truppen wird im Libanon ein neues Parlament gewählt. Dies war gleichsam die erste Wahl ohne direkten Einfluß der Syrer seit 33 Jahren. In Beirut begann am 29. Mai 2005 die erste Phase der Wahl. Rund 420.000 Bürger waren aufgerufen, über 19 der 128 Parlamentssitze zu entscheiden. In den anderen Landesteilen wird an den folgenden Sonntagen gewählt. Insgesamt sind drei Millionen Libanesen wahlberechtigt. Die Wahl könnte eine historische Zäsur bringen: Nach der Ermordung des früheren Ministerpräsidenten Rafik Hariri im Februar erhielt die antisyrische Opposition großen Zulauf und rechnete mit einem Wahlsieg.
Nach der Schließung der Wahllokale gab Innenminister Hassan Sabei die Wahlbeteiligung bekannt. Sie lag bei 28 Prozent, nach 35 Prozent bei der Parlamentswahl im Jahr 2000. Sabei sagte, die Wähler hätten in einer demokratischen Atmosphäre und ohne Druck abstimmen können. Zwischenfälle habe es nicht gegeben.

Das Ergebnis: Erdrutschsieg

Bei Spiegel-Online konnte man schon am Wahlabend folgendes lesen:
Der Sohn des ermordeten libanesischen Ex-Regierungschefs Rafik Hariri hat seine Liste zum Sieger des ersten Tags der Parlamentswahl erklärt. Seine Liste habe alle 19 Sitze gewonnen, die in der Hauptstadt Beirut am Sonntag zu vergeben waren, sagte Saad Hariri am Abend.
"Das ist der Sieg Rafik Hariris", rief er seinen Anhängern zu, die sich vor seinem Haus in Beirut versammelt hatten. Der Trend werde sich im Rest des Landes fortsetzen. "Das bedeutet, dass das Blut von Rafik Hariri nicht umsonst vergossen wurde".


In der Tat ging die erste Runde der Abstimmung über das neue libanesische Parlament klar an den Sohn des ermordeten Expremiers Rafik Hariri. Hierzu heißt es in der "jungen Welt" vom 31. Mai 2005:

Der 35jährige, politisch unbedarfte Geschäftsmann Saad Hariri, Sohn des ermordeten Ministerpräsidenten Rafik Hariri, gewann mit seiner »Märtyrer-Liste« die erste Teilabstimmung bei den Parlamentswahlen im Libanon. (...)
Nasek Hariri, Witwe des ermordeten Politikers, hoffte, daß die Wähler mit ihrer Entscheidung »aufdecken, wer das Verbrechen gegen meinen geliebten Ehemann geplant und ausgeführt hat«. »Warum soll ich wählen gehen, wenn das Ergebnis bereits feststeht?« hielt der 40jährige Abdul Rahman Itani entgegen und sprach zwei Dritteln der 420.000 stimmberechtigten Beiruter, die der Wahl fernblieben, aus der Seele. Die Beteiligung lag nach Angaben des Innenministeriums bei dürftigen 28 Prozent, bei der Abstimmung im Jahr 2000 waren es noch 35. In der libanesischen Hauptstadt Beirut, der Hochburg der Sunniten, die Saad Hariri vertritt, verzichteten andere Gruppen aufgrund der Popularität, die der Sohn des Expremiers seit der Ermordung des Vaters dort genießt, darauf, Gegenkandidaten aufzustellen. So konnte sich die »Märtyrer-Liste«, der sich Oppositionsführer Walid Dschumblatt und die radikalislamische Hisbollah anschlossen, vorab neun der 19 in Beirut zu vergebenden Parlamentssitze sichern.
Ministerpräsident Najib Mikati räumte am Sonntag indes ein, jenes im Jahre 2000 beschlossene Wahlgesetz sei nicht fair. Christliche Bischöfe und Vertreter anderer Gruppen hatten bereits gegen das Edikt protestiert, weil es den Libanon in große Wahlbezirke splittet und die moslemische Majorität begünstige.
Einige Oppositionsparteien riefen daher zum Boykott des Urnengangs auf, und der rechtschristliche General Michel Aoun, dem die »Märtyrer-Liste« ein Wahlbündnis verwehrte, ließ die Parteigänger seiner »Freien Patriotischen Bewegung« am Wahltag ausschwärmen und orangefarbene Sticker mit der Aufschrift »Boykott« austeilen. Innenminister Hasan Al Sabaa freute sich trotzdem: »Die Libanesen haben in einer demokratischen Atmosphäre und in völliger Freiheit ohne Druck abgestimmt.« Für Riccardo Chelleri, stellvertretender »Chefbeobachter« in der Wahlbeobachterkommission der EU, sahen »die Wahlen so weit gut organisiert aus«. Rund drei Millionen Libanesen werden an den drei kommenden Sonntagen nacheinander im Süden, Osten und Norden die 128 Abgeordneten für das Beiruter Parlament wählen.
(Autor: Jürgen Cain Külbel)

Im Folgenden zwei weitere Hintergrundartikel, die sich mit der Wahl im Libanon befassen. Sioe wurden bereits vor dem ersten Wahlgang in Beirut veröffentlicht.

