An der Mündung des Kalten Flusses
Ein Jahr nach den schweren Kämpfen um das Lager Nahr Al-Bared im Libanon: Palästinensische Flüchtlinge stehen immer noch vor dem Nichts. Was bleibt, ist die Hoffnung
Von Karin Leukefeld *
Im Sommer 2007 tobten hier die Kämpfe. Artilleriebeschuß ohne Ende,
Gefechte in den Straßen, Massenfluchten, Leid und Elend. Heute, ein Jahr
danach, existiert das palästinensische Flüchtlingslager Nahr Al-Bared im
Nordlibanon nicht mehr. Wo einst mehr als 31000 Menschen lebten, ragt
jetzt ein Trümmerberg in das Blau des Sommerhimmels. Das »alte« Lager
sei geschlossen, heißt es bei der libanesischen Armee, der Zugang für
Journalisten ist untersagt.
Das »neue« Lager ist nur mit Genehmigung zu besuchen, in Begleitung
eines Soldaten. Der zuständige Soldat wartet am »Abdee Gate«, dem
nördlichen Kontrollpunkt, wo nach ausgiebiger Prüfung der Papiere
endlich die Durchfahrt freigegeben wird. Auf einer staubigen Piste, der
Hauptstraße des »neuen« Lagers, geht es vorbei an einer Basis der
libanesischen Armee, einigen Geschäften und brachliegendem, steinigem
Land. Poster des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen warnen vor
nicht explodierter Munition, in einem Baum hat sich der bunte Schweif
eines Papierdrachens verfangen, der vom Wind hin- und hergezerrt wird.
Nur wenige Meter entfernt dehnt sich das Mittelmeer bis an den
westlichen Horizont.
Leben im Container
Nahr Al-Bared war eines von zwölf palästinensischen Flüchtlingslagern im
Libanon. Es entstand 1949 nach der Vertreibung der Palästinenser aus
ihrer Heimat. Das Lager liegt auf einer Landzunge nördlich der
libanesischen Hafenstadt Tripoli, etwa eine halbe Autostunde von der
syrischen Grenze entfernt. Das Lager ist nach dem Fluß Nahr Al-Bared
benannt, der Kalte Fluß, dessen Quelle hoch in den libanesischen Bergen
liegt und der hier in das Mittelmeer mündet. Im Sommer 2007 fochten in
Nahr Al-Bared Kämpfer der islamistischen »Fatah al Islam« und die
libanesische Armee einen erbitterten Kampf. Hunderte Menschen kamen ums
Leben. Die Einwohner flohen in das nahegelegene Flüchtlingslager
Beddawi. Für den Wiederaufbau des Lagers wurden dem libanesischen
Ministerpräsidenten Fuad Siniora bei einer »Geberkonferenz« am 28. Juni
2008 in Wien 122 Millionen US-Dollar versprochen. Doch werden mindestens
450 Millionen US-Dollar gebraucht, sagt die UNWRA, das Hilfswerk für die
palästinensischen Flüchtlinge.
»Hallo, kommen Sie von der deutschen Botschaft?«, fragt ein älterer Mann
mit orangefarbener Weste und hält schützend die Hand über die Augen. Das
gleißende Sonnenlicht und die staubige Luft sind selbst für die
Einwohner des Lagers nur schwer zu ertragen. Der Mann zeigt auf ein
Containergebäude, das neben dem Parkplatz steht. »Das hier ist unsere
Schule, die haben die Deutschen gebaut, kommen Sie«, meint der Alte und
läuft eilig voran zum Eingangstor. Er stellt sich als Mitarbeiter einer
islamischen Hilfsorganisation vor, Islamic Aid, die im neuen Lager von
Nahr Al-Bared Wasserbehälter aufgestellt habe. Seine Aufgabe sei es, den
Bereich zu kontrollieren, meint der Mann und verschwindet so rasch, wie
er aufgetaucht ist. »Ich habe zu tun, bis später.«
Neben dem neuen Schulgebäude liegt eine Siedlung mit 300 Containern, die
von der UNRWA geliefert und von der Europäischen Union bezahlt wurden.
Die weißen Blechbehälter sind wie einstöckige Wohnblocks
aneinandergereiht. Längs der Blocks ziehen sich schmale Gassen, die den
Bewohnern als Wäscheplatz dienen. Quer verläuft eine Art Hauptstraße,
über die ein Händler mit seinem Sohn einen Karren voller Pfirsiche
zieht. Laut rufend preisen sie die Früchte an. Unter Sonnendächern aus
blauen Plastikplanen ist auf schmalen Tischen und in Regalen ein buntes
Warensortiment ausgebreitet: Brot und Saft, Süßigkeiten, CDs, Batterien,
Hygieneartikel. In einem Eisschrank stehen Limonade- und Colaflaschen.
