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"Wir sind wieder am Nullpunkt angelangt"

Der Libanon-Krieg ist ein neues Hindernis für Frieden im Nahen Osten. Ein Gespräch mit Boutros Boutros-Ghali

Boutros Boutros-Ghali war von Januar 1992 bis Dezember 1996 sechster Generalsekretär der Vereinten Nationen. Eine zweite Wahlperiode blieb ihm versagt, weil er wegen seiner unabhängigen Politik bei der US-Administration in Ungnade gefallen war.
1977 wurde der Ägypter Staatsminister im Außenministerium der Regierung von Anwar Al Sadat. Im gleichen Jahr nahm er an dessen historischer Reise nach Israel teil. Boutros-Ghali setzte sich für die Aussöhnung zwischen Ägypten und Israel ein und war einer der Architekten des Camp-David-Abkommens von 1979. Boutros Boutros-Ghali hat sich an der Lösung mehrerer Konflikte in Afrika beteiligt. Auch an der Freilassung von Nelson Mandela 1990 wirkte er mit. Von 1997 bis 2002 war er Generalsekretär der Internationalen Organisation der Frankophone, einer Organisation französischsprachiger Länder. Auf Deutsch sind zwei Bücher von ihm erschienen: "Hinter den Kulissen der Weltpolitik" (2000) sowie "Wider die Tyrannei der Dringlichkeit" (2001).
Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview, das in der "jungen Welt" veröffentlicht wurde.*



Wenngleich allgemein begrüßt, ist die UN-Resolution 1701 zum Libanon weit davon entfernt, perfekt zu sein. Ist dieser Nahost-Friedensdeal fair?

Resolution 1701 ist ein erster Schritt zur Lösung des Problems, das heißt zur Beendigung der Konfrontation zwischen der Hisbollah und Israel– und das ist an sich positiv. Man muß jetzt auf dieser Resolution aufbauen. Es ist wichtig, daß die internationale Gemeinschaft die Lösung des Nahost-Problems im Blick behält und unterstützt. In den vergangenen drei Wochen hatte man dem nicht genug Beachtung geschenkt, und am Ende waren alle geschockt über das Maß an Gleichgültigkeit, das die internationale Gemeinschaft an den Tag legte.

Die UN-Resolution 1701 wird von manchen als zu einseitig kritisiert, auch weil sie Israel Interpretationsmöglichkeiten eröffnet.

Jede Resolution kann unterschiedlich ausgelegt werden. Ich habe erwähnt, daß Resolution 1701 ein erster, positiver Schritt ist. Wichtig ist, daß jetzt auch der zweite Schritt gemacht wird.

Wie sollte der zweite Schritt aussehen?

Die Verhandlungen zwischen den unterschiedlichen Beteiligten müssen fortgesetzt werden.

Frankreich will 200 Soldaten für die UN-Truppe in der sogenannten Pufferzone im Südlibanon bereitstellen. Die Vereinten Nationen sind enttäuscht, hatten sie doch auf ein weitaus stärkeres europäisches Kontingent gehofft. Sind es die Europäer müde geworden, den Frieden zwischen Israelis und Araber zu bezahlen?

So viel Gleichgültigkeit bei der internationalen Gemeinschaft ist schockierend; die Tatsache, daß die internationale Gemeinschaft nicht aktiv zur Lösung des Problems beitragen will, ist eine Enttäuschung. Eine aktive Beteiligung setzt die Entsendung von Truppen voraus, die an der Grenze zwischen Israel und Libanon stationiert werden.

Länder, die potentiell Truppen zugesagt haben, befürchten, in einen künftigen Konflikt verstrickt zu werden. Daher fordern sie klare Regeln für eine Beteiligung.

Wieder muß ich betonen: Warum bringen sie dann nicht eine zweite Resolution ein, die die Beteiligung explizit regelt? Eine zweite Resolution kann Klarheit für die Mitgliedsstaaten bringen, so daß einer Truppenentsendung nichts mehr im Wege steht.

Bangladesch hat überraschend ein Kontingent von 2000 Soldaten zugesagt, Malaysia will 1000 stellen. Allerdings hat Israel eingewendet, es werde keine Truppen von Ländern wie Malaysia akzeptieren, die das Existenzrecht Is­raels nicht anerkennen. Was halten Sie davon?

Die Truppen sind auf libanesischem Territorium, nicht auf israelischem. Israel sollte bei der Zusammenstellung der Truppen kein Mitspracherecht haben.

