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Medwedews Andenmarsch

"Russland ist nach Lateinamerika, darunter auch nach Kuba, bereits zurückgekehrt."

Von Andrej Fedjaschin, RIA Novosti *

Das war das Erste, was Dmitri Medwedew in Havanna beim Fazit zu den Ergebnissen seiner einwöchigen Lateinamerika-Reise (24. - 28. November) sagte. Bisher hat kein einziger russischer Präsident oder sowjetischer Führer so viele Länder der Region - Peru, Brasilien, Venezuela und Kuba - auf einmal besucht. In Venezuela hatte sich bisher überhaupt noch keiner der erwähnten Politiker sehen lassen.

In der russischen Gemeinschaft der Lateinamerika-Experten ist aus diesem Anlass eine starke Belebung zu bemerken. Alle, die auch nur halbwegs damit vertraut sind, was in den letzten zwanzig Jahren in der "lateinamerikanischen Richtung" der Moskauer Politik geschah, können es ihnen sehr wohl nachfühlen. Viele hatten schon nicht mehr gehofft, das zu hören, was Medwedew auf Kuba gesagt hat, und waren es bereits einfach müde, den Kreml an seine Companeros latinoamericanos zu erinnern.

Noch nie haben wir mit Lateinamerika so viele Abkommen und Memoranden wie dieses Mal unterzeichnet: von den traditionellen, das heißt über die militärtechnische, ökonomische und humanitäre Zusammenarbeit, bis zu Vereinbarungen, die sich auf mehrere Bereiche ausdehnen, zum Beispiel solche bisher nicht erschlossenen Sphären wie die Atomenergiewirtschaft, die gemeinsame Öl- und Gasgewinnung, den Bau von Tankern, die Einführung von Hochtechnologien, die Gründung von Banken u. a.

Über den Inhalt dieser Vereinbarungen ist schon viel geschrieben worden. Doch sie bilden nur einen Teil des sich zusammenfügenden Bildes. Das Comeback in Lateinamerika ist gut, aber bei weitem noch nicht alles. Es gilt, dort Fuß zu fassen, was nicht gerade einfach sein dürfte. Da werden keine Besuche von strategischen Bombern Tu-160, keine Besuche von Kriegsschiffen wie "Pjotr Weliki" und "Admiral Tschabanenko" helfen, auch wenn ihre gesamte Feuerstärke die aller Flotten aller südamerikanischen Länder zusammengenommen übersteigt.

Als US-Außenministerin Condoleezza Rice gefragt wurde, was sie zu den russischen Schiffen an der venezolanischen Küste denke, antwortete sie: "Einige russische Schiffe werden das Kräftegleichgewicht nicht verändern." Sehr richtig, wenngleich die Demonstration der Möglichkeiten der russischen Flotte zweifellos nützlich ist.

Sieht man all das Geschehende mit den Augen der Nordamerikaner und verfolgt man die Evolution ihrer Haltung zu Russlands "lateinamerikanischem Erwachen", so ergibt sich ein interessantes Bild. Die USA haben in den letzten zwei Jahren überhaupt so getan, als kümmerten sie sich herzlich wenig um die offenkundige Neigung Russlands zum Subkontinent im Ganzen und die flammende Freundschaft zwischen Moskau und Caracas im Besonderen. Das reizte sie gewiss, ohne sie jedoch zu beunruhigen. So sonderbar das auch anmuten mag.

Erst mit Medwedews Annäherung an die Anden erschienen in allen US-Zeitungen (gleich in allen) Kommentare vom Schlage "Mewedew fordert Obama in Lateinamerika heraus".

Der Sinn war einfach: Die USA, ihr neuer Präsident Barack Obama seien von der Wirtschaftskrise, dem Übergang von der einen Administration zur anderen viel zu sehr in Anspruch genommen; im Prinzip stehe Obama wohlmeinend zu Moskau, könne jedoch, da schwer beschäftigt, den Russen nicht antworten. Die würden das ausnutzen und eine himmelschreiende Provokation in Amerikas "Hinterhof" veranstalten. Eine Schweinerei so was.

Zu sagen ist, dass die Reise lange vor den Novemberwahlen in den USA geplant war, sogar noch zu einer Zeit, da niemand mit Sicherheit behaupten konnte, ob Obama oder McCain siegen würde.

Es gibt auch keine Logik in den Behauptungen, Moskau hätte abwarten sollen, bis Obama Präsident sei und seine Einstellung zu Lateinamerika bestimmt habe. Es gibt das uralte amerikanische: "Dort habt ihr nichts zu suchen."

Wenn sämtliche amerikanischen Zeitungen dasselbe schreiben, bedeutet das gewöhnlich, dass ihnen Informationen aus dem Außenministerium oder dem Weißen Haus "anvertraut" wurden. Folglich beunruhigt Russlands Rückkehr nach Lateinamerika die USA sehr. Und die künstliche Herabminderung beliebiger gelungener Errungenschaften oder Gewinne der Gegenseite ist in der Diplomatie Usus. Besonders, wenn die Diplomaten selber etwas verschlafen haben.

