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Geschenkte Einbürgerung?

In Lettland wird nach einer Unterschriftenaktion erneut über den Status der Nichtbürger debattiert

Von Toms Ancitis *

Am Morgen des 1. Januar 2014 könnten rund 300 000 Einwohner Lettlands mit einem beispiellosen Gefühl aufwachen: als Staatsbürger. Zwar hätten sie immer noch den Vermerk »Nichtbürger« in ihren Ausweisen, doch hätten sie eine behördliche Bestätigung, dass sie tatsächlich Bürger sind und die gleiche Rechte wie andere Einwohner Lettlands besitzen.

Vorerst ist es nur der Traum von Andrejs Tolmacovs. Der 39-jährige, in Riga geborene und in einer russisch-lettisch-sprachigen Familie aufgewachsene Ökonom war Abgeordneter des lettischen Parlaments. Als seine Partei »Für Menschenrechte im vereinten Lettland« vor drei Jahren nicht wieder in die Saeima gewählt wurde, landete er als Abgeordneter in der kleinen Gemeinde Olaine. Aber große politische Ziele verfolgt er nach wie vor. Tolmacovs ist derzeit Vorsitzender einer Bewegung »Für gleiche Rechte«, und die hat 12 000 Unterschriften für die automatische Einbürgerung der sogenannten Nichtbürger in Lettland gesammelt. Das reicht, um die nächste Hürde in Angriff zu nehmen - eine offizielle, staatlich gebilligte Sammlung von Unterschriften zur Unterstützung eines Referendums. Erforderlich sind dafür etwa 153 000 Signaturen. Die Aktivisten finden es absurd, dass 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeitserklärung Lettlands »die Frage der Nichtbürger« noch nicht gelöst ist. Es sei inakzeptabel, »dass Bürger jedes anderen EU-Staates, die ein halbes Jahr in Lettland gelebt haben, das Recht bekommen, an Kommunalwahlen teilzunehmen und sogar Abgeordnete zu werden, während 300 000 Menschen, die in Lettland geboren wurden und schon seit 60 Jahre dort wohnen, vom politischen Leben ausgeschlossen sind«, heißt es in der Erklärung der Bewegung.

Lettlands Ministerpräsident Valdis Dombrovskis lehnt die Idee der automatischen Einbürgerung jedoch kategorisch ab. Die Initiative sei eine »Provokation« und ein Versuch, »die Staatlichkeit des Landes zu zerstören«. Die Wahlkommission solle prüfen, ob es überhaupt verfassungsgemäß wäre, ein solches Referendum zu organisieren. Justizminister Janis Bordans von der nationalistisch orientierten Partei »Alles für Lettland« bemerkte, schon jetzt könne jeder Nichtbürger, der Staatsbürger werden will, problemlos einen Naturalisierungsprozess durchlaufen. Er muss lediglich einen lettischen Sprachtest und ein Examen in lettischer Geschichte bestehen. Der Staat sollte sich seiner Meinung nach nicht in die freie Entscheidung von Menschen einmischen, ob sie naturalisiert werden wollen oder nicht. Auch Dombrovskis sagt, man dürfe die Leute nicht zur Einbürgerung »zwingen«.

Die Chancen der Aktivisten, ihr Ziel zu erreichen, sind in der Tat gering. Auch wenn sie die nächste Hürde nehmen - für den Sieg bei einem Referendum bräuchten sie mindestens 229 421 Ja-Stimmen. Die Einwohner, die das größte Interesse daran hätten - eben die Nichtbürger - dürfen aber nicht abstimmen. Und der mittlerweile in der russischsprachigen Gemeinde populärste Politiker, Rigas Bürgermeister Nils Usakovs, Vorsitzender der Partei »Zentrum für Harmonie«, hat die Idee ebenfalls abgelehnt. Gerade seine Unterschrift unter eine andere Initiative - für die Einführung des Russischen als zweite Amtssprache - war maßgeblich dafür, dass fast 300 000 Wähler im Februar dafür stimmten (75 Prozent der Referendumsteilnehmer jedoch dagegen). »Ich habe den Naturalisierungsprozess in Lettland selbst erfahren. Mein Vater war Nichtbürger, meine Mutter ist noch immer Nichtbürgerin. Ich nehme diese Frage sehr persönlich wahr«, sagte Usakovs. Doch ist er der Meinung, dass ein solches Referendum keine Aussicht auf Erfolg hätte. »Das kann nur Provokateuren helfen, die den nationalen Konflikt wieder aufheizen wollen.«

Die Bewegung »Für gleiche Rechte« macht indes deutlich, dass es ihr nicht nur um die persönlichen Rechte der Nichtbürger geht. Falls die 300 000 Betroffenen wählen dürften, könnte sich das Kräfteverhältnis im Parlament deutlich verändern, denn die Mehrheit würde wahrscheinlich für russisch orientierte Parteien stimmen, sodass es einfacher wäre, erneut eine Initiative für Russisch als zweite Amtssprache anzustoßen.

Lexikon:Nichtbürger

Die Kategorie »Nichtbürger« wurde in Lettland 1991 eingeführt. Die Staatsbürgerschaft Lettlands wurde nur Bürgern der Republik Lettland nach dem Stand vom Juni 1940 und deren Nachkommen zuerkannt. Der Status des »lettischen Nichtbürgers« ermöglicht den betroffenen Personen, im Land zu leben und Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Doch dürfen sie weder wählen noch in Polizei oder Armee arbeiten. Die meisten Nichtbürger sind ethnische Russen (205 000), andere sind Ukrainer (30 000), Polen (10 000), Litauer (8000), Deutsche, Usbeken, Rumänen, Finnen und Angehörige anderer Nationalitäten.



* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 19. September 2012


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