Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Keine Blumen für die SS

Antifaschisten mobilisieren gegen Marsch der lettischen Legionäre am 16. März in Riga

Von Peter Rau *

Am ›Tag der Legionäre‹ Blumen für die Waffen-SS?« Dieser Frage widmete sich in der vergangenen Woche eine gut besuchte Informationsveranstaltung in Berlin. Eingeladen dazu hatten die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR), die Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) und die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK). Als Gäste wurden die beiden Antifaschisten Joseph Koren und Aleksej Shapirov aus der Republik Lettland herzlich begrüßt (siehe auch jW vom 19. Februar).

Der Anlaß für diese Zusammenkunft: Wie in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten ist in der lettischen Hauptstadt Riga auch für den 16. März dieses Jahres ein neofaschistischer Aufmarsch geplant, mit dem jene Legionäre geehrt werden sollen, die einst im Rahmen der deutschen Waffen-SS mit dem Hitler-Regime kollaboriert hatten. Die Waffen-SS galt den Nazi-Oberen seinerzeit als fanatische Elitetruppe. Ihre Angehörigen sollten »Träger des nationalsozialistischen Rasse- und Lebensraumgedankens … für die Neuordnung Europas« sein, wie es vor Jahren in einer ARD-Dokumentation hieß. Selbst höchste Militärs der Wehrmacht gaben sich wiederholt empört angesichts ihrer Grausamkeit und »Mentalität von Schlächtern«.

Hervorgegangen aus der sogenannten Leibstandarte Adolf Hitler und den berüchtigten Totenkopfverbänden der KZ-Wachmannschaften bzw. der SS-Verfügungstruppe, nahm die Waffen-SS mit ihren ersten Divisionen bereits am Einmarsch in Polen im September 1939 teil. Mit dem weiteren Kriegsverlauf wuchs deren Mannschaftsbestand von 100000 Mitte 1940 auf 910000 Ende 1944 an, als die Elitetruppe von Heinrich Himmler, dem Reichsführer SS, über sage und schreibe 38 Divisionen verfügte. Allerdings zählte schon 1943 jeder vierte Grenadier der Waffen-SS zu den sogenannten und zu einem wesentlichen Teil auch zwangsrekrutierten Volksdeutschen. Hinzu kamen ein beträchtliches Reservoir aus »germanischen Ländern« in Nord- und Westeuropa sowie als »Beutegermanen« reklamierte Osteuropäer aus der Ukraine oder dem Baltikum. Insbesondere letztere mutierten zusehends zu »Trägern des politischen Terrors in den besetzten Gebieten«. Das war in Lettland, das sich erst im Juli 1940 als Sowjetrepublik proklamiert hatte*), nach der Okkupation durch die Nazis im Juli/August 1941 nicht anders.

Insgesamt gingen bis zu 150000 Menschen der etwa zwei Millionen zählenden Bevölkerung, von denen rund 70 Prozent Letten waren, den deutschen Besatzern zur Hand. Sei es in den Organen der Selbstverwaltung, im »Ordnungsdienst«, als Hilfspolizisten, in Sonderkommandos gegen Partisanen wie gegen die etwa 90000 Juden, von denen nur wenige den Holocaust überleben sollten, oder in der »lettischen Freiwilligen-Legion«. Aus deren Bestand waren 1943/1944 auch die beiden lettischen Divisionen der Waffen-SS, die 15. und die 19., mit jeweils rund 20000 Mann, selbstredend unter deutschem Befehl, rekrutiert worden.

Zwar reklamierten die Nazi-Kollaborateure damals für sich – und sie bzw. ihre Nachfahren bis hin zu Andris Berzins, dem gewählten Präsidenten, tun das bis in die Gegenwart hinein –, Vorkämpfer für die Freiheit und Unabhängigkeit Lettlands gewesen zu sein. Doch die Spur ihrer dabei verübten Verbrechen, vor allem, aber nicht nur gegenüber der jüdischen Bevölkerung, sprach und spricht eine andere Sprache. Dafür steht nicht zuletzt die Wahl des Gedenktages selbst. Der 16. März erinnert an die erste große Konfronta­tion der lettischen SS-Verbände mit den Truppen der Roten Armee am nordwestrusssischen Fluß Welikaja nahe der lettischen Ostgrenze im Jahr 1944. Zwischen 1994 und 2000 wurde dieser Tag gar als staatsoffizieller Feiertag zelebriert. Dessen von Teilen der Regierungskoalition betriebene Wiedereinführung scheiterte nicht zuletzt an Vorbehalten der EU, deren Mitglied Lettland seit 2004 ist.

Über all diese Hintergründe informierten am vergangenen Donnerstag nun in Berlin die Vertreter von »Lettland ohne Nazismus«, Joseph Koren, und Aleksej Shapirov vom Lettischen Antifaschistischen Komitee. Entschieden verurteilten beide, daß mit dem Waffen-SS-Gedenken die Geschichte nachhaltig retuschiert werde. Ihr gemeinsamer Appell und der Aufruf von FIR, VVN-BdA und DFG-VK, die Schar der Gegendemonstranten in diesem Jahr erheblich auszuweiten, fand an jenem Abend große Resonanz. So wird sich am 15. März wenigstens ein Reisebus von Berlin aus auf den Weg nach Riga machen.

Weitere Infos und Platzreservierungen: bundesbuero@vvn-bda.de

*) Am 5. Oktober 1939 sowjetisch-lettischer Vertrag über gegenseitige Hilfe einschließlich des Rechts der Roten Armee auf Stationierung von Truppen. Am 20. Juni 1940 Sturz der profaschistischen lettischen Regierung unter Diktator Karlis Ulmanis. Einen Monat später ging aus Parlamentswahlen ein neuer Volkssejm hervor, der am 21. Juli 1940 mit überwältigender Mehrheit die Lettische Sozialistische Sowjetrepublik proklamierte. Dem Antrag um Aufnahme in die UdSSR wurde am 5. August 1940 stattgegeben.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 26. Februar 2014


Zurück zur Lettland-Seite

Zur Lettland-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage