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Nach dem Krieg

Politisch gespalten, einig im Feindbild Israel: Die Menschen im Libanon müssen auch ein halbes Jahr später noch mit den Zerstörungen durch den von Tel Aviv befohlenen Angriff leben

Von Karin Leukefeld *

Taxifahrer Khaled umwirbt die Reisenden mit blumigen Sprüchen. »Kommen Sie mit mir, im besten Taxi, für nur 300 Syrische Pfund«, preist er die Fahrt in die 50 Kilometer entfernt liegende Hafenstadt Tripoli an. 300 Syrische Pfund sind rund fünf Euro. Khaled braucht Geduld, denn die Konkurrenz auf der syrischen Seite des Grenzübergangs Aboudiye ist groß. Die beiden Fahrgäste, die er für die Fahrt in das Nachbarland schon gewonnen hat, sitzen noch vor einem kleinen Geschäft und trinken ­Mate-Tee. »Wie in Lateinamerika«, sagt der Ladenbesitzer lachend. Als Khaled die vier Fahrgäste endlich zusammen hat, startet das Taxi in Richtung Libanon. Die Verbindungsstraße zwischen dem syrischen und libanesischen Grenzposten führt über eine eiserne Brücke. Die Ufer des kleinen Flusses sind zu beiden Seiten besiedelt. Niemandsland? »Hier haben schon immer Leute gewohnt«, erklärt Khaled. »Viele syrisch-libanesische Familien leben hier, die Grenze ist doch völlig überflüssig.«

Gespräche unterwegs

Die ersten Kilometer im Libanon führen durch eine Platanenallee. Ringsum eine idyllische, fruchtbare Landschaft. Tell Biri, Tell Abbas, die Ortsschilder fliegen vorbei. Plötzlich bremst der Fahrer abrupt und weicht einem Krater in der Straße aus. Eine Erinnerung an die Bomben im vergangenen Sommer, meint er und zeigt nach vorne: »Da, die Brücke ist auch zerstört, und die nächste auch.« Im Nordlibanon traf es vor allem Brücken und Straßen, die Dörfer blieben, anders als im Südlibanon, weitgehend verschont. Was halten Sie von Bush? Was denken Sie über Saddam Hussein? Die Mitreisenden löchern die deutsche Mitfahrerin. Einer der Passagiere ist Syrer, er ist unterwegs nach Beirut, wo er wie viele seiner Landsleute auf dem Bau arbeitet. »Ich unterstütze Fuad Siniora«, erklärt Khaled, der Fahrer, doch was die USA im Mittleren Osten will, findet er gar nicht gut. Wird es Frieden mit Israel geben? Einen Moment herrscht ungläubiges Schweigen im Wagen, dann reden alle durcheinander, um mit unterschiedlichen Worten nur eins zu sagen: Nie, niemals können sie sich Frieden mit Israel vorstellen.

Wenige Kilometer später tauchen Flüchtlingslager von Palästinensern auf, Nahr AlBared und Beddawi reichen mit ihrer dichten Bebauung bis ans Meer. Hier leben rund 50000 Menschen. Nun ist es nicht mehr weit bis Tripoli, ein zerstörter Armeeposten am Stadteingang erinnert wieder an den Krieg. Es bleibt keine Zeit, die historische Hafenstadt zu sehen, gleich geht es weiter mit dem Nahverkehrsbus nach Beirut. Das klapprige Gefährt ächzt langsam die Küstenstraße hinauf. Hinweistafeln werben für Urlaub am Strand, im Kinderparadies oder in einem ruhigen Olivenhain. Hotels, Ferienhäuser stehen dicht an dicht. In der Tourismusbranche hofft man in diesem Jahr auf einen besseren Sommer. Parallel zur Autobahn verläuft eine alte Eisenbahnstrecke. Der schmale Schienenstrang ist überwachsen mit Gras und blühenden Ginsterbüschen. Neben einer neuen Autobahnbrücke – die Kriegsschäden aus dem letzten Sommer sind hier schon behoben – überquert die Eisenbahnlinie ein hölzernes Viadukt.

Kurz vor Beirut müssen die Fahrzeuge die Autobahn verlassen. Die Kriegsschäden auf der großen Brücke am »Casino du Liban« sind nur teilweise repariert. In engen Serpentinen geht es die Steilküste hinunter, an Villen und üppig begrünten Anwesen vorbei, Clubanlagen, Hotels, Restaurants. An fast jedem Haus hängt die rot-weiße Fahne der Zedernrepublik. Hier leben die Unterstützer von Fuad Siniora und Saad Hariri, die libanesische Nationalfahne gilt als ihr Symbol.

Beirut

Am Hafen von Beirut ist Endstation. Im August 2006 herrschte hier gespenstische Ruhe, eine israelische Seeblockade verhinderte monatelang das Einlaufen der Schiffe. Nun fahren sie wieder ein und aus, doch von einem wirtschaftlichen Aufschwung ist das Land noch weit entfernt. Unweit des Tors zum Hafen liegt »Beirut Downtown«. Hier war einst der alte Markt, der im Bürgerkrieg (1975–1990) komplett zerstört wurde. Heute ist das Viertel der Stolz der wohlhabenden Bürger von Beirut. In der Amtszeit des 2005 ermordeten Ministerpräsidenten Rafik Hariri wurde eine ansehnliche Fußgängerzone mit Luxusgeschäften und Edelrestaurants gebaut. Nur wenige Schritte entfernt liegen Parlament und Regierungssitz von Siniora. Auf dem Platz der Märtyrer steht die Grabmoschee von Rafik Hariri, direkt dahinter beginnt die Zeltstadt der Opposition. Seit im Dezember 2006 die Minister der Hisbollah die gemeinsame Koalitionsregierung mit der »Zukunftsbewegung« (Mustaqbal), der Partei »Amal« und der Progressiven Sozialistischen Partei von Dschumblat verlassen haben, protestieren ihre Anhänger und die anderer Oppositionsgruppen für eine Regierung der nationalen Einheit. Tagsüber sind die Zelte leer, nur einige Wachleute laufen über das Gelände. Am frühen Abend aber füllt sich der Platz, über die Lautsprecheranlage werden Kampflieder gespielt und Reden gehalten.

Der politische Stillstand zwischen Regierung und Opposition stoppt auch das wirtschaftliche Leben und den Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes. Bei vielen wächst die Sorge vor einem neuen Bürgerkrieg. Entgegen allen Spruchbändern und Plakatwänden, auf denen zu einem geeinten Libanon aufgerufen wird, transportieren Medien und Politiker gegenseitige Anschuldigungen. Die einen seien auf der Gehaltsliste der US-Regierung, die anderen auf der von Teheran. Je weniger miteinander geredet wird, desto größer werden die Plakate: Hassan Nasrallah, Nabi Berri, Hariri grüßen je nach Stadtteil von Hauswänden oder Gerüsten. Saad Hariri ist auf den Plakaten stets mit seinem ermordeten Vater Rafik abgebildet, der wie zum Schutz hinter ihm steht.

Herr Bedauwin, der seit Jahrzehnten im Beiruter Stadtteil Hamra einen Buchladen führt, ist zornig über die Hisbollah, für die er während des Krieges im Sommer 2006 noch voll des Lobes war. Der aufopferungsvolle Kampf gegen Israel war etwas anderes als die Proteste seit Anfang Dezember, meint er. »Sie spielen die religiöse Karte, um Irans Interessen hier durchzusetzen«, meint er. »Iran ist reich, sie haben Öl, sie haben Gas, sie haben Kaviar, sie kaufen die Schiiten im Irak, im Libanon. Die Perser mögen uns Araber nicht. Sehen Sie in die Geschichte! Und diese jungen Leute da«. Bedauwin macht eine abwertende Handbewegung in Richtung einiger Taxifahrer, die vor seinem Laden auf Kundschaft warten. »Sie folgen Hisbollah und Nasrallah, ohne nachzudenken. Dabei sind die Schiiten nur ein Tropfen im Ozean der Muslime.«

Andere Welt in Hret Hreik

Die Mehrheit der Schiiten lebt im Süden des Landes. In Beirut wohnen sie meist in den südlichen Vororten, von denen besonders Hret Hreik während des Sommerkrieges 2006 durch die israelische Luftwaffe zerstört wurde. Auf den engen, teilweise ungepflasterten Straßen herrscht dichter Verkehr, die meisten Frauen tragen lange schwarze Mäntel und Kopfbedeckung. Wo einst das Sendezentrum des Radio- und Fernsehsenders der Hisbollah, Al Manar, stand, klafft eine riesige Lücke. Vom Eingang ist nur ein Torbogen geblieben, an dem ein Transparent mit einer Grußbotschaft des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez hängt. Die Abrißbagger arbeiten unentwegt. Doch noch viele verbrannte Hausruinen ragen in den Himmel. Aufgerissene Treppenhäuser klaffen wie offene Wunden, von einem Wohnzimmer ist die Wand weggerissen, Sofas und Sessel sind zu sehen. Im Zimmer daneben steht ein offener Kleiderschrank. Hemden, Jacken, Hosen hängen noch auf den Bügeln. Manche Etagen in den zerstörten Häusern sind sogar bewohnt, was man an der Wäsche erkennt, die auf dem Balkon hängt.

