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"Ich lasse mir von niemandem erklären, wer ein Kriegsverbrecher ist"

Erinnerungen an das Massaker in den Beiruter Flüchtlingslagern Sabra und Schatila 1982, "Terrorismus" und eine Aussageverweigerung vor Gericht. Ein Gespräch mit Robert Fisk *


Robert Fisk ist Nahostkorrespondent des britischen Independent.

Als am Tahrir-Platz in Kairo die ersten Steine zwischen den Regierungsgegnern und Mubaraks Polizisten hin- und herflogen, war er als Reporter mitten im Getümmel, als die Ausländer in Scharen die libysche Hauptstadt Tripolis verließen, kam er dort gerade am Flughafen an: Der Engländer Robert Fisk, Jahrgang 1946, kennt den Nahen und Mittleren Osten so gut wie kaum ein anderer Journalist. Was seine Berichterstattung in über 35 Jahren aus dieser Region aber vor allem auszeichnet, ist eine unerschütterliche kritische Haltung zur Politik des Westens und seinen Statthaltern, der israelischen Regierung und den arabischen Potentaten. Die Einmärsche der Israelis in den Libanon hat er genauso hautnah erlebt, wie den ersten (1991) und zweiten Golfkrieg (2003) und den Angriff auf Afghanistan. Im Wiener Promedia-Verlag ist von Fisk gerade in deutscher Übersetzung das Buch »Sabra und Schatila – Ein Augenzeugenbericht« erschienen.

Robert Fisk, wie lange leben Sie eigentlich schon im Libanon?

Ich bin 1976 hierhergekommen und seit damals ist dieses Land mein Zuhause. Natürlich nur, wenn ich nicht gerade im Nahen Osten herumreise.

Aber Ihre Karriere begann als Korrespondent in Nordirland...

Ja, das war am Höhepunkt der »Troubles« im Jahr 1972. Zwei Jahre später bin ich dann nach Portugal gefahren, um über die Nelkenrevolution zu berichten und danach in den Libanon gekommen. Mein erster Besuch in diesem Land passierte aber schon vorher. Ich nahm mir eine Auszeit vom Bürgerkrieg in Nordirland und bin in den Libanon auf Urlaub gefahren. Da ist mir gleich aufgefallen, daß hier etwas nicht stimmt. In der Stadt Tripoli im Nordwesten habe ich beobachtet, wie eine Burg und ein ganzer Basar von bewaffneten Nasseristen eingenommen wurde. Die libanesische Armee gab mir zu Protokoll, daß es sich nur um ein paar gewöhnliche Diebe handeln würde, aber es war offensichtlich eine Aktion, die von einer politischen Bewegung durchgeführt wurde.

Hatten Sie das Gefühl, daß sich Mitte der 1970er Jahre eine Revolution im Libanon ihren Weg bahnen könnte?

Nein. Jeder, der diesen Eindruck hatte, lag falsch. Die Palästinenser gaben sich ihren Träumen hin, aber die meisten Menschen hier waren gegen eine Revolution.

In Portugal und Iran hatten Sie schon vor Ort revolutionäre Umstürze miterlebt, allerdings unter völlig unterschiedlichen Vorzeichen...

Es gab Ähnlichkeiten, aber keine offensichtlichen. Ende der 1980er Jahre entstand eine starke islamische Bewegung im Libanon, die eine große Kampagne gegen den Westen entfachte. Entführungen von Ausländern kamen damals häufig vor. Sie können das eine Revolte nennen, wenn Sie wollen.

Das grundlegende Problem im Nahen Osten ist in jedem Fall die herrschende Ungerechtigkeit, nicht die terroristische Gewalt. Egal, wie viele Mittel der Westen etwa in die afghanische Provinz Helmand pumpt, egal, wie viele Spitäler in Gaza gebaut werden, egal, wieviel Brot an die irakische Bevölkerung verteilt wird– die Ungerechtigkeit und der Unmut bleiben.

Kommen wir zu Ihrem berühmten Bericht über die Massaker von Sabra und Schatila: Konnten Sie etwas Derartiges vorhersehen, als die Israelis am 6. Juni 1982 in den Libanon einmarschierten?