Doch die Kühlung funktioniere nicht immer, meint lachend Ziad Eshtawi,
ein Mitglied des Lagerkomitees. Es gebe täglich nur neun Stunden Strom.
Der 52jähirge steht vor einem großen Berg schwarzer Plastiktüten, der
neben einem Container aufgestapelt ist. »Alle zwei Tage erhalten wir von
der Zukunftsbewegung von Saad Hariri eine Lebensmittelspende«, sagt er
und öffnet eine der Tüten. »Heute gibt es Auberginen.« Mit einem
Seitenblick auf den militärischen Begleitschutz der Besucherin fügt er
hinzu: »Wir sind sehr dankbar für diese Hilfe, manchmal gibt es sogar
Hühnchen.« Doch anders als Ziad Eshtawi spricht der Soldat der
libanesischen Armee kein Englisch und versteht nicht, was der
Palästinenser zu den Wohltaten des Multimilliardärs und Politikers
Hariri ach so »dankbar« bemerkt. Es wirkt, als sei der Soldat zum ersten
Mal in der Containersiedlung. Ungläubig blickt er um sich und betrachtet
die Menschen, die im Schatten der engen Gassen zwischen den Containern
sitzen, sich unterhalten, Gemüse putzen oder einfach nur vor sich
hinstarren.
Ziad Eshtawi klettert eine Eisentreppe zum oberen Stockwerk der
Containersiedlung hinauf, wo ein junger Mann lautstark und
gestikulierend zum Teetrinken einlädt. Türen gehen auf, Plastikstühle
werden herausgereicht, Frauen wagen einen schnellen Blick unter ihren
Schleiern hervor, um sich gleich darauf wieder zurückzuziehen. »Sie
schämen sich«, sagt Ziad Eshtawi entschuldigend. »Unsere Verhältnisse
sind nichts, was man gerne zeigt.« Schnell hat sich eine kleine Runde
gebildet, man trinkt ein Glas Caj (Tee) und raucht. Ziad Eshtawi wird
als Sprecher respektiert, nicht zuletzt deswegen, weil er sehr gut
Englisch spricht.
»Ich habe alles im alten Lager verloren, mein Haus, mein Geschäft;
mindestens 15000 Dollar war das wert«, erzählt er. Zwölf Jahre habe er
dafür im Ausland gearbeitet, in Abu Dhabi am Golf und in Aserbaidschan.
»Wir haben die Pipeline von Baku nach Tbilissi gebaut, 450 Kilometer
lang, für Gas und Öl,« erklärt er. Er habe so gut verdient, daß er nicht
nur ein eigenes Geschäft in Nahr Al-Bared eröffnen und ein Haus bauen
konnte: Er nahm sich sogar eine zweite Frau. Heute leben seine Familien
in Containern. Beide Frauen und alle sieben Kinder sind in dem neuen
Ausweis eingetragen, ohne den keiner der Flüchtlinge das Lager betreten
oder verlassen darf.
Von den Bewohnern des alten Lagers seien seit November 2007 etwa 10 000
in das »neue« Lager zurückgekehrt, schätzt Ziad Eshtawi. 219 Familien
mit etwa 1500 Personen wohnten in der Containersiedlung, die anderen
lebten in ihren zerstörten Häusern. Die Lage sei nicht gut, doch besser
als im Lager von Beddawi, wohin sie während des Krieges 2007 flüchten
mußten. »Zumindest haben wir unsere eigenen vier Wände, können die Tür
hinter uns schließen, und wir haben ein eigenes Bad«, sagt er. »In
Beddawi lebten wir in einer Schule, wir mußten Schlange stehen, um ins
Bad zu kommen.«
Die Privatsphäre der Familien umfaßt einen Raum mit Küche und -- auf etwa
einem Quadratmeter -- das Bad mit Toilette, Waschbecken und einem
Schlauch an der Wand, der als Dusche dient. Das Wasser komme aus dem
Tank, zum Trinken sei es nicht geeignet, sagt Ziad Eshtawi: »Wir müssen
das kostbare Naß außerhalb des Lagers kaufen, vor allem für die Kinder
ist sauberes Wasser wichtig.« Familien bis zu fünf Personen wohnen in
einem Container, ab sechs gibt es zwei Container. Die Blechwände halten
weder Kälte noch Hitze fern. Jetzt sei es sehr heiß, nachts kommen die
Mücken, erzählt Eshtawi.
