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Kein Zentrum der Harmonie

Lettland nach den Wahlen: Rußlandfreundliche Partei wird ausgegrenzt

Von Tomasz Konicz *

Die Partei »Zentrum der Harmonie« ist als Sieger aus der Wahl zum lettischen Parlament, der Saeima, hervorgegangen. Die prorussische Gruppierung, in der überwiegend Mitglieder der russischen Minderheit Lettlands ihre politische Heimat gefunden haben, konnte am Samstag vorläufigen Ergebnissen zufolge gut 30 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen. Auf Platz zwei kam aus dem Stand die neu gegründete »Reformpartei« des ehemaligen lettischen Präsidenten Valdis Zatlers, der diesen vorgezogenen Wahlgang vor seiner Abwahl initiiert und zu einer Abrechnung mit der Oligarchie des Landes erklärt hatte. Knapp hinter Zatlers Reformpartei landete mit 18,8 Prozent die Partei »Einheit« von Ministerpräsident Valdis Dombrovskis, die somit erhebliche Stimmverluste von knapp zwölf Prozentpunkten hinnehmen mußte.

Neben dem eher sozialdemokratisch ausgerichteten Zentrum der Harmonie und den genannten neoliberal-konservativen Parteien schafften noch die lettischen Nationalisten der Gruppierung »Alles für Lettland« (13,8 Prozent) und die Oligarchenpartei »Bündnis der Grünen und Bauern« (12,1 Prozent) den Einzug in die Saeima. Alle weiteren Gruppierungen, die mit der lettischen Oligarchie in Verbindung gebracht werden, scheiterten an der Fünf-Prozent-Hürde.

Ob mit dieser Wahl ein grundlegender Politikwechsel in der krisengeschüttelten Baltenrepublik eingeleitet wird, ist aber angesichts der ersten Reaktionen der relevanten politischen Kräfte äußerst fraglich. Zum einen scheint die politische Isolierung der russischen Minderheit weiterzugehen: Schon am Wahltag kündigten Vertreter der Parteien von Ministerpräsident Dombrovskis (Einheit) und Expräsident Zatlers (Reformpartei) Verhandlungen über eine Regierungsbildung auf. Die Forderungen von Andrejs Klementjevs vom »Zentrum der Harmonie«, als stärkste Partei an Koalitionsgesprächen beteiligt zu werden, verhallten ungehört. Da die beiden neoliberal-konservativen Parteien gemeinsam nicht die notwendige Mehrheit in der Saeima erreichen können, scheinen diese eine Koalition mit den antirussischen Nationalisten von »Alles für Lettland« in Erwägung zu ziehen.

Die anderen Parteien werfen dem »Zentrum der Harmonie« vor, enge Kontakte zum Kreml zu pflegen und sich der offiziellen lettischen Geschichtsinterpretation zu verweigern, derzufolge Lettland von der Sowjetunion okkupiert wurde. Die Differenzen zwischen dem Zentrum der Harmonie einerseits und der Reformpartei sowie der »Einheit« andererseits erstrecken sich aber auch auf die Felder der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die prorussische Partei konnte ihr gutes Wahlergebnis nicht zuletzt aufgrund der konsequenten Kritik an den knallharten Sparmaßnahmen erzielen, die Lettland im Zuge der Gewährung von EU-Notkrediten verordnet wurden. Diese Kritik wurde mit Forderungen nach einer Stärkung der sozialen Sicherungssysteme sowie einer Rhetorik der nationalen Aussöhnung verwoben: »Wir müssen die Eskalation des Konflikte zwischen Russen und Letten beenden«, mahnte der Vorsitzende der Parlamentsfrak­tion des »Zentrums der Harmonie«, Janis Urbanovics, noch kurz vor der Wahl. Die prorussische Partei sprach sich folglich auch für Nachverhandlungen der harschen EU-Sparauflagen aus, unter denen Lettland immer noch zu leiden hat.

In ersten finanzpolitischen Stellungnahmen machen hingegen Vertreter von »Einheit« und »Reformpartei« klar, auch hier keinen Politikwechsel vorzunehmen. Beide Partien erklärten, weiterhin die Sparauflagen Brüssels umzusetzen und auf strengste Haushaltsdisziplin zu achten. Die vergangenen drakonischen Ausgabenkürzungen führten in Lettland zu einer besonders schweren Wirtschaftskrise, in deren Verlauf das Bruttoinlandsprodukt zwischen 2008 und 2010 um rund ein Viertel einbrach. 2012 sollen zusätzlich Ausgabenkürzungen im lettischen Staatshaushalt von umgerechnet 254 Millionen US-Dollar realisiert werden

* Aus: junge Welt, 20. September 2011


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