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Land der langen Wege

Infrastruktur: In Südamerika fehlt es an modernen Straßen, Gleisen und Pipelines. Unterentwicklung und Armut sind die Folgen

Von Benjamin Beutler *

Südamerikas Infrastruktur ist völlig unzureichend ausgebaut. Dies war der Tenor eines Treffens von Politikern und Branchenvertretern im Madrider Luxushotel »Wellington« Ende Mai. Diese »historische Rückständigkeit« gelte es gemeinsam endlich zu überwinden, appellierte María Emma Mejía, Präsidentin der süd­amerikanischen Staatenorganisation UNASUR, an Vertreter aus Big Business, Politik und Entwicklungsbanken. In zwölf UNASUR-Mitgliedsstaaten, so Mejía, seien 88 Entwicklungsprojekte in Planung. Bis 2022 müssen für neue Straßen, Hafenanlagen, Strom- und sonstige Energienetze Gesamtinvestitionen von umgerechnet rund 14 Milliarden US-Dollar getätigt werden, erklärte die Kolumbianerin ihre »Prioritätsagenda für Integrationsprojekte« (API). Auf der Iberischen Halbinsel warb sie für mehr Zusammenarbeit zwischen der ehemaligen Kolonialmacht und den südamerikanischen Staaten. Zuvor hatte die UNASUR-Chefin bereits in Paraguay und Brasilien die Werbetrommel für ihr Projekt gerührt. Statt derzeit 2,3 Prozent, so ihre Forderung an die Regierungen, müßten mindestens 3,4 Prozent der regionalen Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt; BIP) in den Ausbau der Infrastruktur gesteckt werden.

Es geht um die Zukunft des Kontinents. In Brasilien, Bolivien und Venezuela haben Regierungen erhebliche Anstrengungen zur Armutsbekämpfung unternommen. Ein starkes Wirtschaftswachstum fördert das Entstehen einer neue Mittelschicht. Dies wird allgemein als gutes Zeichen für den Beginn des langersehnten Aufholprozesses betrachtet. Um dies zu verstetigen, braucht es modern ausgebaute Transportwege.

Die riesige Landmasse zwischen Karibik und Antarktis, Pazifik und Atlantik ist derzeit nur von einer verschwindend geringen Zahl tauglicher Verkehrsadern durchzogen. Was die Länge »befestigter Straßen« angeht – internationales Zählmaß für Wege-Infrastruktur – kann Südamerika heute mit nur knapp 320000 Kilometern Beton- und Asphaltstrecken aufwarten. Rund ein Drittel davon entfällt auf Brasilien. Schlußlicht hierbei ist Bolivien, Südamerikas am wenigsten entwickeltes Land mit lediglich 4584 Kilometern.

Zum Vergleich: Die USA (311 Millionen Einwohner) mit ihrem fast halb so großen Staatsgebiet wie Südamerika verfügen über ein 13mal so großes Wegenetz wie alle Länder des »Hinterhofs im Süden« (400 Millionen Einwohner) zusammen. Noch deutlicher fällt der Vergleich mit Europa aus. Das flächenmäßig erheblich kleinere Polen beispielsweise würde ausreichen, um das komplette Straßennetz Südamerikas aufzunehmen. Deutschland (Fläche 357000 Quadratkilometer), verfügt über 760000 Straßenkilometer – das 2,5fache ganz Südamerikas mit einer Fläche von etwa 17,8 Millionen Quadratkilometer.

Fehlende Verkehrswege sind kein Luxusproblem. Die Versorgung mit Infrastruktur nennt die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und Karibik der Vereinten Nationen (­CEPAL) »einen der wichtigsten Aspekte in der Entwicklungspolitik«. Das Fehlen gilt laut einem CEPAL-Bericht als »Hindernis ersten Grades für die Implementierung effizienter Politiken im Bereich Soziales, Wirtschaftswachstum und regionaler Integration«. Der hohe Anteil von Transport- und Logistikaufwendungen an den Warenkosten wurde von der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) und der Weltbank gemessen. Sie liegen in Südamerika zwischen 16 bis 25 Prozent. OECD-Industrieländer erreichen einen Schnitt von lediglich neun Prozent. Dieser Aufschlag für transportierte Güter durch Straßenmangel richtet laut BID und Weltbank mehr Schaden an als Handelszölle. Den Preis zahlen die Verbraucher. Liegt der Anteil für Nahrungsmittelzölle am Endpreis für Weizen oder Reis bei bis zu zwölf Prozent, bewirken weite und langsame Transportwege mehr als die Hälfte dessen. Vor allem Südamerikas Kleinunternehmer geben 48 Prozent ihres Umsatzes für Transporte aus – dabei sind sie es, die am meisten Menschen einstellen und die Wirtschaft ankurbeln.

Der Mangel an funktionierenden Straßen ist auch Erbe der Kolonialzeit. Jahrhundertelang war die alte koloniale Wirtschaftsweise einseitig auf Europa und Nordamerika ausgerichtet. Bodenschätze und Agrarprodukte wurden gemäß der globalen Nord-Süd-Arbeitsteilung von Silberminen und Kautschukplantagen im Landesinneren zur Verschiffung an die Küsten von Atlantik und Pazifik gebracht. Die »Neue Welt« war als Rohstofflieferant für die Werkbänke Europas konzipiert. Der Straßenbau hatte sich daran auszurichten. Geplant wurde kurzfristig. Endete ein Nachfragezyklus, etwa nach Erfindung von Kunststoff als Kautschukersatz oder waren Goldvorkommen in Zentralbrasilien erschöpft, blieben Wege ins verlassene Wirtschaftsniemandsland zurück. Bis zur Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert hatten sich erst Spanier und Portugiesen, danach Engländer und US-Amerikaner dem Bau von Transportwegen nach eigenen Interessen verschrieben. Geblieben ist ein Kontinent der Straßenarmut. In Zeiten des neoliberalen Durchmarschs ab Beginn der 1980er Jahre brachen die öffentlichen Investitionen in Straßen schließlich um mehr als die Hälfte ein. Reisen und Transport sind im Austausch der Volkswirtschaften Südamerikas bis heute eine kostspielige Angelegenheit und damit eine wesentliche Ursache für Armut und Rückständigkeit.

* Aus: junge Welt, Mittwoch 6. Juni 2012


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