Niemand sollte sich der Illusion hingeben, die USA würden ihren "Hinterhof" aufgeben. So exotische Persönlichkeiten unter den Präsidenten wie ehemalige Angehörige der Luftlandetruppen (Venezuela), autochthone Indianer (Bolivien), Geistliche (Paraguay), Ultralinke, einfach Linke und gemäßigte Linke werden in den lateinamerikanischen Staaten nicht immer an der Macht sein.

Sobald sich Washington von den Wahlen, der Finanzkrise, der unter Bush üblichen fast völligen Vernachlässigung Lateinamerikas erholt und sich seinen Nachbarn allen Ernstes zuwendet, wird es sehr schwer sein, seinem Drang etwas entgegenzusetzen. Mit so einer ökonomischen und politischen Macht streitet es sich nicht so leicht.

Die Lateinamerikaner selbst wissen ebenfalls sehr wohl, dass ihnen das Leben ohne enge Verbindungen mit den nahen USA viel schwerer fallen würde, als ohne die neue Liebe zum fernen Russland. Moskau darf das nicht außer Acht lassen und sollte seine Politik auf Jahre hinaus aufbauen, und zwar so, dass es darin nicht zu Rückfällen in die noch nicht so fernen Jahre kommt, als Moskau einige Länder (zum Beispiel Kuba) einfach verwarf, verriet.

Übrigens spielte Obama, noch vor seiner Wahl zum Präsidenten, bereits seine "Ouvertüre" für Havanna. Im jüngsten Heft der Zeitschrift "The Nation" erschien ein sonst selten gewährtes Interview des kubanischen Präsidenten Raul Castro. Der Interviewer war der Hollywood-Schauspieler Sean Penn, ein alter Anhänger der Demokratischen Partei und Obamas persönlicher Freund aus den Zeiten noch vor den Präsidentschaftswahlen.

In seinem Interview sagte Raul Castro, er werde bereit sein, sich mit Obama "auf neutralem Territorium" zu treffen, und könne sogar ein Treffen in Washington "in Erwägung ziehen". Obama wird also Kuba sicherlich "aufdecken", denn dafür setzen sich in den USA fast alle ein, darunter die mächtige kubanische Diaspora in Miami. Auf Kuba wird Russland außerdem mit dem gewachsenen chinesischen Einfluss, mit den Franzosen, Kanadiern und Spaniern konkurrieren müssen.

Sieht man einmal von der Exotik ab, wie die Verwendung des venezolanischen Bolivars und des russischen Rubels bei den gegenseitigen Verrechnungen, der visafreie "Korridor" nach Brasilien und Venezuela, die Ordensverleihungen und der brasilianische Fußball in Russland, so stellt sich heraus, dass es auf Medwedews Reise weit ernstere Angelegenheiten gab, als die Spiele der Schiffe unter der St.-Andreas-Flagge an der venezolanischen Küste.

Einige davon sind freilich erst Pläne, aber wenn sich diese Pläne verwirklichen, wird Moskau sich endlich ganz im Ernst und nicht "gleichsam" wie bisher in den Weltfinanzmarkt gleich auf sehr hoher Ebene einschalten.

Das Wichtigste ereignete sich gleich nach "Medwedews Andenmarsch", seinem Flug von Peru nach Brasilien. Hochbedeutend war im "Lande des Fußballs" der Beschluss, der die Abkürzung BRIC (Brasilien, Russland, Indien und China) aus einem nur an der Börse gängigen Terminus in eine internationale Organisation oder zumindest ein ernstes Beratungsforum umwandeln könnte.

Dmitri Medwedew erklärte nach seinem Treffen mit dem brasilianischen Präsidenten, Russland werde 2009 bei sich einen BRIC-Gipfel durchführen. Ein Treffen der Staaten, die ihrem summarischen Finanz- und Wirtschaftsgewicht nach mit der gesamten Europäischen Union vergleichbar sind und sie in der Energiekomponente um vieles übertreffen, kann nicht mit einer Handbewegung abgetan werden.

Am erfreulichsten an diesem ganzen "Andenmarsch Medwedews" ist, dass er endlich zustande gekommen ist. Jeder Lateinamerika-Experte wird sagen, dass Russland seit den Zeiten der Gorbatschowschen Perestroika (die Jelzin-Jahre der völligen außenpolitischen Unmoral möchte man am liebsten vergessen) mit irgendeiner wenig erklärbaren Energie Lateinamerika zu vergessen bemüht war und durch jede seiner Handlungen das vernichtete, das dort im Zuge von Generationen geschaffen worden war.

Wäre nicht George W. Bush gewesen, unter dem der ganze Subkontinent ebenfalls, aber von Seiten der USA, auf Eis gelegt wurde, ist noch sehr unklar, wo wir jetzt wären. Vielen Dank dem "Freund George" (Jelzins Ausdruck), dass er die da unten, im Süden, vergessen hat.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 1. Dezember 2008; http://de.rian.ru


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