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"Die Linke in Lateinamerika erstarkt"

Gregor Gysi über die Entwicklung der progressiven Regierungen südlich der USA *

Der Vorsitzende der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, Gregor Gysi, hat dieser Tage acht Staaten Lateinamerikas und der Karibik besucht. Über seine Erfahrungen sprach mit ihm für das Neue Deutschland (ND) Harald Neuber.



ND: Sie waren zuletzt 2007 in Lateinamerika, zur Amtseinführung des ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa. Nun haben Sie ein halbes Dutzend Staaten der Region besucht. Welche Entwicklung war zu beobachten?

Gysi: Abgesehen von Chile sind ja seit damals weitere linke Präsidenten bestätigt worden. In Bolivien hat man sich dafür entschieden, dass Evo Morales mehrfach wiedergewählt werden kann, in Uruguay ist mit José »Pepe« Mujica ein neuer linker Präsident an die Regierung gekommen. Gleiches gilt für El Salvador mit Mauricio Funes. Der Sieg von Sebastián Piñera in Chile ist ein Gegenbeispiel.

Chile nimmt seiner Geschichte wegen aber auch eine Sonderrolle ein. Wie beurteilen Sie in diesem Kontext den Militärputsch in Honduras?

Dort haben Konzerne die Entwicklung des Präsidenten Manuel Zelaya als ausgesprochen negativ empfunden, weil sie alte wirtschaftliche Abhängigkeiten erhalten wollten. Deswegen haben sie zum Mittel des Putsches gegriffen. Die anderen Staaten Mittelamerikas stehen nun vor einem Problem. Die sechs wichtigsten Länder der Region können kein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union ohne Honduras unterzeichnen. Auf der anderen Seite will man die aus dem Putsch hervorgegangene Regierung nicht legitimieren. Darüber habe ich mit dem Präsidenten von Nicaragua, Daniel Ortega, gesprochen. Das Thema hat aber auch in El Salvador und in anderen Ländern eine Rolle gespielt. Eine Verständigung dazu steht noch aus. Putsche dürfen sich in Lateinamerika nicht wiederholen.

Eben war Bundesaußenminister Guido Westerwelle in Lateinamerika. Hat die Region also tatsächlich politisch und wirtschaftlich mehr Bedeutung für Deutschland?

Nicht nur für Deutschland, sondern auch für die EU. Nicht nur Außenminister Westerwelle, sondern auch Kanzlerin Merkel geben ja zu verstehen, dass die Bedeutung Lateinamerikas in der Vergangenheit unterschätzt wurde. Diesem Urteil liegt auch ein interessanter Widerspruch zugrunde, den ich vor Ort erst wirklich begriffen habe: Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind diese Länder unabhängiger geworden. Mir wurde das so erklärt: Als die USA 1973 den Putsch in Chile unterstützt haben, begründete Washington dies damit, eine Ausweitung des Sowjetsystems in Lateinamerika verhindern zu wollen. Schon George Bush hatte nach 1991 mit einem Legitimationsverlust zur Einmischung zu kämpfen. Unter der Präsidentschaft seines Sohnes George W. Bush setzte sich der Widerspruch fort. Zum einen führte er sein Land in die Kriege in Irak und Afghanistan, zum anderen verlor er seinen sogenannten Hinterhof in Lateinamerika. Letzteres gönnte ich ihm in jeder Hinsicht.

Hat der Staatsminister in Auswärtigen Amt, Werner Hoyer, also recht, wenn er »den deutschen Kommunisten« – gemeint waren Sie und Ihre Partei – dieser Tage eine »ideologische Nähe« zu Venezuelas Präsident Hugo Chávez unterstellte?

Tatsache ist, dass die Linke mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus eine schwere Niederlage erlitten hat, weil die Macht nicht genutzt wurde, eine attraktive gesellschaftliche Alternative aufzubauen. Mir ist in der DDR immer erklärt worden, dass ein bestimmtes Maß an sozialer Gerechtigkeit bestimmte Freiheiten ausschlösse. Heute versuchen mir Herr Hoyer und seine Parteifreunde von der FDP zu erklären, dass eine bestimmte Freiheit meine Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit ausschlösse. Ich akzeptiere beides nicht.

Was beutet das für die Beziehung zum linken Lateinamerika?

In Europa dümpelt die Linke bis auf wenige Ausnahmen vor sich hin. In Lateinamerika erstarkt sie. Ein Grund meiner Reise war zu sehen, ob wir Europäer von dieser neuen Linken etwas lernen können

Ihre Antwort?

Ich habe vor allem gelernt, dass die Entwicklung ungemein vielseitiger ist, als man in Europa gemeinhin denkt. Spannend ist für mich in diesem Zusammenhang zum Beispiel Bolivien, wo sozialistische Ideen mit der Ökologie, aber auch der indigenen Lebensweise verbunden werden. Leider ist das nur sehr bedingt für Europa möglich.

Die Grenzen des Wachstums werden aber – wenn auch von einem anderen Standpunkt – in Europa diskutiert.

In der Tat stellt vor allem die sozialistische Bewegung in Bolivien und Ecuador die ökologische Frage neu. Das war für mich erstaunlich, weil Staaten, die noch gegen Armut kämpfen, in der Regel kaum ökologische Politik entwickeln. Das Gegenteil dort liegt an dem Einfluss der indigenen Völker.

Und Venezuela?

Venezuela hat eine Vielzahl von Problemen. Deswegen steht dort die Frage, wie sich die USA, Kanada und auch die EU verhalten haben. Was haben wir dort geleistet? Wir haben Rohstoffe zu unserem Vorteil abgebaut und keine Industrie errichtet. Die Industriestaaten haben nichts vorzuweisen: Sie haben weder Analphabetismus noch Krankheit oder Arbeitslosigkeit überwunden. Deswegen ärgert mich die Art, wie sie nun mit den Prozessen umgehen. Auf einmal entdecken sie die Menschenrechte! Das ist doch ein unglaublich verlogener Diskurs, den ich ihnen nicht zugestehe.

Unabhängig davon muss man natürlich die Probleme der Präsidialdemokratien im Auge behalten, die immer dazu tendieren, dass ein Staatschef zu mächtig wird. Dennoch passiert in Venezuela unglaublich viel Positives. Auch dort wollte ich lernen, nicht lehren.

* Aus: Neues Deutschland, 13. März 2010


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