Am ersten Tag der Invasion habe ich gesagt: Die Israelis werden diesen Krieg verlieren. Viele Menschen haben mir damals ihre Befürchtungen mitgeteilt, daß es zu einem Massaker kommen werde. Ich kann mich noch gut an ein Gespräch mit einer Palästinenserin erinnern, die meinte, die Israelis würden die christliche Phalange-Miliz dazu benutzen. Aber zu diesem Zeitpunkt habe ich ihr nicht geglaubt.

Kurz vor den Ereignissen von Sabra und Schatila bin ich nach Irland auf Urlaub gefahren. Dort habe ich von der Ermordung von Bashir Gemayel [dem Kopf der maronitischen Phalange, die mit Israel verbündet war] erfahren. So schnell ich konnte, fuhr ich nach Beirut zurück, obwohl mein Redakteur bei der Times nicht davon überzeugt war, daß etwas Schreckliches passieren könnte.

Egal, wie oft man Ihren Augenzeugenbericht aus den Lagern auch durchliest, er wirkt jedes Mal aufs neue erschütternd. Einer der Punkte, die Sie in Ihrem Text besonders betonen, ist die Tatsache, daß sie nicht verstehen konnten, warum die Kinder der Holocaust-Überlebenden, die israelischen Soldaten, dieses Massaker zuließen. Wie reagierte man in Israel auf diese Art der Kritik?

Israel hat sich durch seine eigenen Aktionen einen gewaltigen Schaden zugefügt. Sogar einige Israelis verglichen die Handlungen in Beirut mit den Ereignissen im Zweiten Weltkrieg. Ich kann mich an einen israelischen Professor erinnern, der mir sagte: »Wir können die Schande nicht von unseren Händen waschen – genauso wie die Nazis niemals die Schande abwaschen konnten von dem, was sie in Babi Yar getan hatten. Eine halbe Million Israelis demonstrierte damals in Tel Aviv gegen den Wahnsinn, den ihre Regierung in Schatila geschehen ließ.

An jenem Morgen, als ich in das Lager kam, sah ich einen Stapel Leichen dort liegen. Später habe ich zu einem israelischen Offizier vor dem Ausgang gesagt: »Das sieht aus wie in Treblinka.« Und er antwortete: »Ach ja?« Natürlich wußte er, wovon ich sprach. Mein Kollege von der Washington Post hatte ihn am Tag zuvor bei dem Lager gesehen, als das Massaker stattfand.

Angehörige der Opfer haben im Jahr 2001 in Belgien ein, letztlich abgelehntes, Verfahren gegen den israelischen Verteidigungsminister zum Zeitpunkt des Libanon-Kriegs 1982, Ariel Scharon, angestrengt. Wollten Sie dort als Zeuge aussagen?

Einige israelische Medien haben es so berichtet, aber das entsprach nicht der Wahrheit. Aus zwei Gründen trete ich niemals als Zeuge vor einem Gericht auf. Erstens: Wir sind Journalisten, keine Detektive. Ich kann doch keine Interviews mit irgendwelchen Kriegsherren führen und ihnen anschließend sagen: »Tut mir leid, aber vielleicht werden Ihre Aussagen als Beweis gegen Sie verwendet werden.« Der zweite Grund: Ich lasse mir von niemandem erklären, wer ein Kriegsverbrecher ist und wer nicht. Ich wurde vom Tribunal in Den Haag vorgeladen, um über die Kriegsverbrechen der bosnischen Serben zu berichten, und ich habe abgelehnt. Wenn sie schon Kriegsverbrecher unter Anklage stellen, dann sollen sie auch tatsächlich alle anklagen. Aber warum hat der Internationale Gerichtshof niemals Scharon vorgeladen? Was ist mit Rifaat Al-Assad [der Bruder des früheren syrischen Präsidenten], der für Zehntausende Tote beim Aufstand in Hama in Syrien 1982 verantwortlich ist und nun ein luxuriöses Leben in London führt? Und warum haben sie niemals Ehud Olmert angeklagt, der die Zivilisten im Gazastreifen ins Visier nehmen ließ?

