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Wahlen im Zeichen der Ukrainekrise

In Lettland entscheiden die Bürger am Sonnabend über ein neues Parlament

Von Toms Ancitis, Riga *

Zwar ist das Verhältnis zu Russland seit 20 Jahren ein wichtiges Thema in Lettland. Doch wegen der Ukraine-Krise spielt es bei den Parlamentswahlen am Sonnabend eine noch stärkere Rolle.

Die Auswahl ist nicht klein: Der Bürger kann bei den achten Parlamentswahlen seit der Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepublik Lettland 1991 zwischen 13 Parteien wählen. Zwar sind rund die Hälfte der Parteien kaum bekannt, weil sie nur wenige Jahre oder gar Monate vor den Wahlen gegründet worden sind. Doch viele Spitzenkandidaten der Neugründungen sind erfahrene Politiker, darunter mehrere ehemalige Regierungschefs, Abgeordnete und Minister. Sie verließen ihre bisherigen Parteien oder diese lösten sich auf, da sie bei den vergangenen Wahlen nicht mehr ins Parlament kamen. Nun versuchen sie, mit einem »Neuangebot« zurück zur Macht zu kehren.

Die neuen Parteien kritisieren gerne die Politik des ehemaligen Regierungschef Valdis Dombrovskis und der regierenden rechtsliberalen Partei »Einigkeit«. Als Lettlands Wirtschaft zwischen 2008 und 2010 um mehr als 20 Prozent einbrach, setzte Dombrovskis auf einen radikalen Spar- und Sanierungskurs. Heute verzeichnet Lettland wieder ein Wirtschaftswachstum von 4,2 Prozent. Die Sanierung der Wirtschaft sei auf Kosten der Armen gegangen und habe die soziale Ungleichheit in Lettland noch vertieft, bemängeln Kritiker.

Unter diesen ist auch die ehemalige Chefin des lettischen Staatlichen Rechnungshofs Inguna Sudraba. Sie hat ihre eigene Partei »Für Lettland aus dem Herzen« gegründet und nennt als Ziel, den Staat »sicherer und unabhängiger« machen zu wollen. Umfragen zufolge hat von den neuen Parteien nur ihre eigene eine realistische Chance, die 5-Prozent-Hürde zu überwinden. Die anderen Parteien, die laut Umfragen in das Parlament einziehen können, sind die bereits dort vertretene »Einigkeit« von Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma, die rechts stehende Nationale Allianz, die Grünen sowie die Bauern und das »prorussische« Harmoniezentrum, das sich selbst als sozialdemokratische Partei bezeichnet. Einigkeit und Harmoniezentrum liegen laut Umfragen vorne.

Seit Jahren hat Letzteres eine der größten Fraktionen im lettischen Parlament, war aber noch nicht in der Regierung vertreten. Bei den vergangenen Wahlen war die Partei mit 28 Prozent Stimmen Siegerin. Allerdings wurde ihr von den anderen Parteien die Regierungsbildung verwehrt, weil sie als »prorussisch« gilt und sich weigert, die sowjetische Zeit als Besatzung anzuerkennen. Derzeit macht das Harmoniezentrum im Zentrum von Riga mit einer besonderen Methode Wahlkampf. Die russischsprachigen Passanten werden von den russischsprachigen Parteiaktivisten angesprochen, die Letten dagegen von den lettischsprachigen.

»Wir sind eigentlich keine Russen-Partei«, betont Nils Ušakovs, Parteichef und Bürgermeister von Riga sowie Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten. Die Partei steht zwar für gute Beziehungen mit Russland, unterstützte die Einführung des Russischen als zweite Amtssprache und ihre Hauptwähler sind die in Lettland lebenden Russen, doch auf der Kandidatenliste stehen auch viele ethnische Letten.

Doch die Ukrainekrise hat die Chancen des Harmoniezentrums verschlechtert. Die Partei weigert sich, ihre Meinung über Putins Agieren in der Ukraine klar zu machen. Ušakovs hatte in einem Interview sogar gesagt, »das beste, was wir haben können, ist Präsident Wladimir Putin«. Durch solche und andere Äußerungen werden die »lettischen Wähler« verschreckt, weil viele Angst haben, dass Putin im Baltikum ähnlich vorgehen könnte wie in der Ukraine. Die Folge: Laut einer Umfrage des Instituts SKDS liegt das Harmoniezentrum bei nur knapp 20 Prozent.

»Unsere Teilnahme an der Regierung ist vor allem für die Bevölkerung Lettlands notwendig, nicht so sehr für uns selbst«, sagt Ušakovs. Andere sehen das anders: Lettland drohe keine direkte militärische Gefahr von Russland. Die »Hauptbedrohung haben wir mit diesen Parlamentswahlen in unserem eigenen Land«, sagte kürzlich Māra Zālīte, eine lettische Schriftstellerin – und meinte damit einen möglichen Sieg des Harmoniezentrums.

