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Auf dem Weg zu einem südamerikanischen Konsens

Projekte für die regionale Energieintegration. Neue Impulse für den Mercosur durch Venezuelas Präsident Hugo Chávez

Von Timo Berger*

Die wirtschaftliche Integration Südamerikas und die Zusammenarbeit im Energiesektor kommen weiter voran. Als treibende Kraft erweist sich der venezolanische Präsident Hugo Chávez, der die von der staatlichen Erdölgesellschaft PdVSA erwirtschafteten Petrodollar lieber in die Entwicklung der regionalen Infrastruktur und den Ausbau der Wirtschaftskooperationen zwischen den lateinamerikanischen Ländern steckt, als sie, wie viele seiner Vorgänger, der korrupten Oligarchie seines Landes zukommen zu lassen oder sie auf Auslandskonten zu transferieren.

In den vergangenen Monaten war die Entwicklung des Mercosur (Mercado Común del Sur, dt.: Gemeinsamer Markt des Südens), der südamerikanischen Freihandelszone, die bislang vor allem von dem Enthusiasmus der Präsidenten Argentiniens und Brasiliens, Néstor Kirchner und Luiz Inácio »Lula« da Silva, getragen wurde, zum wiederholten Male ins Stocken geraten. Handelsstreitigkeiten zwischen Brasilien und Argentinien, aber auch der Widerstand Argentiniens gegen den Bau einer Papierfabrik auf dem uruguayischen Ufer des Rio de la Plata, lähmten das Bündnis. Neue Impulse für die regionale Integration kommen in letzter Zeit verstärkt aus Venezuela, das erst im Dezember in den Mercosur aufgenommen wurde, zwar in den Gremien noch nicht stimmberechtigt ist, aber aller Voraussicht nach in zwei bis drei Jahren Vollmitglied werden wird. Nichtsdestotrotz läßt es sich Chávez nicht nehmen, jetzt schon Projekte in der Wirtschaftszone anzuregen:

Bei einem Dreiergipfel am 19. Januar 2006 in Brasilia einigten sich die Präsidenten Kirchner, »Lula« da Silva und Chávez Ende Januar auf den Bau eines Gasversorgungsnetzes für ganz Südamerika. Hauptbestandteil ist eine gigantische Pipeline, das die Gasvorkommen im Orinoco-Becken mit den energiehungrigen Industriemetropolen im Süden des Kontinents verbinden soll. Außer Brasilien und Argentinien sollen aber auch Paraguay und Uruguay, später auch Bolivien, Peru und Chile an das Gasversorgungsnetz angeschlossen werden. Nach dem Treffen der drei Staatschefs trat nur Chávez vor die Presse, um die Pipelinepläne vorzustellen: Das venezolanische Staatsoberhaupt sprach überschwenglich von »dem Ende des Washingtoner Konsenses«, in Anspielung auf die neoliberalen Wirtschaftsrezepte, mit denen die USA in den 90er Jahren versucht hatten, eine Lösung für die Probleme des Kontinents zu finden. Jetzt, so Chávez, beginne dagegen »der südamerikanische Konsens«. Die Pipeline sei »eine strategische Achse für die Zukunft Südamerikas«, sie diene auch dazu, den »schädlichen Einfluß der USA in der Region zurückzudrängen« und die drei größten nationalen Ökonomien des Kontinents zu integrieren.

Von der Gasfernleitung verspricht sich Chavéz darüber hinaus die Schaffung von fast einer Million Arbeitsplätze, davon ein Großteil in Venezuela, die Belebung der Eisen- und Stahlindustrie sowie der Baubranche. Außerdem würde sie es ermöglichen, »das venezolanische Gas 200 Jahre lang auf den südamerikanischen Markt zu bringen«.

