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Lateinamerika im Spiel um Zukunft

Die Linke südlich des Rio Grande ist gestärkt. Aber wird sie mehr als Reformen zustande bringen?

Von Harald Neuber *

Die lateinamerikanische Linke geht Ende 2007 mit einem Unentschieden vom Platz. Ebenso wichtig wie die Bilanz des ausgehenden Jahres ist daher der Ausblick auf das kommende Jahr und die Frage: Wird sie in der Auseinandersetzung mit den Gegnern ihren Heimvorteil nutzen können? Auf dem Spielfeld dominieren immerhin die Linken, in den Rängen drängen sich die Massen ihrer Anhänger. Nur in der Loge haben sich einige unbeliebte Gäste mit Dauerkarten exklusive Plätze gesichert: US-Botschafter sind dort zu finden, Vertreter transnationaler Konzerne und ihre Fürsprecher aus IWF und Weltbank. Doch sie sind nicht nur Beobachter. Sie stellen die Gegenmannschaften auf, rüsten sie aus und schicken sie auf den Platz.

Nach jahrelangen Konflikten, Verzögerungsmanövern, einigen Siegen und (wenigen) Rückschlägen will die sozialistische Liga daher nun das Regelwerk verändern. In Bolivien, Ecuador und Venezuela wurden in diesem Jahr Verfassungsreformen auf den Weg gebracht, mit denen die jeweiligen Regierungen ihre sozialistischen Projekte im Staat etablieren wollen. Die Unterschiede zwischen Quito, Caracas und La Paz sind zwar enorm, das Ansinnen aber ist das gleiche: Die Verfechter des lateinamerikanischen Sozialismus befinden sich nicht mehr in der Defensive, aus der heraus sie bisher versucht haben, die neoliberale Mißwirtschaft der vergangenen Jahrzehnte zu beenden. In Bolivien, Ecuador und Venezuela steht inzwischen der Umbau der Staatsstruktur mit dem Ziel auf der Agenda, eine egalitäre Gesellschaft zu befördern.

Der Kampf um diesen allmählichen Systemwechsel wird mit harten Bandagen ausgefochten. In Bolivien droht eine rechte, neoliberale und rassistisch motivierte Gegnerschaft zur sozialistischen Regierung unter Präsident Evo Morales mit der Sezession ganzer Landesteile. Es ist wohl kein Zufall, daß der amtierende US-Botschafter Philip Goldberg vor seiner Versetzung nach La Paz an der Zerstörung Jugoslawiens aktiv mitgewirkt hat: Mitte der neunziger Jahre war er im US-Außenministerium für Bosnien zuständig, ab 2004 vertrat er die USA im Kosovo. Als er im Oktober 2006 nach Bolivien entsandt wurde, begann die dortige Opposition jäh, ihren Willen zur Autonomie zu entdecken, die, wie vormals auf dem Balkan, hintergründig entlang ethnischer und sozialer Trennlinien verläuft. In Venezuela ist indes eine zweite Verfassungsreform unter Präsident Hugo Chávez Anfang Dezember gescheitert. Während die Opposition nur 200000 Stimmen gegen die Novellierung mobilisieren konnte, blieben drei Millionen Chavisten zu Hause. Die Debatte um die Ursachen dafür dauert an. Ungewöhnlich ruhig läuft indes die Verfassungsreform in Ecuador. Dessen Präsident Rafael Correa ist zwar auch ein erklärter Anhänger eines »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Doch hat er es bislang geschafft, die politischen Lager nach Beginn der verfassunggebenden Versammlung Ende November zusammenzuhalten. Das Ende der Eintracht ist für den Moment zu erwarten, an dem auch in Quito die Etablierung eines neuen Sozialregimes auf die Tagesordnung gesetzt wird, das mit einer Umverteilung der staatlichen Ressourcen einhergeht.

Die Frage nach der Staatsreform ist in allen drei Länder auch eine Frage des Charakters ihrer politischen Prozesse. Die reine Umverteilung vorhandener Ressourcen und die Reversion neoliberaler Zwangsmaßnahmen gehen zunächst nicht über eine klassische Reformpolitik hinaus. Die Demokratisierung des Staates einschließlich seiner Institutionen erst birgt das revolutionäre Moment, das von den Basisbewegungen in den linksregierten Staaten der Region eingefordert wird.

Brasilien spielt indes weiter eine ambivalente Rolle. Der amtierende Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva setzt im Umgang mit der Oligarchie weiter auf eine Politik der Konziliation. Die enormen sozialen Probleme des größten Landes der Region wird er mit seiner Strategie der Klasseneinheit aber kaum lösen können. Nicht nur das kostet dem ehemaligen Gewerkschafter, der Brasi­lien gerne zur regionalen Führungsmacht aufbauen würde, Glaubwürdigkeit. Auch für den offenen Pakt mit US-Präsident George W. Bush über den Ausbau sogenannter Biotreibstoffe erntete »Lula« im Sommer harsche Kritik. Weil Brasilien sich zum Anbau von Biomasse bereiterklärte, um den US-Markt mit Äthanol zu beliefern, warf Kubas Staatschef Fidel Castro seinem brasilianischen Amtskollegen im Sommer vor, die Menschen in seinem Land verhungern zu lassen, um die Tanks US-amerikanischer Autos zu füllen. Das Intermezzo machte deutlich, was im europäischen Blick auf Lateinamerika oft übersehen wird: Die politische Führung hat auf dem Kontinent nur derjenige inne, der auch die moralische Führung besitzt. Das ist nach wie vor die Stärke Kubas, und das ist die Stärke von Venezuela, Bolivien und Ecuador. Der Mangel an moralischer Glaubwürdigkeit wird die Gegner der Linken wie Kolumbiens Potentaten Álvaro Uribe weiter in ihrer Außenseiterrolle gefangen halten. Von der politischen Hegemonie sind Staaten wie Kolumbien oder Peru, deren politische Regime von Washington aus gegen die Linke in Stellung gebracht wurden, ohnehin Lichtjahre entfernt.

Zwei Aufgaben stehen den sozialistischen Kräften in Lateinamerika bevor. Zum einen müssen sie die Reformen des postkolonialen und neoliberalen Staates weiter voranbringen. Zum anderen müssen sie weiter auf den Druck der Basis setzen. Denn die Regierungen und Regenten sind nur der sichtbare (weil von westlichen Medien beachtete) Teil breiter sozialer Bewegungen. Diese sind in Bolivien, Ecuador und Venezuela die wahren Träger der Opposition gegen die antisoziale Politik des Neoliberalismus. Die Herausforderung besteht daher nicht nur darin, die rechten Dissidenten in ihre Schranken zu verweisen. Den lateinamerikanischen Sozialisten muß es vor allem gelingen, ihre Basis weiter so in die Umgestaltungsprozesse einzubinden, daß sie in den Institutionen Kontrollaufgaben erfüllen und politische Positionen durchsetzen kann. Gelingt das nicht, würde die bisherige Dynamik des Widerstands zum Erliegen kommen.

Und das wäre ein verheerendes Eigentor.

* Aus: junge Welt, 20. Dezember 2007


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