Das Informationsbüro der »Partei Gottes« liegt im 4. Stock eines unscheinbaren Hauses. Da es nur zwölf Stunden Strom pro Tag gibt, kommt es schon einmal vor, daß man die Treppen in völliger Dunkelheit erklimmen muß. Sechs Stunden Strom werden von Generatoren geliefert, die anderen sechs Stunden kommen vom staatlichen Elektrizitätswerk. In Hamra und den reichen Wohnvierteln im Norden Beiruts gibt es 24 Stunden Strom, »damit die Touristen nicht merken, welche Probleme wir hier haben«, meinte der Taxifahrer. Trotz Ausweis des libanesischen Informationsministeriums gibt es dieser Tage keine Genehmigung vom Pressebüro der Hisbollah, um Straßeninterviews oder auch Fotos in Hret Hreik zu machen. Auf die Frage, warum es solche Restriktionen gibt, heißt es, die Menschen seien müde von den vielen Journalisten. Wer Fotos brauche, könne eine Foto-CD des Fernsehsenders Al Manar bekommen.

Unterwegs im Süden

Am Strand neben der Küstenstraße in Richtung Süden entsteht aus dem abtransportierten Häuserschutt eine neue Landschaft. Möwenschwärme tanzen über den Trümmerbergen, aus denen die anonymen Reste zerstörter Haushalte ragen: Möbelteile, Drähte, Kabel, Dosen, Stoffetzen, Schuhe.

Je weiter nach Süden man kommt, desto verheerender die Zerstörungen. Der kleine Ort Kfar Kila liegt direkt an der Grenze zu Israel. Hier verschwanden im Mai 2000 die israelischen Besatzungstruppen über Nacht aus dem Südlibanon. Die Meldung vom Rückzug der Israelis verbreitete sich damals wie ein Lauffeuer, zu Tausenden zogen die Menschen in den Süden, um sich mit eigenen Augen von der Befreiung ihrer Heimat zu überzeugen. Der israelische Rückzug gilt bis heute als Sieg der Hisbollah. Von Kfar Kila führt die Straße nach Bint Jbeil unmittelbar entlang der Grenze, die hermetisch mit Zäunen, Stacheldraht und einem Minengürtel versperrt ist. Auf der israelischen Seite erstrecken sich kilometerweit Obstplantagen, vereinzelte Siedlungen sind zu sehen und riesige Wachtürme der Armee. Auf der libanesischen Seite wiederholt sich von Dorf zu Dorf das gleiche Bild: zerstörte Häuser, Straßen mit Einschlagkratern voll schlammigem Regenwasser, Berge von Schutt. In Houla steht am Straßenrand ein von den Israelis 2000 zurückgelassenes Panzerwrack, darauf eine Standfigur des Ajatollah Khomeini, dem Führer der »islamischen Revolution« im Iran.

Sortiert nach politischer Zugehörigkeit hängen die Bilder der gefallenen Kämpfer aus dem Sommerkrieg 2006 am Straßenrand. Manchmal sind es zehn, in anderen Fällen bis zu 30 Bilder. Mit gelber Fahne die Kämpfer der Hisbollah, mit grüner Fahne die der Amal, mit der roten Fahne die der Kommunisten. Die politische Zugehörigkeit der Dorfbewohner ist unterschiedlich, doch im Widerstand gegen Israel sind alle sich einig. Auf einem Transparent neben zerstörten Wohnhäusern steht: »Dieses ist Eure Demokratie, USA.« Auch die Einwohner der christlichen Dörfer Rmeich und Ain Ebl sind keine Ausnahme. Hier fanden viele muslimische Familien aus den besonders umkämpften Orten Maroun er Ras, Aitaroon und Bint Jbeil Zuflucht.

