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Ein halber Erfolg

Im Libanon sorgte ein angedrohter Generalstreik für eine Erhöhung des Mindestlohns um 40 Prozent. Dennoch sind viele Gewerkschafter unzufrieden

Von Raoul Rigault *

Das Kampfmittel Generalstreik erfreut sich in den unterschiedlichsten Teilen der Welt wieder wachsender Beliebtheit. Nach den wiederholten Ausständen und Massendemonstrationen in Griechenland, Portugal, Italien und Slowenien gegen die Austeritätspolitik, in Ägypten, Bahrain und Tunesien zum Sturz der Diktaturen sowie dem geplanten Generalstreik in Südafrika kündigt nun selbst der rechtssozialdemokratische Histadrut-Chef Ofer Eini in Israel eine solche Aktion an, wenn die Regierung Netanjahu nichts gegen die immer weiter um sich greifende Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in Form von Werkverträgen tut, die er als »Sklavenarbeit« betrachtet.

Im Libanon genügte die bloße Drohung, um eine 40prozentige Anhebung des Mindestlohnes durchzusetzen. Entscheidend dürfte dabei die Angst der Exekutive vor einem Übergreifen des »arabischen Frühlings« auf den Zedernstaat, aber auch die Erinnerung an zwei frühere Ausstände gewesen sein. Am 23. Januar 2007 hatte die Hisbollah einen Generalstreik zum Sturz der prowestlichen Regierung Siniora ausgerufen. Dabei wurde das Land, auch mit Hilfe zahlreicher brennender Straßensperren, lahmgelegt. Bei den mehrtägigen Unruhen gab es fünf Tote und mindestens 110 Verletzte. Mit einem 24stündigen, ebenfalls militanten Generalstreik erreichte der Gewerkschaftsbund CGTL am 7.Mai 2008 die bislang letzte Erhöhung des Mindestsalärs von 300000 auf 500000 Libanesische Pfund (140 bzw. 233 Euro) im Monat sowie eine Gehaltserhöhung für alle Beschäftigten um die gleiche Summe (93 Euro).

Nachdem die neue, von der Hisbollah und den Mitte-Links-Parteien getragene Regierung des Multimilliardärs Najib Mikati zunächst nur 20 Prozent mehr angeboten hatte, lenkte sie wenige Stunden vor dem Streik am 12. Oktober ein und sagte zu, die unterste Lohngruppe um weitere 200000 auf nun 700000 Pfund (325 Euro) anzuheben. Die gleiche Steigerung gibt es für alle mit weniger als einer Million Pfund Monatseinkommen, während diejenigen mit einer bis 1,8 Millionen sogar 300000 Pfund mehr erhalten. Die 15 Prozent der Besserverdienenden hingegen gehen diesmal leer aus.

Wie nicht anders zu erwarten, lehnen die Unternehmer diesen Schritt kategorisch ab. »Das versetzt dem Privatsektor im Libanon den finalen Schlag«, verbreitete der Chef der Wirtschaftsverbände Adnan Kassar Untergangsstimmung. Auf einer Großveranstaltung am 20.Oktober im Beiruter BIEL Pavillon Royal geißelten mehrere hundert Kapitalisten den Kompromiß als »illegal, unrealistisch, ungerecht und unwissenschaftlich«. Laut dem Industriellenverband sind die meisten Firmen und Betriebe dadurch gezwungen, entweder zu schließen oder mehr als 30 Prozent der Beschäftigten zu entlassen. Unter Berufung auf die öffentliche Statistik behaupten sie, daß die Lebenshaltungskosten seit 2008 nur um 16,8 Prozent gestiegen seien. Ein Wert, der von Gewerkschaften und Verbraucherverbänden als absurd zurückgewiesen wird.

Auch innerhalb der Arbeiterbewegung stößt das erzielte Abkommen jedoch auf erheblichen Widerstand. CGTL-Chef Ghassan Ghosn selbst bezeichnete die Lohnerhöhung als unbefriedigend. Man habe nur »die Hälfte der Forderungen durchgesetzt«. Bis zuletzt hatte seine Organisation mehr als eine Verdoppelung des Mindestsalärs auf 1,25 Millionen Libanesische Pfund (rund 582 Euro) im Monat und deutlich mehr Geld auch für alle anderen abhängig Beschäftigten verlangt. Zudem handelt es sich von Regierungsseite teilweise um einen Taschenspielertrick, denn gleichzeitig soll die Mehrwertsteuer von zehn auf zwölf Prozent erhöht werden und obendrein die Kraftstoff- und Telekommunikationssteuer spürbar steigen. Dienen soll das einer besseren Gesundheitsversorgung, die anders angeblich nicht zu finanzieren sei.

Verschiedene Einzelgewerkschaften und Berufsgruppen setzen den Kampf daher auf eigene Faust fort. Mit einer »schrittweisen Eskalation des Protestes« drohen beispielsweise die Lehrer, die ihren Forderungen am 19.Oktober mit einem eintägigen landesweiten Ausstand Nachdruck verliehen, bei denen an allen öffentlichen und auch vielen Privatschulen der Unterricht ausfiel.

In die gleiche Richtung gehen auch die Arbeiter der Elektrizitätsgesellschaft EDL, die ihren für den 25. Oktober vorgesehenen unbefristeten Streik ausgesetzt und dem Kabinett bis zum 2. November Zeit gegeben haben, ihre Forderungen nach mehr Geld, mehr sozialer Sicherheit und einer besseren Versorgung im Krankheitsfall zu erfüllen. Ähnliches wollen die Angestellten der öffentlichen Sozialversicherung NSSF, die nach einer Protestkundgebung jetzt ebenfalls mit Arbeitsniederlegungen drohen.

Die Regierung zum Einlenken zu zwingen, wird alles andere als einfach, denn laut Finanzminister Mohammed Safadi wird bereits die erzielte Übereinkunft die öffentliche Hand 700 Millionen Dollar kosten. Keine geringe Summe, wenn man weiß, daß der Libanon mit Verbindlichkeiten in Höhe von 135 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und einem aktuellen Haushaltsdefizit von 5,5 Prozent nach wie vor zu den am höchsten verschuldeten Ländern der Welt zählt. Auch in der Leistungsbilanz weist Beirut mit einem Minus von 22,4 Prozent des BIP in diesem Jahr einen rekordverdächtigen Wert auf. Da die Weltbank ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum radikal von sieben auf vier Prozent senkte und der IWF sogar nur noch von 1,5 ausgeht, haben sich die Zinsen der Staatsanleihen weiter verteuert (der Spread der Kreditausfallversicherungen CDS stieg im dritten Quartal um 78,7 auf 429,7 Basispunkte und die Wahrscheinlichkeit eines Staatsbankrotts von 22,2 auf 26,6 Prozent). Um so geringer werden die Verteilungsspielräume. Obendrein wird mit US-»Hilfe« der Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO vorbereitet, was eine Welle von Liberalisierungen nach sich ziehen dürfte. Der Versuch der Lehrergewerkschaft STA, »die Gewerkschaftsbewegung zu vereinen und auf einer starken und glaubwürdigen Basis mit neuem Leben zu erfüllen«, ist also dringlicher denn je.

* Aus: junge Welt, 1. November 2011


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