Wenn es in diesem israelischen Krieg gegen den Libanon nicht um die beiden von der Hisbollah entführten israelischen Soldaten ging, worum ging es dann?

Ich habe keine Ahnung, was Israel sich dabei gedacht hat. Ich weiß nur, daß das Land etwas dazu bewogen haben muß, das Militär einzusetzen.

War der Krieg rechtlich oder moralisch gerechtfertigt?

In keiner Weise.

Also ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht?

Es liegt eine ganze Reihe von Verstößen gegen das Völkerrecht vor. Wie Sie wissen, gibt es für Israel eine gewisse »Immunität«, die darauf basiert, daß die Supermacht Amerika ihr Vetorecht zugunsten Israels einsetzt.

Bei den israelischen Bombenangriffen auf Kana im April 1996 sind 106 Zivilisten, die auf dem UNIFIL-Gelände Schutz gesucht hatten, getötet worden. Zehn Jahre später, in diesem Juli, sind im israelischen Bombenhagel erneut mindestens 28 Menschen ums Leben gekommen. Sehen Sie Ähnlichkeiten zwischen den beiden Vorfällen? Kann man beide Male von Massakern oder Kriegsverbrechen sprechen?

Auch das muß der Entscheidung eines internationalen Gerichts überlassen werden. Es muß diskutiert werden. Das heißt, man hat verschiedene politische und juristische Instanzen, die feststellen: Es ist ein Massaker, es ist ein Verbrechen etc. Wir brauchen dazu das Urteil eines unabhängigen, objektiven Tribunals oder einer Organisation.

UN-Generalsekretär Kofi Annan hat sich für eine umfassende Untersuchung der Kana-Bombenangriffe am 30. Juli ausgesprochen. Erinnert Sie das an Ihre eigenen Bemühungen zur Aufklärung des Vorfalls in Kana vor zehn Jahren?

Ja, natürlich. Ich habe damals gleich eine Kommission einberufen, die die Ergebnisse ihrer Untersuchungen in einem Bericht vorlegen sollte.

Soweit mir bekannt ist, haben Ihnen die Vereinigten Staaten damals mit der Einlegung eines Vetos gegen eine zweite Amtszeit als Generalsekretär gedroht, sollten Sie diesen Untersuchungsbericht publizieren?

Es war etwas komplizierter, als Sie das jetzt darstellen, aber ja, der Bericht der Untersuchungskommission wurde im Sicherheitsrat präsentiert. Es war wichtig, daß der Bericht als offizielles Dokument bei den Vereinten Nationen vorliegt.

Wird das auch für den Kana-Vorfall vom 30. Juli geschehen?

Ich weiß es nicht.

Welche Rolle wird die Hisbollah künftig spielen? Sollte sie entwaffnet werden? Und wer ist in der Lage, dies zu tun?

Das alles muß in einer zweiten Resolution festgelegt werden. Und dann müssen weitere Schritte und Entscheidungen hinsichtlich eines Wiederaufbaus des Libanon folgen.

Welche Rolle werden Syrien und der Iran in nächster Zeit spielen?

Sie müssen diese Frage an Syrien und den Iran richten, nicht an mich. Ich bin nicht in der Position, irgendeinem der Mitgliedsstaaten Ratschläge zu erteilen; sie müssen selbst entscheiden, welche Richtung sie einschlagen wollen.

Die Tatsache, daß der Sicherheitsrat so lange gebraucht hatte, um Resolution 1701 zu verabschieden, hat die »Welt in ihrem Glauben an die Autorität und Integrität der Vereinten Nationen erschüttert«, erklärte Kofi Annan nach deren Beschluß. Wie glaubwürdig ist die UNO noch – nach den Kriegen in Libanon, in Gaza und im Irak?

Seit dem Ende des Kalten Krieges befindet sich die UNO in einer Krise. Der Konflikt im Libanon verschärft diese Situation noch. Ich stimme Ihnen zu: Wir haben heute das Problem der Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen.

In Zeiten, in denen Völkerrecht und Menschenrechte unterlaufen und ignoriert werden, bräuchte es dringend eine Instanz, in der die Stimmen aller Nationen Gewicht haben. Können Sie sich vorstellen, daß der UN-Sicherheitsrat in absehbarer Zukunft aufgelöst wird?

