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Mittelamerika am Tropf der Migranten

Von den Überweisungen der Auswanderer profitiert vor allem das herrschende System

Von Torge Löding, San José *

Erstmals seit den Neunzigern schrumpft die Summe der Geldüberweisungen, welche Migranten aus den USA, Europa und anderen Ländern den daheim gebliebenen Familienmitgliedern in Zentralamerika senden. Kritische Wirtschaftswissenschaftler fordern, endlich eine Alternative zu der Dollarabhängigkeit der Volkswirtschaften der Region zu installieren.

Arbeitskräfte sind zum Exportschlager Nummer Eins in den meisten zentralamerikanischen Ländern geworden, insbesondere seit den Verwüstungen durch Hurrikan Mitch 1998. Die salvadorianische Wirtschaft ist dabei von den Rücküberweisungen abhängig wie kaum eine andere Nation. Ökonomen beziffern den Anteil der Remesas am Bruttoinlandsprodukt auf 17 bis 18 Prozent, einzelne sprechen gar von 24 Prozent. Den Löwenanteil davon – ungefähr 80 Prozent – geben die Empfänger für Nahrung, Kleidung, Gesundheit und Bildung aus. Der Wirtschaftswissenschaftler Edgardo Mira vom unabhängigen Wirtschaftsforschungszentrum CEICOM – ein Partner der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung – in San Salvador findet diese Zahlen bedenklich: »Wir sehen hier ein ungesundes Phänomen – die Volkswirtschaften konsumieren mehr als sie produzieren. Zudem machen sie sich zu einem entscheidenden Prozentsatz vollkommen abhängig von der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung in einem anderen Land, auf das sie keinen Einfluss haben.«

El Salvador verfügt indes kaum über eigene Industrien oder Landwirtschaft, all dies wurde im Rahmen neoliberaler Wirtschaftspolitik abgewickelt und zugunsten von Billiglohn-Zuliefererbetrieben und exportorientierter Agrarmonokulturen aufgegeben. Von den Dollars, die als Remesas ins Land kommen, bleibt auch kaum etwas im Land hängen. Alleine 60 Prozent werden in den Wal-Mart oder ähnliche Supermärkte getragen und auch vom Rest fließt kaufen sich die Zentralamerikaner Importwaren aus den USA, Asien oder Europa.

Der nicaraguanische Wissenschaftler José Luis Rocha von der Jesuiten-Universität UCA in Managua sieht einen weiteren Effekt der Remesas: Seit 1996 steigt die Abhängigkeit der Wirtschaft von den Rücküberweisungen und seither sinkt der Reallohn in allen Bereichen – außer dem Finanzsektor – kontinuierlich. »Remesas tragen zur Entpolitisierung der Bevölkerung bei. Der Organisationsgrad der Gewerkschaften sinkt und die Leute denken, bevor ich das Land ändere, wechsele ich es lieber«, so sein Warnruf.

Bei der wirtschaftlichen Abhängigkeit von den Geldüberweisungen teilt sich Nicaragua mit El Salvador den zweiten Platz – Remesas machen in beiden Ländern etwa 18 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus, nur in Honduras ist es mit 25 Prozent noch mehr. Während Nicaragua in den Achtzigern uninteressant war für Auslandsinvestitionen, hat sich das spätestens seit Ende der Neunziger total geändert. Großbanken übernahmen die nationalen Geldinstitute, Walmarkt die Supermärkte und auch das nationale Kapital hat sich transnationalisiert. Nicaraguas Unternehmer sind heute vor allem Minderheitsaktionäre des Großkapitals, weshalb die Elite jetzt noch weniger als früher Möglichkeiten zur Reinvestition im eigenen Land sucht. Mehr Menschen zuvor können sich durch den Zugriff auf Dollars Konsumwünsche erfüllen, um zumindest äußerlich als Vertreter der Mittelschicht zu erscheinen. In der Folge wuchs der Servicesektor und die urbanen Zentren boomen, was beides aber nicht industriellem Wachstum gestützt wird und nach Meinung des Jesuiten nicht stabiler als ein Kartenhaus ist.

Den Verlauf von Remesa-Zahlungen bezeichnet Rocha als »umgekehrtes U«. Ganz am Anfang kann der Migrant wenig an seine Familienmitglieder im Herkunftsland überweisen, da er hohe laufende Kosten hat – den Schlepper bezahlen, eine Arbeit und Wohnung finden, sich im neuen Land orientieren. Dann stabilisiert sich seine Situation, er findet einen besseren Job, lernt die Sprache und überweist mehr. Am Ende holt er aber entweder Familienmitglieder nach oder er bricht mit der Familie, weil er eine neue im Zielland gefunden hat. Die Zahlung schrumpft oder wird ganz eingestellt. So müssen immer mehr Menschen migrieren, um langfristig den Geldstrom aufrecht zu erhalten, denn aus dieser Sicht wird jeder Migrant »weniger rentabel«.

In den Neunzigern hat auch in Nicaragua der Staat seinen neoliberalen Rückzug aus der sozialen Verantwortung begonnen und die entstehende Remesa-Wirtschaft bedeute eine systematische Verstärkung dieses Modells. In den Achtzigern zahlte der Staat rund drei Viertel der Gesundheitsausgaben, heute ist es weniger als ein Drittel. Rund die Hälfte der Gesundheitskosten werden mit Remesas bezahlt und auch in Nicaragua fließen diese zum Großteil in das private Gesundheitssystem. Mit der Perspektive das Land zu verlassen, um die sozialen Probleme individuell zu lösen, hat sich eine ganze Generation aus dem politischen Leben verabschiedet.

Der salvadorianische Wirtschaftswissenschaftler Raúl Morena nennt Salvadors aktuelles ökonomisches System eine »perfekt funktionierende Maschine, die Ausgrenzung und Armut produziert und auf der anderen Seite die Konzentration des Reichtums in den Händen einer kleinen Oberschicht gewährleistet«. Außerdem funktioniere dieses System im Sinne der US-Wirtschaft, die von der billigen Arbeitskraft profitiere. Um das zu ändern, sei eine neue soziale Kraft nötig, der es gelinge das Eigentum an den Produktionsmitteln zu ändern und den gesellschaftlichen Reichtum auf gerechte Weise verteile.

* Aus: Neues Deutschland, 3. Februar 2009


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