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Korruption und Mißwirtschaft

Lettland ist zur vorgezogenen Wahl eines neuen Parlaments aufgerufen

Von Tomasz Konicz *

Bei einer vorgezogenen Wahl werden am morgigen Samstag (17. Sept.) rund 1,5 Millionen wahlberechtigte Bürger Lettlands über die Zusammensetzung des 100 Sitze umfassenden lettischen Parlaments, der Saeima, entscheiden. Die Abstimmung wurde nach einem entsprechenden Referendum am 22. Juli angesetzt, das vom scheidenden lettischen Präsidenten Valdis Zatlers initiiert worden war und bei dem sich eine überwältigende Bevölkerungsmehrheit von 95 Prozent für Neuwahlen ausgesprochen hatte.

Der im Juni vom Parlament abgewählte Zatlers hat seine Initiative mit dem Kampf gegen die ausartende Korruption und Oligarchenherrschaft in der krisengeschundenen Baltenrepublik begründet. Es gebe in Lettland Versuche, die »Demokratie zu privatisieren«, hatte das Staatsoberhaupt gewarnt. Zatlers hatte das Referendum am 28. Mai angesetzt, nachdem die Saeima sich weigerte, die Immunität des Oligarchen und Parlamentsabgeordneten Ainars Slesers im Zuge von Korruptionsermittlungen aufzuheben. Die Revanche des Parlaments folgte bei der turnusmäßigen Wahl des Präsidenten durch das Parlament am 2. Juni, als Zatlers mit 41 zu 53 Stimmen gegen seinen Herausforderer Andris Berzins – einen der reichsten Männer Lettlands – unterlag. Kurz nach der Abwahl von Zatlers demonstrierten mehr als 10000 Menschen in Riga gegen Korruption und den Einfluß der lettischen Oligarchie.

Obwohl sich laut neuesten Umfragen noch kein eindeutiger Sieger der anstehenden Wahlen abzeichnet, stehen zumindest dessen Verlierer den Prognosen zufolge schon fest: Die von den bekanntesten Oligarchen des Landes finanzierten oder geführten Parteien werden demnach statt 30 Prozent nur noch 14 Prozent der Stimmen erhalten. Konkret werden in der lettischen Öffentlichkeit das regierende »Bündnis der Grünen und Bauern«, das mit dem Geschäftsmann Aivars Lembergs in Verbindung gebracht wird, die Partei »Lettland zuerst/Der lettische Weg« und die »Volkspartei« des Unternehmers Andris Skele als Oligarchenformationen identifiziert. Derzeit hat nur das »Bündnis der Grünen und Bauern« mit Prognosen von 8,5 Prozent gute Chancen auf einen Wiedereinzug ins Parlament.

Die drei genannten Unternehmer haben in den vergangenen Jahren höchste Posten in Regierung und Staat innegehabt, während ihre Parteien – die nun teilweise aufgelöst werden oder um den Wiedereinzug ins Parlament kämpfen – auf dem Höhepunkt des schuldenfinanzierten lettischen Wirtschaftsbooms im Jahr 2006 zusammen mehr als 50 Prozent der Stimmen erringen konnten. Der tiefe Fall der Oligarchen ist aber vor allem auf die verheerenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf den Baltenstaat zurückzuführen. Der Zusammenbruch der lettischen Immobilienblase führte zu einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts von rund 25 Prozent zwischen 2008 und 2010. Korruption und Oligarchenherrschaft werden in Lettland mit diesem starken Kriseneinbruch in Verbindung gebracht.

Doch auch die vom ehemaligen Präsidenten Zatlers gegründete »Reformpartei« verlor in den letzten Wochen in den Meinungsumfragen deutlich an Boden. Diese Formation fiel in der Wählergunst von 17 auf nur noch 11,5 Prozent. Dies wäre zu wenig, um die von Beobachtern als wahrscheinlich erachtete Koalition mit dem »Einheitsblock« von Ministerpräsident Valdis Dombrovskis zu bilden, der mit rund 13 Prozent Wählerzuspruch rechnen kann. Daneben können noch die extremen Nationalisten der »Nationalen Vereinigung« auf einen Einzug in die Saeima hoffen.

Auf den höchsten Stimmenanteil käme mit prognostizierten 20 Prozent das »Harmonie-Zentrum« der rund 30 Prozent der lettischen Bevölkerung umfassenden russischen Minderheit. Das angeblich mit der Kremlpartei »Einiges Rußland« kooperierende »Harmonie-Zentrum« – in dessen Führungsriege sich auch Letten finden – stellte in einer geschickten Wahlkampagne vor allem soziale Forderungen in den Mittelpunkt. Zudem will diese Partei in Nachverhandlungen mit der EU bezüglich der harten Konditionen treten, unter denen Lettland die Notkredite in Höhe von 7,5 Milliarden Euro zurückzahlen muß, mittels derer die Baltenrepublik vor dem Staatsbankrott bewahrt werden mußte.

* Aus: junge Welt, 16. September 2011


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