Märtyrer-Liste mit besten Chancen

Von Alfred Hackensberger, Beirut

Nach der Ermordung von Rafik Hariri, den Massendemonstrationen und Bombenattentaten war es lange Zeit unklar, ob die Parlamentswahlen im Libanon rechtzeitig stattfinden. Morgen ist es aber soweit.

Der erste Durchgang steht bevor. Rund zwei Millionen Wähler sind am Sonntag in Libanon zur Stimmabgabe in den fünf Gouvernements des Landes, mit insgesamt 14 Unterbezirken aufgerufen. Der erste Wahlgang findet in der Hauptstadt Beirut statt, danach wird an den jeweils folgenden Sonntagen (5., 12. und 19.Juni) in Mount Libanon, Nord- und Südlibanon und im Biqaa Distrikt gewählt. Insgesamt sind 128 Parlamentssitze zu vergeben, die nach dem Taif-Abkommen von 1989 zur Hälfte zwischen Christen und Moslems, zu denen auch Drusen zählen, aufgeteilt sind.

Viel wurde über eine Reform des bestehenden Wahlrechts diskutiert, das 1999, noch unter syrischem Einfluss, zu Stande kam. Besonders die Maroniten, die größte christliche Bevölkerungsgruppe, fühlen sich durch die großen Wahlkreise benachteiligt. Nur 15 der 64 christlichen Mandate würden von einer christlichen Wählerschaft bestimmt, die restlichen 49 seien von muslimischen Stimmen abhängig. »Das Wahlgesetz ist ungerecht«, sagte der Maronitische Kardinal Nasrallah Sfeir. »Die Christen können nicht ordnungsgemäß ihre Repräsentanten wählen.«

Michel Aoun, Führer der »Freien Patriotischen Bewegung«, der nach 15 Jahren Exil in Frankreich vor kurzem zurückgekehrt war, nannte das geltende Wahlgesetz »eine legale Fälschung, die keine Erneuerung des demokratischen Lebens« bringt. Ein Standpunkt, der von allen Parteien und Gruppen des anti-syrischen Oppositionsbündnisses geteilt wurde. Zumindest bis kurz vor den Wahlen. Dann gab sich Walid Dschumblatt, der Vorsitzende der »Progressiven Sozialistischen Partei«, mit dem alten Reglement zufrieden. Ebenso Saad Hariri, nach dem Tod seines Vaters Rafik Hariri der einflussreichste Mann Libanons. Beide wurden zwar als »Verräter« gebrandmarkt, aber das konfessions- und parteiübergreifende Oppositionsbündnis war damit ad acta gelegt. Nun haben die üblichen finanzstarken Clan- und Religionsführer ihre persönlichen Kandidatenlisten aufgestellt.

In Beirut steht der Sieg der »Märtyrer-Liste-Rafik-Hariri« außer Zweifel. Aus Mangel an Gegenkandidaten sind dem Team von Saad Hariri bereits neun der insgesamt 19 Parlamentssitze gewiss. Mit einer Partei darf man diese »Märtyrer-Liste« allerdings nicht verwechseln. Es ist eine Interessenliste, die auf sehr widersprüchlichen Allianzen beruht. Da gibt es Kandidaten der Hisbollah und der Libanese Forces, die sich nicht zusammen fotografieren lassen wollen. Um aber eine Chance auf einen der konfessionsgebundenen Sitze für das Parlament zu bewahren, muss man sich einer mächtigen wie populären Liste anschließen. Unabhängige Listen, mit denen die Kommunisten und die »Neue Linke Bewegungen« antreten, haben kaum eine Chance. Bei den Allianzbildungen spielen Programme, Ideologien und Meinungen nicht die geringste Rolle. Entscheidend ist nur, wer wie viele Mandate bekommen wird. An dieser Frage scheiterte das Bündnis zwischen dem »Sozialisten« Walid Dschumblatt und dem »Patrioten« Michel Aoun, die sogar ihre persönlichen Animositäten für eine gemeinsame Liste im Mount Libanon beiseite gelegt hätten.

Die Sitzvergabe ist in allen 14 Bezirken der fünf Gouvernements nach Religionen genau vorgegeben. Ein Sieg der Oppositionsparteien ist sicher, nachdem die meisten pro-syrischen Politiker, wie Ex-Premier Omar Karami, auf eine erneute Kandidatur verzichtet haben. In Beirut gewinnt Saad Hariri mit seiner Märtyrer-Liste, in Südlibanon die Allianz zwischen Hisbollah und Amal. Im Mount Libanon und in Nordlibanon bleibt nur die Frage, ob die »Patriotische Bewegung« von Michel Aoun ihre Kandidaten als unabhängige Liste durchbringen wird. Neu auf dem politischen Parkett sind auch die rechtsradikalen Libanese Forces, die bisher verboten waren und deren Führer Samir Geaga seit elf Jahren als verurteilter Kriegsverbrecher im Gefängnis sitzt.