Bint Jbeil

Ein halbes Jahr ist seit dem Krieg vergangen, die Altstadt von Bint Jbeil liegt noch immer in Trümmern. Wo früher der Markt mit kleinen Verkaufsläden war, ist heute ein leerer Platz. Im nahe gelegenen neu renovierten Rathaus berichtet Hussein Saad vom Gemeinderat über die Zerstörungen der Stadt. Von den 3000 Häusern Bint Jbeils wurden 1135 völlig zerstört, 800 allein in der Altstadt. 1000 Häuser wurden beschädigt. Früher einmal hätte Bint Jbeil 54000 Einwohner gehabt, erklärt Hussein Saad, heute lebten die meisten von ihnen in Europa, Südamerika, in Afrika und in den Golfstaaten. Vor dem Krieg im Sommer 2006 hätten hier noch 8000 Menschen gelebt, alle seien zurückgekommen. »Wir versuchen, die Altstadt möglichst genau zu rekonstruieren, dabei helfen uns die Bilder von Häusern vor und nach dem Krieg«, sagt Hussein Saad. Die Finanzierung habe der Golfstaat Katar zugesagt, darüber sei der Gemeinderat sehr froh. Neben Katar und der Hisbollah gibt es finanzielle Hilfe vom UN-Kinderhilfswerk, UNICEF, vom UN-Entwicklungsprogramm, UNDP, und von der Europäischen Union. Die Streubomben seien fast alle beseitigt, meint Saad, zumindest in der Innenstadt von Bint Jbeil. Die Hisbollah fühle sich als Kampfpartei verpflichtet, den Menschen beim Wiederaufbau zu helfen, erklärt Saad weiter. Rund hundert Geschäftsinhaber, deren Läden auf dem Zentralmarkt zerstört worden seien, hätten zwischen 500 und 80000 US-Dollar bekommen.

Der Marktplatz im Zentrum des Ortes ist wie leergefegt. Es hat angefangen zu regnen, braune Rinnsale laufen vom oberen Ende des Platzes hinab zu den Ruinen der Altstadt. Im Eingang eines Textilladens drängen sich vier junge Frauen und warten auf ein Taxi. Im dunklen Schaufenster liegen Tücher und andere Kopfbedeckungen. Es gibt keinen Strom, der Inhaber des Ladens sitzt an einem kleinen Tisch, neben ihm strahlt ein Gasbrenner etwas Wärme aus. Auf dem Tisch steht ein großer runder Wasserbehälter, in dem ein Dutzend verschiedenfarbiger Fische schwimmt. »Kann ich Ihnen helfen«, fragt der Ladenbesitzer hilfsbereit auf Deutsch. Fragen will er gern beantworten, aber nicht bei eingeschaltetem Mikrofon. Fünf Jahre hat er in Deutschland, in Oldenburg, gelebt, erzählt der 38jährige Hussein Murat. 1994 wurde er abgeschoben. Weil es in seiner Heimat keine Arbeit gab, ging er als Gastarbeiter nach Dubai, wo auch sein Bruder beschäftigt ist. Mit dem Geld, das er dort verdiente, habe er vor vier Jahren diesen Laden eröffnet. Die Geschäfte gingen gut. »Bis zum Krieg im letzten Sommer, da habe ich alles verloren«, fährt Hussein Murat fort. »Das Haus ist stehengeblieben, doch der Laden war ausgebrannt. Ich habe Ware und Einrichtung im Wert von 100000 US-Dollar verloren.« Mehr als ein halbes Jahr sei das jetzt her. Er habe wieder Geld von seinem Bruder bekommen, den Laden renoviert und neu eingerichtet.

Ein anderer junger Mann kommt herein und setzt sich. Saati Anawadah, stellt er sich höflich vor, 38 Jahre. »Hast du dein Geschenk schon bekommen«, fragt er Hussein Murat. Der schüttelt den Kopf. »Mein Geschäft wurde zerstört, 65000 US-Dollar Schaden«, erklärt Saati Anawadah knapp. Im Auftrag der Hisbollah seien Leute gekommen, um zu fragen, wie hoch der Verlust sei, dann habe man ihm ein »Geschenk« angeboten, 1900 Dollar. »Das ist ein schlechter Scherz, ich habe das abgelehnt«, sagt er. »Das Problem ist nicht die Hisbollah, sondern deren Kontaktleute. Die Politiker hier sind Geschäftsleute, ihnen geht es um Geld, nicht um die Menschen.« Hassan Nasrallah vertraue er, »der hält sein Wort, doch diese Leute sind Lügner«. Wird es Frieden geben mit Israel? Weder Hussein Murat noch sein Freund Saati glauben daran. Saati würde lieber heute als morgen Libanon verlassen. »Gibt es ein Land, das die Rechte der Menschen respektiert und mich aufnehmen würde? Ich würde sofort dorthin gehen.«

* Aus: junge Welt, 10. März 2007


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