Kontinentale Energieintegration

Bereits im vergangenen Jahr hatten die drei Länder ein Memorandum über die seit längerem existierende Idee für eine Pipeline verfaßt, nun nehmen die Pläne für die regionale »Energieintegration« Gestalt an. Zum einen entspricht die Errichtung der Pipeline dem Interesse Venezuelas, das nach der Rückverstaatlichung seiner Treibstoffressourcen und Stärkung des staatlichen Mineralölkonzerns PdVSA neue Märkte erschließen möchte, zum anderen könnte durch die regionale Energievernetzung in Zukunft die vor allem im Winter auftretenden Treibstoffknappheiten in Argentinien und Brasilien vermieden und noch nicht erschlossene Öl- und Gasvorkommen im Golf von San Jorge in Argentinien und im Gebiet des Orinoco in Venezuela gemeinsam ausgebeutet werden.

100 Millionen Kubikmeter venezolanisches Erdgas sollen in Zukunft je nach Streckenführung 7000 bis 8000 Kilometer weit von Caracas nach Buenos Aires geleitet werden und dabei Brasilien von Norden nach Süden durch das Amazonasbecken durchqueren. Auch die bolivianischen Gasvorkommen sollen – nach den Vorstellungen Chávez' – schnell an die Pipeline angeschlossen werden. Bolivien ist zur Zeit der größte Gaslieferant von Argentinien und Brasilien und besitzt nach Venezuela die zweitgrößten Treibstoffreserven auf dem südamerikanischen Kontinent. Für den Bau der südamerikanischen Pipeline werden ein Zeitraum von fünf bis sieben Jahren und Kosten von 20 Milliarden US-Dollar veranschlagt. Dabei handelt es sich bislang um Schätzungen der venezolanischen Regierung für die Baukosten der »Gasfernleitung des Südens«, wie Chávez das ambitionierte Projekt nennt.

Bis Juli diesen Jahres soll ein Team von Technikern einen genauen Kostenplan erstellen. Der Baubeginn soll noch in diesem Jahr erfolgen. Bei einem erneuten Treffen am 10. März im argentinischen Mendoza wollen Chávez, »Lula« und Kirchner weitere Details des Projekts klären, unter anderem geht es um die Finanzierung der riesigen Gasleitung. Ebenfalls auf Chávez geht der auf dem Gipfel in Brasilia behandelte Vorschlag zurück, eine Banco del Sur (Bank des Südens) zu gründen, um das Pipelineprojekt, aber auch andere Infrastrukturmaßnahmen, die auf die wirtschaftliche Entwicklung und Integration der Region zielen, gemeinschaftlich zu finanzieren. Die Bank soll von den drei Ländern unterhalten werden – gespeist von jeweils der Hälfte ihrer internationalen Währungsreserven, also vor allem von den Petrodollars Venezuelas. Aber auch Brasilien und Argentinien verfügen wieder über einen soliden Kapitalstock: In den drei Jahren, die auf den spektakulären Zusammenbruch ihrer Ökonomien und die damit einhergehenden Finanzkrisen (Brasilien 2000, Argentinien 2001/2002) folgten, konnten sie wieder positive und von Jahr zu Jahr steigende Handelsbilanzen verzeichnen, was beide Länder zuletzt veranlaßte, ihre Schulden gegenüber dem Internationalen Währungsfonds (IWF) komplett zu begleichen.

Chávez versicherte, daß der staatliche Mineralölkonzern Venezuelas mehrere Milliarden US-Dollar für den Bau der Pipeline bereitstellen wird. »Die Investitionen würden sich selbst bezahlen, wenn einige der Länder, insbesondere Venezuela und Brasilien, ihre benzinbetriebene Fahrzeugflotte auf Erdgasantrieb umstellen würden.« In Argentinien werden bereits viele Autos (u.a. Taxis) mit Erdgas betrieben. Doch nicht nur die südamerikanischen Länder beteiligen sich an der Finanzierung, auch mehrere asiatische Konzerne, u.a. aus China, seien, Chávez zufolge, daran interessiert, in die Gasfernleitung zu investieren.