Strom gibt es vier Stunden über Mittag, fünf Stunden in der Nacht, nur
dann könne man einen Ventilator einschalten. »Es ist zu heiß, zu heiß
für uns und die Kinder«, ruft eine Frau und streicht seufzend ihre
Haarsträhnen unter die Abbaya zurück, den schwarzen Ganzkörperschleier.
Mit einigen Frauen steht sie abseits der Teerunde der Männer. »Ich hatte
zwei Nähmaschinen im alten Lager, meine Tochter und ich besserten den
Leuten die Kleidung aus. Das Geschäft lief gut. Heute sitzen wir herum,
ohne Arbeit und leben von dem, was man uns gibt.«
Einer nach dem anderen erzählt vom Leben im alten Lager, in das alle am
liebsten schon gestern wieder zurückgekehrt wären. Doch es sei gesperrt,
sagt Mohammed Amsha, der wie Ziad Eshtawi zum Komitee gehört. »Wir
müssen warten, bis die Trümmer beseitigt sind.« Es könnten noch
Blindgänger herumliegen, daher warnte die Armee uns, dorthin zu gehen.
Mohammed Amsha: »Ich wurde in dem Lager geboren, meine Kinder wurden
dort geboren und sobald ich die Chance habe, werde ich sofort
zurückgehen.« Der Mann weiß, daß auf einer Konferenz in Wien Geld für
den Wiederaufbau versprochen wurde. Er hoffe darauf, dann könne der
Aufbau beginnen. »Ich brauche einen Bulldozer, um die Trümmer zu
beseitigen, allein kann ich das Haus nicht wieder aufbauen, das ist zu
teuer.«
Arbeit verboten
Pläne zum Wiederaufbau wurden schon im Sommer 2007 entwickelt, als der
Krieg in Nahr Al-Bared noch tobte und die Zerstörung sich abzeichnete.
Der Soziologe Sari Hanafi arbeitet an der Amerikanischen Universität von
Beirut (AUB) und berät das Wiederaufbauteam. Eine seiner Langzeitstudien
betreffe das Lager von Nahr Al-Bared, berichtet Hanafi, ein
palästinensischer Flüchtling aus Syrien, der in Paris promoviert hat.
Die gesellschaftliche Struktur in den palästinensischen
Flüchtlingslagern ähnele der eines Slums. »Die Menschen in den
Flüchtlingslagern hatten nie Zugang zum Arbeitsmarkt in Libanon, sie
dürfen keine Wohnung, kein Haus, kein Geschäft außerhalb der Lager
besitzen.«
Die hohe Armut in den Lagern, die Perspektivlosigkeit für Kinder und
Jugendliche böten Raum für alle möglichen Gruppen, die sich -- wie damals
in Nahr Al-Bared beispielsweise »Ansar al Islam« -- etablieren. Sie
könnten sich mit Waffengewalt durchsetzen. Der libanesische Staat sei
weder durch Polizei noch durch soziale Einrichtungen wie Krankenhäusern,
Schulen, Kindergärten in den Lagern präsent. »Die Palästinenser im
Libanon brauchen mehr Rechte -- beispielsweise arbeiten zu dürfen, damit
sie ihre Lebensverhältnisse verbessern können. Das ist die Aufgabe der
UNRWA. Das Mindeste ist, daß die Palästinenser im Libanon die gleichen
Rechte bekommen wie Palästinenser in anderen Lagern. Wie in Jordanien
oder in Syrien. Dort können sie das Lager verlassen und in der
Gesellschaft ihren Platz finden.«
Im Libanon dürften die Palästinenser nicht außerhalb der Lager arbeiten
-- es sei denn, sie seien bei den Vereinten Nationen oder internationalen
Organisationen beschäftigt. Oder sie gingen ins Ausland, sagt Sari
Hanafi. Nahr Al-Bared auch nur kurz zu verlassen, ist kaum drin. Dafür
fehlt das Geld. »Also bauen sie für sich und ihre Familien das aus, was
sie im Lager haben. Die Gassen werden immer enger, die Häuser immer
höher, die Gesundheitssituation verschlechtert sich, weil es keine
ordentliche sanitäre Versorgung gibt, keine Kanalisation.« Die Enge im
Lager erhöhe zudem den psychischen und physischen Streß der Einwohner,
erläutert Hanafi: »Es gibt Spannungen, Nachbarschaftskonflikte. Vor zwei
Jahren haben wir eine Untersuchung in Nahr Al-Bared durchgeführt, die
ergab, daß Bluthochdruck und Krebserkrankungen fast doppelt so hoch
waren wie in der Umgebung.«
Hanafi hat den Vorschlag gemacht, entlang der Küste eine Art
Strandpromenade zu bauen, von der alle Anwohner profitieren könnten.