Ich habe dem Mann vom Haager Gericht am Telefon erklärt, er müsse sich jemand anderen suchen. Daraufhin hat er gesagt: »Wir haben die Mittel, um Sie hierher zu bringen.« Dann habe ich aufgelegt.

Als Sie den Bericht über Sabra und Schatila in Buchform veröffentlichten, gaben Sie ihm den Titel »Terroristen«. Lange vor dem 11. September haben Sie diesen Begriff in Frage gestellt, indem Sie ihn auf die jene anwandten, die zur Rechtfertigung ihrer Aktionen fortwährend von »Terroristen« sprachen.

Ich habe diesen Begriff schon Tausende Male angezweifelt. Er wird dazu benutzt, Menschen zu verdammen – nicht wegen dem, was sie tun, sondern wegen dem, was sie vertreten. Es ist eine sinnlose Phrase. Natürlich sind einige Taliban »Terroristen«, aber was ist mit den Tausenden anderen? Das ist doch lächerlich. »Terrorismus« ist ein abschätziger Begriff, der dazu dienen soll, ein ganzes Volk unter Verdacht zu stellen. Er wird benutzt wie ein Satzzeichen. Was »Terrorist« wirklich bedeutet, ist: »Ketzer«. Um die Ketzer zu verfolgen und zu verurteilen, dazu wird dieses Wort gebraucht. Es ist ein gefährliches Wort.

Interview: Stefan Kraft

* Aus: junge Welt, 13. April 2011

Hintergrund: Massaker im Libanon

Die Fliegen haben es uns erzählt – mit diesem Satz beginnt Robert Fisks erschütternde Reportage aus den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila im Jahr 1982. Er war einer der ersten Journalisten, die nach dem Massaker an den Bewohnern der Camps den Schauplatz des Verbrechens betraten. Hunderte, Tausende Leichen waren von den Mördern der christlichen Phalange-Miliz in den Gassen der Lager aufeinandergestapelt worden – »Millionen von Fliegen« umschwirrten die Kadaver, wie Fisk aufschreiben wird. Was er und seine Begleiter zu sehen bekamen, konnten sie im ersten Moment kaum fassen.

Es war Robert Fisk, der das wahre Ausmaß des Massakers erkundete und der Weltöffentlichkeit übermittelt hatte. Dabei wagte er sich in die engen Gänge der Lager vor, befragte die wenigen Überlebenden, die triumphierenden Täter und die Drahtzieher der Grausamkeiten: die israelische Besatzungsarmee im Libanon und die israelische Regierung. Verteidigungsminister Ariel Scharon und seine Untergebenen hatten den Phalangisten freie Hand bei der Ermordung der palästinensischen Zivilisten gegeben– wie Fisks Reportage beweist, handelte es sich bei den Opfern keineswegs nur um PLO-Kämpfer, wie die Verantwortlichen glauben machen wollten. Statt dessen wurden weder Frauen noch Kinder geschont. Israelische Soldaten hatten die Ausgänge des Lagers während des Gemetzels bewacht und mit Leuchtraketen über den Lagern dafür gesorgt, daß die libanesischen Milizen gute Sicht auf ihre Opfer hatten.

Fisks Bericht ist ein dramatisches, bedrückendes, aber zugleich auch zutiefst politisierendes Beispiel für engagierten Journalismus. Seine persönliche Haltung und seine Betroffenheit sind in jedem Satz spürbar. Zugleich will er die Schuldigen namhaft machen und so der Weltöffentlichkeit die Hintergründe von Krieg und Gewalt im Libanon erklären.

Ariel Scharon als Mitverantwortlicher des Massakers mußte seinen Posten 1983 räumen. Dennoch wurde er 2001 Ministerpräsident Israels, das bislang nicht aufgehört hat, den Libanon und seine Einwohner militärisch zu bedrohen und im Zweifelsfall auch zu bombardieren und zu überfallen. Sabra und Schatila werden auch heute noch von palästinensischen Flüchtlingen bewohnt, die weiter rechtlos und schutzlos um ihr Überleben kämpfen.

Robert Fisk: Sabra und Schatila. Ein Augenzeugenbericht. Libanon 1982. Aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Heiser. Promedia-Verlag Wien 2011, 96 Seiten, 9,90 Euro

** Aus: junge Welt, 13. April 2011




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