Kritik am Pipelineprojekt

Gleich nach der Vorstellung des Pipelineprojektes hagelte es Kritik und wurden Zweifel an seiner Durchführbarkeit geäußert. Umweltschutzorganisationen beklagten, daß die Pipeline durch ökologisch so sensible Gebiete wie die venezolanische Gran Sabana, die erst vor kurzem von der UNESCO zum Erbe der Menschheit erklärt wurde, und durch das Herz des brasilianischen Amazonas führen würde.

Aus anderen Pipelineprojekten im Amazonasbecken wisse man, so Umweltschützer der Red Alerta Petrolera-Orinoco Oilwatch in einem offenen Brief an die Regierung Chávez, wie schwierig die Vorortbedingungen und wie sensibel die Umwelt im Amazonas seien. An einer Gasfernleitung zur peruanischen Pazifikküste traten in den vergangenen Jahren durch Korrosion bereits viermal massive Lecks auf, und es kam zur Verseuchung der Umwelt und gesundheitlichen Beeinträchtigung der Ureinwohner durch den Austritt von Flüssiggas. Auch müßten für den Bau einer derart riesigen Pipeline unwiederbringliche Urwaldgebiete abgeholzt und große Mengen Erde abgetragen werden. Die Organisation fordert deshalb die venezolanische Regierung dazu auf, die Großprojekte in einer öffentlichen Debatte zu diskutieren und darüber in einer Volksabstimmung befinden zu lassen.

Wirtschaftswissenschaftler wie der Brasilianer Giovani Machado von der Universität von Rio de Janeiro zogen vor allem den ökonomischen Sinn des Projekts in Zweifel. Gegenüber der Nachrichtenagentur IPS führte der Wirtschaftsingenieur aus, daß die Megapipeline in Konkurrenz trete zu der sich immer mehr verbreitenden Methode der Verschiffung verflüssigten Gases. Das sei flexibler und habe weniger schädliche Auswirkungen auf die Umwelt. Auf politische oder ökonomische Turbulenzen könnte man sehr schnell reagieren und wäre somit auch nicht mehr so stark auf einen einzelnen Lieferanten angewiesen. Außerdem befänden sich die meisten brasilianischen Metropolen und Industriezentren an der Küste, weit entfernt von der geplanten Route der Pipeline. Und bei der Rückumwandlung in den Gaszustand würde zudem Elektrizität entstehen. Auch seien die geopolitischen Risiken nicht zu vernachlässigen.

Theotonio dos Santos, Professor für Internationale Wirtschaft an der Universidad Federal Fluminense in Niteroi, in der Nähe von Rio de Janeiro, kritisiert das Pipelinevorhaben zwar als »zu groß« und schlägt deshalb vor, es lieber in kleineren Abschnitten zu realisieren – also zunächst die Amazonasmetropole Manaus mit venezolanischem Gas zu versorgen. Er kann sich aber dennoch vorstellen, daß von dem Projekt wichtige Impulse für die regionale Integration ausgehen könnten, da es die beteiligten nationalen Industrien entlang der Pipeline mobilisieren würde.