»Die Gegend ist landschaftlich sehr schön, und es wäre phantastisch,
wenn alle Leute sich dort frei bewegen könnten.« Wichtig sei, die
Isolation der Lagerbewohner zu durchbrechen, meint Hanafi. Vom freien,
erholsamen Klima einer Strandpromenade ist das Lager weit entfernt. Die
sandige Hauptstraßenpiste vom Kontrollpunkt »Abdeer Gate« endet abrupt
vor einem Trümmerberg. »Hier beginnt das alte Lager«, erklärt der Soldat
der libanesischen Armee höflich. »Sie dürfen hier nicht fotografieren.«
Hilfe von der Hisbollah
Vielleicht sei es der Armee peinlich, daß sie nach einem Jahr die Folgen
der Kämpfe von damals noch immer nicht beseitigt hätte, spekuliert ein
begleitender Übersetzer. Das »neue« Lager liegt wie ein Vorort in
direkter Nachbarschaft. Auch hier sind die Spuren vergangener Kämpfe
nicht zu übersehen. Ein Kinderkarussell liegt verlassen im Staub, vor
provisorischen Geschäften spielen Kinder Krieg, der Kindergarten der
Ghassan-Kanafani-Stiftung wurde ebenso zerstört wie die alte Schule, das
Krankenhaus und viele Wohnhäuser.
Vor seinem halbzerstörten Haus steht Walid Shaaban und entnimmt dem
Kofferraum seines zerbeulten Autos einige Wasserflaschen und
Lebensmittel. Drei Familien mit siebzehn Personen lebten in dem, was
einmal sein Haus gewesen sei, erzählt der Mann und holt einen Stapel
Fotos. »Hier, so sah mein Haus direkt nach dem Krieg aus, ein Team
ausländischer Architekten hat mir geholfen.« Die gröbsten Trümmer wurden
mit Hilfe eines Krans beseitigt, die französische Hilfsorganisation
»Premiere Urgence« (Erste Hilfe) baute mit EU-Geldern eine neue Tür und
Fenster ein. Seitdem ist nichts mehr geschehen. Wie Mohammed Amsha hofft
auch Walid Shaaban auf das Geld aus Wien, um sein zerstörtes Haus zu
reparieren.
»Da können wir lange warten«, kichert der Alte von der islamischen
Hilfsorganisation mit der orangefarbenen Weste, der von seinem
Kontrollgang zu den Wasserbehältern plötzlich wieder aufgetaucht ist.
Die Dörfer der Schiiten seien nach dem Krieg 2006 mit Geld aus Iran und
Katar rekonstruiert worden, sagt er. Die Regierung in Beirut habe keinen
Finger gerührt, im Gegensatz zur Hisbollah. Jeder wisse das. »Wenn die
Regierung die Dörfer der schiitischen Libanesen nicht wieder aufbaut,
werden sie unser Lager erst recht nicht wieder aufbauen.«
Viele Einwohner von Nahr Al-Bared teilen diese Skepsis; sie fühlen sich
auch von der palästinensischen Autonomiebehörde im Stich gelassen. »Die
Abbas-Regierung in Ramallah ist weit weg und hat keine Ahnung, wie wir
hier leben«, murmelt Ziad Eshtawi. Dem kontrolliert und ruhig wirkenden
Mann ist der Ärger deutlich anzumerken. Der Vertreter der ehemaligen
Befreiungsbewegung PLO in Beirut sei ein-, vielleicht auch zweimal
gekommen, erinnert Eshtawi sich. »Er ist gerademal die Straße hinauf-
und hinuntergelaufen, hat eine Runde durch unsere Blocks gedreht -- und
weg war er.«
Kein Gespräch, keine Fragen, keine Hilfe, nichts, meint Ziad Eshtawi
enttäuscht: »Wir stehen vor dem Nichts.« Besonders für die Jugend sei
die Zukunft duster, fährt er fort und zuckt hilflos mit den Schultern.
»Früher haben wir von der Rückkehr nach Palästina geträumt, heute
träumen wir von der Rückkehr in das alte Lager von Nahr Al-Bared.«
* Aus: junge Welt, 9. August 2008
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