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"Wir unterstützen den gesellschaftlichen Wandel"

Demokratisches Gegengewicht zum Kommerzfunk: Basisradios in Lateinamerika *


Nicht-kommerzielle Lokalsender sind aus dem lateinamerikanischen Äther nicht mehr wegzudenken. Zu diesen »Radios von unten« gehören auch La Tribu FM im argentinischen Buenos Aires, Radio Wayna Tambo im bolivianischen El Alto und der Sender Libre Negro Primero in Venezuelas Hauptstadt Caracas. Im Interview mit ND erzählen drei ihrer Macherinnen von den Herausforderungen dieser täglichen Medienarbeit. Mit v.l.n.r. laria Arienta (Venezuela), Maria Davalos (Bolivien) und Sabina Mina (Argentinien) sprachen für "neues deutschland" (nd) Nils Brock und Jessica Zeller.


nd: Wo ist es derzeit um die Meinungsfreiheit im Radio besser bestellt? In Argentinien, wo es seit drei Jahren eines der besten Mediengesetze der Welt geben soll? Oder in Bolivien und Venezuela, wo linke Bewegungen ihre Ideen regierungsfähig gemacht haben?

Sabina: Das argentinische Mediengesetz sieht auf dem Papier sehr hübsch aus, aber wie es verwirklicht werden soll, ist in vielen Punkten weiter unklar. Ein Drittel aller Frequenzen ist darin eigentlich für nicht-kommerzielle Radios vorgesehen, die vielerorts die einzigen frei zugänglichen und unabhängigen Medien sind. Doch auch fragwürdige Kirchen und finanzstarke Stiftungen drängen in diesen Raum. Die sind den übrigen Radios Comunitarias zwar gleichgestellt, haben aber eine privilegierte Ausgangslage. Ich bin gespannt, wie sich diese subtilen Unterschiede praktisch auswirken werden.

Arienta: Mit der bolivarianischen Regierung sind in Venezuela viele neue Radios Comunitarias aus dem Boden geschossen. Das ist ein Ausdruck der freien Stimmen der Bevölkerung, von dem was heute möglich ist. Einige dieser Radios sind aber auch älter als die Regierung von Hugo Chávez.

Freie Stimmen können unbequem sein. Auch linke Regierungen sind patriarchalischen Gesten mitunter nicht abhold. Kommt es manchmal zu Konflikten oder Versuchen, kritische Stimmen zu unterdrücken?

Ilaria: Wir sind zwar keine professionellen Journalistinnen, wissen jedoch, welche Verantwortung wir mit dem Kommunikationsmedium Radio in Händen halten. Einmal haben wir als einzige vom Fall eines verhafteten Jugendlich berichtet, der auf einer Polizeiwache in Caracas gefoltert wurde. Daraufhin forderte die Stadtverwaltung am nächsten Tag einen Videobeamer zurück, den sie uns als Dauerleihgabe überlassen hatten. Sehr transparent das Vorgehen, aber eigentlich eher die Ausnahme. Direkte Angriffe nach kritischen Sendungen gab es nie.

Maria: Der Veränderungsprozess, der in Bolivien stattfindet, geht von der Gesellschaft aus. Aber es gibt nach wie vor Dinge, die zu wenig politische Beachtung finden. Gewalt gegen Frauen zum Beispiel wird von den Gerichten noch immer nicht konsequent verurteilt. Davon reden wir deshalb im Radio und fordern die Bewegung für den Sozialismus (MAS) dazu auf, sich diesem Problem endlich zu stellen. Ein alternatives Radio sollte nicht nur das Wort ergreifen, sondern auch handeln.

Sie sagen jetzt plötzlich alternatives Radio statt Radio Comunitaria ...

Maria: Ja, ganz bewusst. Denn Radios Comunitarias sind in Bolivien heute vor allem jene Sender, die finanziell vom Staat unterstützt werden. Das schränkt manchmal ein. Doch in Radio Wayna Tambo wollen wir nicht nur Beifall klatschen, sondern auch sehr kritisch sein können. Deshalb bezeichnen wir uns eher als alternatives Community Radio.

Sabina: Für uns in La Tribu ist es einfach unmöglich, völlig autonom und ohne staatliche Mittel zu agieren. Denn wir leben und arbeiten mitten in Buenos Aires. Deshalb kämpfen wir vielmehr dafür, dass beispielsweise staatliche Werbemittel gleichmäßig auf alle Medien verteilt werden und nicht nur staatlichen oder privaten Radios zugute kommen. Das ist eine Form der Finanzierung, die ich nicht als Abhängigkeit oder Subvention bezeichnen würde, denn am Ende holen wir uns da lediglich einen Teil der Steuergelder zurück.

Das macht es sicher um so wichtiger, die kritische Distanz zur rechten Stadtverwaltung hin und wieder zu unterstreichen, oder?

Sabina: Also einmal schickten sie uns statt der üblichen bezahlten Hinweise zur Verkehrserziehung stärker politisch gefärbte Spots, die wir ausstrahlen sollten. Das machten wir auch, aber nicht ohne jedes mal vorher einen Jingle abzuspielen, der klarstellte, dass wir mit den Inhalten absolut nicht einverstanden waren. Wir machten uns über die Werbekampagne lustig, doch die Stadtverwaltung hat dazu lieber geschwiegen.

Und wo ziehen Sie in Bolivien und Venezuela die Grenzen?

Ilaria: Wir bewahren uns im Radio Libre Negro Primero viel Autonomie, beim Denken, aber auch wenn wir Entscheidungen treffen. Wir unterstützen den gesellschaftlichen Wandel. Aber der fing nicht damit an, das Präsident Chávez eines Tages aufgewacht ist und gesagt hat, »Hey Leute, lasst uns die bolivarianische Revolution machen!« Das ist ein Prozess, der Jahre vorher in der Bevölkerung seinen Anfang hatte. Die Regierung Chávez ist vielmehr eine Frucht dieser Anstrengungen.

Maria: Kritik ist etwas sehr Gutes und Nützliches, wenn sie konstruktiv ist. Alle Radios Comunitarias sind Orte, an denen Kritik hörbar wird, Orte wo analysiert wird, wo Vorschläge geäußert werden. Und damit bilden sie eine wichtige Bastion der MAS, die heute die Regierung stellt.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 26. Juni 2012


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