Der EU-Wahlbeobachterkommission wird es nicht leicht fallen, das »Vertrauen in die Wahlen« zu stärken. Die Wahlbeteiligung wird wie 2000 kaum höher als 50 Prozent erwartet. Viele Libanesen, besonders junge Menschen, sind bereits vor dem Urnengang enttäuscht. »Unseren Politiker geht es nur um ihre eigenen Interessen. Sie kümmern sich nicht um die Anliegen der Menschen, sie sind wie Schauspieler«, sagte eine Studentin der Libanesischen Universität in Beirut.

Unter allen Kandidaten gibt es insgesamt nur vier Frauen. Die prominentesten darunter sind Bahia Hariri, die »Schwester des Märtyrers«, und Solange Gemayel, die Witwe des christlichen Ex-Präsidenten Bashir Gemayel, der 1982 durch eine Bombe ermordet wurde. »Vier Frauen im Parlament sind nicht genug«, sagt Sana Solh von der libanesischen Frauenorganisation. »Wir wollen 30 Prozent der Parlamentssitze.« Doch das kann im religiös-konservativen Libanon noch Jahrzehnte dauern.

* Aus: Neues Deutschland, 28. Mai 2005

Relative Ruhe in Südlibanon

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem

Vor genau fünf Jahren zogen die letzten israelischen Soldaten aus dem Südlibanon ab. Heute herrscht an der Grenze zwischen beiden Staaten meist Ruhe; Normalität ist aber dennoch nicht eingekehrt.

Von ihrem Balkon im fünften Stock eines Hochhauses im israelischen Kiriyat Schmonah aus können die Alsbergs weit über den Grenzzaun und die Stellungen der UN-Friedenstruppen ins libanesische Nachbarland blicken.

»Angst«, sagt Miriam Alsberg, »Angst habe ich nicht.« Ihr Ehemann Jonathan fügt hinzu: »Hier ist schon seit seit Monaten nichts mehr passiert.« Und beim letzten Zwischenfall im Dezember ist sich das Militär noch nicht einmal sicher, ob es wirklich einer war: Einwohner der nur 20 Kilometer von der Grenze entfernten Küstenstadt Nahariya wollen eine Drohne der Hisbollah am Himmel gesichtet haben; Beweise gibt es dafür nicht.

So ruhig wie im Moment war es hier nicht immer. Noch Mitte der 90er Jahre waren die nach wie vor wenig besiedelten idyllischen Hügel Krisengebiet. Nahezu wöchentlich waren die wenigen Städte und Gemeinden das Ziel von Katjuscha-Raketen, während jenseits der Grenze israelische Wehrdienstleistende den Guerilla-Taktiken der Hisbollah zum Opfer fielen. Geändert hat sich das, nachdem vor genau fünf Jahren die letzten israelischen Soldaten aus dem Südlibanon abgezogen und die Gefechte in die diplomatische Arena verlegt worden waren – mit tatkräftiger Unterstützung der Bundesregierung.

So hat sich mit der Zeit eine Situation gebildet, in der der Grenzverlauf von der UNO überwacht wird, Syrien die Kämpfer der Hisbollah in Schach hält und Drittstaaten wie die Bundesrepublik Kommunikationswege zwischen allen Seiten eröffnen: »Alle Parteien sind zu der Ansicht gelangt, dass Frieden und Sicherheit in der Region im eigenen Interesse sind«, sagt Neil Lochery, Nahostexperte am University College in London: »Die von Syrien forcierte Transformation der Hisbollah von einer Kampfgruppe zur politischen Partei spielt dabei eine wichtige Rolle. Als bewaffnete Untergrundbewegung war sie zu mächtig, um zerschlagen zu werden, und wurde so auch zur Bedrohung für die herrschenden Klassen in Beirut und Damaskus.«

Gerade deshalb wird jede Entwicklung entlang der Grenze von der internationalen Gemeinschaft mit Sorge beobachtet. So vermelden die Vereinten Nationen immer wieder Luftraumverletzungen des israelischen Militärs, während dessen Analysten darüber rätseln, wie sich der Abzug der syrischen Truppen aus Libanon auf die Lage an der Nordgrenze auswirken wird: »Damaskus war in Libanon auch eine ausgleichende Kraft. Wir befürchten, dass nun ein Vakuum im Süden des Landes entsteht, mit dem Beirut nicht alleine fertig werden kann«, sagt ein Militärsprecher. Derweil wird im Norden Israels immer öfter immer näher an die Grenze heran gebaut. Die Ruhe dort hat einen wirtschaftlichen Aufschwung verursacht, der tausende von neuen Wohnungen erforderte. Und bald werden noch mehr gebraucht. Nach der Räumung der Gazasiedlungen wollen bis zu 3000 ehemalige Siedler hierher ziehen.

Aus: Neues Deutschland, 28. Mai 2005


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