»Plan Siembra Petrolera«

Der beschlossene Bau der Erdgasfernleitung ist nur ein Baustein in einem größeren Entwicklungsplan von Hugo Chávez, der, wie er öffentlich erklärt hat, davon träumt, sein Land in die größte Erdöl- und -gasmacht der Welt zu verwandeln. Bei dem im vergangenen Jahr von der Regierung Chávez verabschiedeten Plan Siembre Petrolera (»Plan Erdölaussaat«) handelt es sich um ein langfristiges Projekt: Der Plan beinhaltet sechs große Entwicklungsprojekte, die in zwei Etappen realisiert werden sollen. Die erste Etappe hat 2005 begonnen und soll bis 2012 andauern, die zweite soll zwischen 2012 und 2030 stattfinden. Der staatliche Mineralölkonzern PdVSA wird in dem Plan als der zentrale Motor angesehen, um die Entwicklung des Landes voranzutreiben und die nationale Souveränität zu verteidigen. Die Gewinne aus dem ausgeweiteten Treibstoffgeschäft sollen in die Bereiche Gesundheit, Bildung, Ernähung, öffentliches Bauwesen und Industrie investiert werden. Der Plan sieht Investitionen von 56 Milliarden US-Dollar vor, 70 Prozent davon sollen von der PdVSA getätigt werden, der Rest wird vom privaten Sektor getragen. Bis 2012 sind sechs Teilprojekte geplant:
  1. Geologische Studien, um das genaue Ausmaß der noch unerschlossenen Lagerstätten im Erdölgebiet des Orinoco zu bestimmen.
  2. Das Projekt Orinoco: In 27 Zonen soll die Infrastruktur eingerichtet werden, um die Erdölvorkommen optimal auszubeuten.
  3. Das Projekt Delta-Karibik: nördlich des Bundesstaates Sucre, im Osten Venezulas, und in der Nähe der Halbinsel Paraguaná, im Nordosten des Landes, sollen Offshore-Gasförderstätten weiter ausgebaut werden.
  4. Neue Zentren für Raffinerien werden in Cabruta, Batalla de Santa Inés und in Caripito eingerichtet.
  5. Infrastruktur: Um die Versorgung des ganzen Landes mit Brennstoffen zu sichern, werden mehrere neue Tanks und Leitungen gebaut. Außerdem wird die Errichtung einer Gaspipeline nach Kolumbien vorangetrieben.
  6. Regionale Integration: Venezuela beliefert die Karibikanrainerstaaten durch die Firma Petrocaribe mit Rohöl und vergrößert auch die Raffineriekapazitäten in jenem Gebiet. Außerdem ist mit Petrosur der Ausbau von Projekten geplant. Mit Brasilien soll bald über den endgültigen Standort für eine Raffinerie verhandelt werden, die in Zusammenarbeit mit Petrobras errichtet werden soll.
ALBA

Gerade die regionale Integration treibt Venezuelas Präsident mit besonderem Engagement voran – gibt sie dem Land doch die Möglichkeit, seine Exporte auf mehrere Abnehmer zu verteilen. Bislang liefert Venezuela den größten Teil seiner Erölproduktion an die USA. Zusammen mit Kubas Staatschef Fidel Castro hat Chávez im vergangenen Jahr einen Plan zur regionalen Zusammenarbeit angestoßen, den sie Alternativa Bolivariana para las Américas – ALBA (»Bolivarianische Alternative für die Amerikas«) nennen. 2005 sind unter diesem Label diverse Projekte und Abkommen zur Zusammenarbeit zwischen den Ländern Lateinamerikas zustande gekommen.

Gegründet wurde die ALBA als Gegenmodell zu der von den USA vorangetriebenen Freihandelszone ALCA, die aufgrund ihrer einseitig die Interessen der USA und der internationalen Konzerne begünstigenden Bedingungen immer mehr in Kritik geraten ist und deshalb nicht wie ursprünglich vorgesehen 2005 beschlossen werden konnte. Eine dieser neuen Kooperationen im Rahmen der ALBA ist die bereits im Plan Siembre Petrolera erwähnte Petrocaribe: Vierzehn Staats- und Regierungschefs von Karibikanrainern haben im vergangenen Juni mit Venezuela die Errichtung einer Organisation beschlossen, die Förderung, Raffinierung und Lieferung von Treibstoffen und Energie durchführt. Ziel ist auch hierbei die Sicherstellung der »Energiesouveränität«. Gerade die schwachen Wirtschaften der Karibikländer leiden unter den hohen Ölpreisen, derzeit etwa 60 Dollar pro Barrel auf dem Weltmarkt. Die Zusammenarbeit mit Venezuela ermöglicht es ihnen, die Importkosten für Treibstoffe zu reduzieren und die Zahlungsfristen auszuweiten. Statt wie marktüblich 30 Tage haben die Unterzeichner des Abkommens drei Monate Zeit, die Treibstofflieferungen zu bezahlen. Teile der Rechnung können auch mit Gütern oder Dienstleistungen beglichen werden. Die Zusammenarbeit mit Brasilien und Argentinien soll durch das gemeinsame Unternehmen Petrosur durchgeführt werden. Für Chávez sind beide Projekte Schritte in Richtung auf die von ihm angestrebte energetische, politische, wirtschaftliche und soziale Integration der Länder Lateinamerikas.