Der Chef der Nationalen Allianz Raivis Dzintars meinte kürzlich in der Tageszeitung »NRA«: »Wenn das Harmoniezentrum, das offiziell Kooperationspartner von Putin ist und Schwierigkeiten hat, die Aggression Russlands in der Ukraine anzuerkennen, in die Regierung aufgenommen würde, wäre das ein Signal für die Welt, dass wir selbst ein Vasallenstaat Russlands werden wollen.«

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 2. Oktober 2014


Schwächelnde Harmonie

Lettland wählt ein neues Parlament. Sozialdemokraten müssen mit Einbußen rechnen

Reinhard Lauterbach **


Am Samstag finden in Lettland vorgezogene Parlamentswahlen statt. Da auch das amtierende Parlament einer vorgezogenen Wahl entsprang, muß es nach der lettischen Verfassung bereits nach drei Jahren neugewählt werden. Der regierenden konservativen Koalition kommt der Termin entgegen, weil sie nicht in der Zeit der im ersten Halbjahr 2015 anstehenden EU-Präsidentschaft Lettlands, die die politischen Ressourcen des kleinen Landes ohnehin stark strapazieren wird, auch noch Wahlkampf betreiben muß.

Zur Wahl treten insgesamt 13 Parteien und Parteienbündnisse an. Ergebnisse oberhalb der für den Einzug ins Parlament maßgeblichen Fünfprozenthürde werden jedoch nach aktuellen Umfragen nur sechs davon erreichen. Die Demoskopen rechnen damit, daß die sozialdemokratische und als »prorussisch« verschriene Partei »Harmoniezentrum« ihre 2011 errungene Position als stärkste politische Kraft nicht wird halten können und hinter der zuletzt regierenden konservativen Sammlungsbewegung »Einigkeit« von Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma auf Position zwei zurückfallen wird. Beachtliche 14 Prozent werden dem noch weiter rechts angesiedelten Parteienbündnis »Nationale Allianz« vorausgesagt, dessen Vertreter regelmäßig bei den Märschen lettischer SS-Veteranen auftreten.

Die prognostizierte Schwächung des von dem Bürgermeister der Hauptstadt Riga, Nils Uschakows, geleiteten »Harmoniezentrums« dürfte mehrere Ursachen haben. Auf der einen Seite haben es die lettischen Konservativen trotz ihrer Zersplitterung 2011 geschafft, die Partei von der Regierungsbildung fernzuhalten, und sie setzen in ihrer Tagespolitik weiter ethnonationalistische Akzente. So wurde in diesen Tagen ein neues Rundfunkgesetz verabschiedet, das alle Sender im Lande, die ihre Beiträge zu mindestens 50 Prozent auf Lettisch (und im übrigen auf Russisch) ausstrahlen, verpflichtet, bis 2016 vollständig auf Lettisch als Programmsprache überzugehen. Russische Popmusik darf zwar noch gespielt werden, muß aber künftig auf Lettisch moderiert werden. Die Neuregelung soll verhindern, daß in Rußland produzierte politische Programme übernommen werden, denn das offizielle Lettland fürchtet, daß Moskau die russische Minderheit von immerhin rund 30 Prozent der Bevölkerung gegen den Staat aufhetzen und nach ukrainischem Vorbild »Separatismus« fördern wolle. Es kommt dabei nicht darauf an, daß die Russen nur in einer Region des Landes, dem im Winkel zwischen Belarus und Rußland gelegenen Latgalien, eine relative Mehrheit darstellen und diese Region von keinerlei strategischem oder wirtschaftlichem Wert für Moskau wäre.

Der zweite Grund für eine mögliche Schwächung des »Harmoniezentrums« liegt darin, daß Uschakows, dessen Partei unter anderem als Vertretung der Interessen der »Nichtbürger« (Menschen, die weder die lettische noch eine andere Staatsbürgerschaft besitzen - meist Russen) groß geworden ist, in der letzten Legislaturperiode von diesem Thema abgerückt ist, um auf gesamtlettischer Ebene koalitionsfähig zu werden. Die potentiellen Partner halten Uschakows immer neue geschichtspolitische Stöckchen hin: Der letzte ist die Forderung, den Anschluß der baltischen Staaten an die Sowjetunion 1940 als von Anfang an unrechtmäßig – und damit die Diffamierung der eigenen Klientel als »Okkupanten« – anzuerkennen. Mehrere prominente Politiker seiner Partei haben diese in den letzten Monaten verlassen, weil sie Uschakows Opportunismus in der Vergangenheitspolitik vorwerfen.

Ob dies der linken und als prorussische Hardlinerpartei geltenden Gruppierung »Für Menschenrechte in Lettland« in relevantem Maße nutzen wird, bleibt abzuwarten. Bei den Wahlen von 2011 hatte die Partei nur noch etwas über 7.000 Stimmen bzw. 0,8 Prozent erhalten. Seit 2009 sitzt allerdings Tatjana Zdanoka als Vertreterin dieser Partei im Europaparlament. Sie hat sich als Unabhängige der Fraktion der »Grünen« als Beobachterin angeschlossen, steht dort allerdings unter Druck, weil sie den antirussischen Kurs der Fraktionsführung nicht mitträgt. Im März hatte die Co-Vorsitzende der grünen EP-Fraktion, Rebecca Harms, deshalb ihren Ausschluß verlangt; bisher ist in der Angelegenheit aber offenbar nichts Entscheidendes geschehen, denn Zdanoka figuriert auf der Webseite des EP weiterhin als Angehörige der Fraktion.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 2. Oktober 2014


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