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"Indigene Völker sind vom Aussterben bedroht"

Fortschritte auf dem Weg zu einer Deklaration der Rechte der Ureinwohner Amerikas. Ein Gespräch mit Juan León Alvarado und ein Interview mit Noemí Pocaterra

"Indigene Völker sind vom Aussterben bedroht"

Fortschritte auf dem Weg zu einer Deklaration der Rechte der Ureinwohner Amerikas. Ein Gespräch mit Juan León Alvarado *

Interview: Benjamin Beutler, La Paz

Warum setzen Sie sich für eine Erklärung der Indígena-Rechte ein, und was fordern die indigenen Völker Amerikas?

Die bisher bestehenden nationalen Gesetze und internationalen Normen haben nicht zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Indígenas in Amerika beigetragen. Sie gehören zu den ärmsten Bevölkerungsteilen der Welt. Bis heute besteht die größte Gefahr für die indigenen Völker darin, daß sie vom Aussterben bedroht sind. Und zwar überall dort, wo sich der Nationalstaat und mit ihm die private Wirtschaft bis in die Lebensräume der Indígenas hinein ausbreitet, ohne Rücksicht auf deren Forderungen, ohne Rücksicht auf deren Lebensformen.

Von wie vielen Menschen sprechen Sie?

In ganz Amerika leben über 40 Millionen Indígenas, die es zu schützen gilt. Es müssen Bedingungen geschaffen werden, unter denen sie ihr Leben so gestalten können, wie sie es sich vorstellen und nicht so, wie die westlich orientierten Gesellschaften es ihnen vorschreiben wollen. Bestes Beispiel ist die Gesundheit. Die indigenen Völker haben ein wesentlich anderes Verständnis von Gesundheit und Wohlbefinden; eine zentrale Rolle spielen die spirituelle Gesundheit und die damit verbundenen Praktiken. Doch die moderne Medizin erkennt diese Sichtweise nicht an, die Gesundheitssysteme tragen keine Kosten für indigene Medizin.

Wann enstand die Idee zur Ausarbeitung der Deklaration?

Das war 1992 anläßlich des 500. Jahrestages der Ankunft der Spanier in Amerika. Für die indigenen Völker war das wahrlich kein Feiertag, denn mit diesem Tag begannen Krieg und Zerstörung. Eine Erklärung der Indígena-Rechte ist eine, wenn auch späte Reaktion auf das Geschehene. 1989 verfaßte die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) eine Resolution zur Ausarbeitung eines interamerikanischen Instrumentes zum Schutz der Indígena-Rechte. 1999 bildete sich dann eine zwischenstaatliche Arbeitsgruppe im Rahmen der OAS, die seit 2003 zusammen mit den nationalen Indígena-Organisationen regelmäßige Treffen abhält. Das Treffen in der vergangenen Woche war das zehnte seiner Art. Dort konnten wir Einigkeit über wichtige Bereiche wie Gesundheit, Bildung und Land erzielen. Bei 36 OAS-Mitgliedern ist das nicht leicht, doch hoffen wir auf einen raschen Abschluß.

Welche Bedeutung hat für die indigenen Völker die Tatsache, daß der bolivianische Präsident Evo Morales ein Indígena ist?

Wir freuen uns immer, wenn wir von einem Fortschritt einer unserer Brüder in einem der amerikanischen Länder hören. Die Wahl von Evo Morales als dem ersten indigenen Präsidenten auf dem Kontinent überhaupt ist für viele ein Zeichen der Hoffnung, ein Beleg dafür, daß es sich lohnt, für seine Rechte zu kämpfen. Er gibt vielen Indígenas in Nord wie Süd Mut und Kraft. Zudem ist Morales in seiner Funktion als Staatsoberhaupt auf internationaler Ebene ein idealer Anwalt der Belange der indigenen Völker von Kanada über die Karibik bis nach Feuerland. Vielleicht kann er verstärkt dazu beitragen, daß auch die UNO die Indígena-Rechte in ihre Charta aufnimmt.

Gibt es eigentlich einen politischen »Indígenismus«? Es gibt Stimmen, die diesen als eine »radikale und rassistische« Bewegung brandmarken, so der ehemalige Präsident Spaniens, José Maria Aznar.

Auf jeden Fall gibt es heute ein verstärktes politisches Bewußtsein innerhalb der indigenen Völker. Dank der modernen Kommunikation können wir uns schneller kontaktieren und austauschen, nähern uns leichter an. Unsere gemeinsame Philosophie kennt jedoch kaum Geisteshaltungen wie Exklu­sion und Konfrontation. Wer Derartiges behauptet, weiß entweder wenig über unsere Kulturen oder aber versucht bewußt, die emanzipatorische Politik eines Evo Morales oder eines Hugo Chávez zu torpedieren.

Was kann die Deklaration der Rechte der indigenen Völker Amerikas bewirken?