So hat Venezuela inzwischen Abkommen zur dauerhaften Treibstofflieferung mit Argentinien, Paraguay und Uruguay und zur zeitweiligen mit Bolivien, Chile, Panama und Peru unterzeichnet. Die staatliche Treibstoffgesellschaft Venezuelas hat mit dem uruguayischen Staatsunternehmen Ancap vereinbart, bei der Förderung von Rohöl zu kooperieren. PdVSA wird das Rohöl in Uruguay auf Anlagen von Ancap raffinieren. Somit ist die Benzinversorgung von Uruguay für die nächsten 25 Jahre gesichert. Das Land muß 75 Prozent des für die Raffinierung erworbenen Rohöls innerhalb von 90 Tagen bezahlen, die restlichen 25 Prozent erst innerhalb von 15 bis 17 Jahren. Die erste Rate dieser Rückzahlung wird Venezuela wieder in Uruguay investieren: in eine Fabrik zur Herstellung von Alkohol in Bella Unión (Artigas) und in eine Zementfabrik.

Der argentinische Präsident Néstor Kirchner und Chávez vereinbarten vergangenes Jahr in Buenos Aires gemeinsame Geschäfte mit einem Volumen von 559 Millionen US-Dollar, darunter den Tausch von vier Millionen Barrel Erdöl gegen Industrieprodukte aus Argentinien (landwirtschaftliche Maschinen, Kräne und hydraulische Maschinen.

Auch wollen zwei Unternehmen aus den beiden Ländern, Buques y Astilleros aus Venezuela und Astilleros Río Santiago aus Argentinien, zusammen für 110 Millionen US-Dollar zwei Erdöltanker bauen. Darüber hinaus beschlossen beide Länder eine Zollvereinbarung, die einen Warenaustausch von jährlich einer Milliarde US-Dollar vorsieht.

Der kommerzielle Austausch mit Brasilien beläuft sich derzeit auf zwei Milliarden US-Dollar und soll – nach dem Abschluß eines Abkommens, das die Aufhebung der Doppelbesteuerung vorsieht – in den nächsten Jahren auf fünf Milliarden US-Dollar ansteigen.

Frischer Wind für Mercosur

Die Initiativen des venezolanischen Präsidenten haben den zuletzt ins Strudeln geratenen Mercosur neuen Schwung gegeben. Nur wenige Tage vor dem Treffen mit Chávez Ende Januar beschlossen »Lula« da Silva und Néstor Kirchner, die Zusammenarbeit im Mercosur zu vertiefen und die kleinen Mitgliedsstaaten, Paraguay und Uruguay, in Zukunft »großzügiger zu behandeln«. Beide Regierungschefs bemühten sich, die Unsicherheiten über die Zukunft des Mercosur zu zerstreuen. Uruguay hatte sich in der Vergangenheit wiederholt darüber beschwert, daß der Mercosur die kleineren Länder benachteiligte, und angedroht, im Alleingang neue Märkte zu erschließen, unter anderem durch ein Freihandelsabkommen mit den USA, dem derzeitigen Hauptabnehmer seiner vorwiegend landwirtschaftlichen Produkten.