Sie sprechen die Reformen der Vereinten Nationen an. Ich glaube, wir sollten uns zunächst um den Erhalt der Vereinten Nationen bemühen. Es ist die einzige existierende internationale Organisation, und es muß in unser aller Interesse liegen, die UNO wieder zu stärken. Solange die Mitgliedstaaten sich nicht einig sind, wird eine Erneuerung der Vereinten Nationen sehr schwierig werden. Die UNO ist die Stimme aller Nationen, aber diese Stimme ist derzeit geschwächt.

Kann man mit Sicherheit davon ausgehen, daß die Reformen stattfinden?

Es ist meine Hoffnung, daß sie stattfinden werden, und daß Sie, Ihre Generation, sich für die dritte Generation dieser internationalen Organisation stark machen wird. Die erste Generation war der Völkerbund in Genf, die zweite Generation sind die Vereinten Nationen in New York und die kommende Form, die noch errungen werden muß, wird die dritte Generation sein.

Warum ist der Erhalt der Vereinten Nationen so wichtig?

Wir brauchen eine internationale Organisation, die über die Globalisierung der internationalen Gesellschaft wacht. Genauso wie wir ein internationales Gericht brauchen, das über globale Umweltfragen und internationale Verbrechen nachdenkt.

Gibt es derzeit Länder, die Sie als vielversprechend für die Vereinten Nationen und den Weltfrieden erachten? Gibt es Politiker, von denen Sie sich wünschen, daß sie mehr Führungsstärke zeigten?

Vorläufig sehe ich leider zu wenig Führungsstärke in dem Bemühen um Frieden und der Suche nach Lösungen für die vielen unterschiedlichen Probleme in der Welt. Schauen Sie, was in Darfur passiert. Es gibt dort einen Genozid, aber die internationale Gemeinschaft greift nicht wirksam ein.

In einem Interview, das Sie 1979 als ägyptischer Staatsminister im Auswärtigen Amt dem Worldview Magazine in Kairo gegeben haben, erklärten Sie zuversichtlich: »Die Palästinenser werden ihre Unabhängigkeit erlangen«. Heute, 27 Jahre später, ist der Nahe Osten noch blutiger geworden. Sind Sie noch immer optimistisch, was die Palästina-Frage angeht?

Vielleicht liegt es an meinem Alter, daß ich mittlerweile mehr zum Pessimismus neige. Ich glaube heute, daß die Lösung des Problems viele weitere Jahre in Anspruch nehmen wird. Ich sage heute sogar, daß der Krieg im Libanon der letzten Wochen in gewisser Weise ein neues Hindernis für den Frieden darstellt. Wir sind wieder am Nullpunkt angelangt. Wir sind wieder dort, wo wir vor dem Jerusalem-Besuch von Präsident Sadat waren.

Sie sagten einmal mit Blick auf Nahost: »Ohne richtige Beziehungen wird es keinen Frieden geben …«

Ja, dennoch leben wir bis auf weiteres in einer Zeit der Krisen – wir haben Krisen an der Elfenbeinküste, in Darfur und im Libanon. Ich sehe keine schnellen Lösungen in Reichweite.

Wie kann in der konfliktreichen Nahost-Region ein dauerhafter und nachhaltiger Frieden erreicht werden?

Meiner Meinung nach ist ein wirklicher Frieden im Nahen Osten nur durch die Konstituierung und allgemeine Anerkennung eines palästinensischen Staates möglich.

Interview: Andrea Bistrich

* Aus: junge Welt, 22. August 2006

Weitere Beiträge, die sich kritisch mit der UN-Resolution 1701 (2006) befassen:
"UN-Resolution ist keine Basis für Frieden"
Hauptproblem bleibt die Frage nach einem palästinensischen Staat. Ein Gespräch mit Issam Makhoul (23. August 2006)
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Was wäre geschehen, hätte die Hisbollah in höchster Bedrängnis Mittelstrecken-Raketen auf Tel Aviv abgefeuert? Von Mohssen Massarrat (22. August 2006)
Kein Sieger, kein Verlierer
UN-RESOLUTION 1701: Ein erstaunlich realistisches Dokument. Von Peter Strutynski (20. August 2006)
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"Mit dem Waffenstillstand beginnt der eigentliche Krieg" / As the 6am ceasefire takes effect ... the real war begins
Israel steht der härteste Guerillakampf in der Geschichte des Landes bevor (englisch) (19. August 2006)



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