Zum ersten Mal werden die Rechte der 40 Millionen Ausgegrenzten auf Papier festgehalten sein. Das gab es noch nie. Sie kann als Grundlage nationaler Gesetzgebungen dienen, doch zuallererst kommt ihr eine hohe moralisch-symbolische Funktion zu. Zu lange schon wurden die Rechte der indigenen Völker Amerikas mißachtet.

* Dr. Juan León Alvarado ist Präsident einer Arbeitsgruppe der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS), die in der vergangenen Woche in La Paz/Bolivien mit Vertretern der nationalen Indígena-Organisationen über eine Deklaration der Rechte der indigenen Völker Amerikas verhandelte

Aus: junge Welt, 3. Mai 2007



Warum Indígena-Rechte fixieren?

Noemí Pocaterra über die Situation indígener Völker in Amerika **

Auf dem 10. Treffen zwischen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und Indígena-Verbänden im bolivianischen La Paz wurde am letzten Wochenende im April weiter an einer Erklärung der Indígena-Rechte gearbeitet. Warum diese Deklaration?

Über 500 Jahre wurden die Rechte der indigenen Völker, immerhin 40 Millionen in ganz Amerika, missachtet und gebrochen. Damit sich das ändert, müssen deren Rechte durch die Verfassungen und Gesetzgebungen der einzelnen Staaten garantiert werden. Zwar gibt es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, diese sichert jedoch nur die Rechte des Einzelnen, nicht aber die eines ganzen Kollektivs. Die Deklaration der Rechte der indigenen Völker Amerikas, an der wir im Rahmen der Organisation der amerikanischen Staaten seit nun drei Jahren arbeiten, hat vor allem eine moralisch-symbolische Bedeutung. Sie wird die Staaten Amerikas rechtlich an nichts binden, doch wird sie als Grundlage für einen weiteren Prozess im Kampf um Indígena-Rechte dienen. Der nächste Schritt ist dann der Abschluss von Abkommen direkt mit den Staaten.

Welches sind die Hauptforderungen der indigenen Völker?

Land und kulturelle Identität sind die zwei zentralen Inhalte. Vom Land, Territorium oder Habitat hängt das gesamte Leben der indigenen Völker ab. Auf seiner Erde spielt sich alles ab: die Jagd, das Sammeln, hier stehen die Tempel für unsere Riten, die Heilpflanzen für unsere Medizin. Wird uns unser Land genommen, so wird uns auch unser Recht auf Leben genommen. Eng damit verknüpft ist das Recht auf unsere kulturelle Identität. Die Jahrtausende alte Kultur der indigenen Völker ist bedroht durch die anhaltende Rechtlosigkeit. Unsere Rechte müssen anerkannt und geschützt werden, bevor es zu spät ist.

Falls die Erklärung im nächsten Jahr proklamiert wird, was kann sie dann real für die Indígena-Rechte bewirken?

Sie ist vor allem ein moralisches Instrument, um mit den Staaten einzelne Abkommen zur Sicherung der Indígena-Rechte zu schließen. Sie wird die Grundlage für die folgenden Verhandlungen sein, auf die sich berufen werden kann. Denn bisher gab es nicht einmal das. Es gab keine schriftlich festgehaltene Form unserer Rechte. Genau das wird das eigentlich Neue sein. Ich hoffe, dass wir in den folgenden Verhandlungen schnell zu einer Einigung finden können. Das nächste Treffen wird in Venezuela stattfinden. Dort hat sich seit der Regierung Chávez sehr viel getan in Bezug auf die Rechte der indigenen Völker. Der bolivarianisch-revolutionäre Prozess schließt auch die 500 000 Indígenas mit ein, in der Verfassung wurden unsere Rechte verankert, unter anderem das Recht auf Land. Hugo Chávez, der die miserable Lage der Indígenas während seiner Militärzeit kennenlernen konnte, hat uns also nicht vergessen.

José Maria Aznar, der ehemalige Präsident Spaniens, bezeichnete das wieder erstarkte Selbstbewusstsein der Indígenas, vor allem das der Andenländer, als »radikal und rassistisch«. Was halten Sie davon?

Wir respektieren die Weißen und die criollos. Wenn jemand etwas gegen die Emanzipation der Indígenas sagt, dann spricht aus ihm die alte koloniale Sichtweise der Welt. Wir indigenen Völker hingegen stehen für Koexistenz im Einklang mit der Natur, in einer gerechten und ausgeglichenen Art. Das muss bekannt werden, und genau für solche Zwecke ist die zukünftige Erklärung der Rechte der indigenen Völker Amerikas gut.

Fragen: Benjamin Beutler, La Paz

** Noemí Pocaterra, Venezuela, ist Präsident der ständigen Kommission der indigenen Völker (Comisión permente de pueblos indígenas).

Aus: Neues Deutschland, 5. Mai 2007



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