Der Mercosur ist seit seiner Gründung 1991 stark von wirtschaftlichen Asymmetrien geprägt. Aber nicht nur zwischen seinen großen und seinen kleinen Mitgliedern, auch zwischen Brasilien und Argentinien selbst. Seit einigen Jahren beklagt sich die argentinische Regierung über die ungleiche Handelsbilanz mit dem Nachbarn im Norden – hervorgerufen durch eine »Invasion« von Industrieerzeugnissen aus Brasilien, die nach der argentinischen Wirtschafts- und Währungskrise 2001/2002 massiv importiert wurden. So gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Handelsstreitigkeiten zwischen den beiden Ländern: Argentinien drohte Beschränkungen des Güteraustauschs an und erzwang damit, daß Brasilien seine Ausfuhren von Schuhen, Textilien und Haushaltselektronik (unter anderem Kühlschränke und Kücheneinrichtungen) drosselte. Bei dem Treffen von Kirchner und Lula drängte ersterer erneut darauf, spezielle Wettbewerbsklauseln einzuführen, die den Binnenmarkt schützen, für den Fall, daß die Importe eines bestimmten Produktes plötzlich sprunghaft ansteigen. Das Handelsdefizit ist in den vergangenen Jahren auf argentinischer Seite kontinuierlich gestiegen. Der Handel zwischen beiden Ländern erreichte 2005 ein Volumen von 16,154 Milliarden US-Dollar, mit einem argentinischen Defizit von 3,676 Milliarden US-Dollar, 2004 waren es noch 1,893 Milliarden gewesen – nachdem neun Jahre lang der gegenseitige Handel Argentinien begünstigt und der Handelsüberschuß zwischen 111 Millionen und 1,550 Milliarden US-Dollar gelegen hatte.

Verständlich sind angesichts der Art der gehandelten Güter die argentinischen Befürchtungen, das Ungleichgewicht könnte zum Dauerzustand werden. Die brasilianischen Exporte über insgesamt 9,915 Milliarden US-Dollar fallen zu 92 Prozent auf industrielle Güter, hauptsächlich Autos und andere Fahrzeuge sowie Mobiltelefone. Die Hauptexportgüter Argentiniens sind dagegen Weizen und Erdölprodukte. Lula betonte jedoch, »Brasilien ist nicht daran interessiert, daß sich diese Asymmetrien verfestigen«. Der Handel solle beiden Ländern gleichermaßen Nutzen bringen. Die neue argentinische Wirtschaftsministerin, Felisa Miceli, unterstrich nach dem Treffen gegenüber der Presse, beiden Wirtschaften müßten sich »über bloße Wirtschaftsvereinbarungen« hinaus »gegenseitig ergänzen«.

Das gegenseitige Sich-Ergänzen könnte eine Formulierung von Chávez sein, der in den vergangenen Jahren eine sozialistische und antiimperialistische Rhetorik in Südamerika wieder salonfähig gemacht hat. Wie man sieht, ist sein Diskurs bis in den Süden des Kontinents vorgedrungen. In diesem Zusammenhang wird es spannend sein zu beobachten, wie der neue bolivianische Präsident Evo Morales das Anliegen seiner Bevölkerung, die Treibstoffquellen wieder zu verstaatlichen, in den kommenden Monaten umsetzen wird.

Chávez hat ihm bereits jetzt seine Unterstützung »mit Ideen, Technikern und juristischen Experten« zugesagt, wie er nach dem Dreiergipfel in Brasilia gegenüber der Presse erklärte. Das Pipelineprojekt richte sich nicht gegen Bolivien, so Chávez, der den Wunsch äußerte, daß Bolivien seine Rohstoffe schnell verstaatlichen und sich dann dem Gaspipeline-Projekt anschließen werde – ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Herstellung der nationalen Energiehoheit auf dem Kontinent.

* Aus: junge Welt, 20. Februar 2006


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