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Merkel ausgebremst

Selbstbewußte Lateinamerikaner beim EU-CELAC-Gipfeltreffen *

Beim ersten gemeinsamen Gipfeltreffen der Europäischen Union (EU) und der Lateinamerikanischen und Karibischen Staatengemeinschaft (CELAC) ist es am Wochenende in Santiago de Chile zu kaum versteckten Auseinandersetzungen zwischen den beiden Bündnissen gekommen. Im Mittelpunkt standen dabei Forderungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die den Staaten der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur eine Aufgabe ihrer Schutzbestimmungen verordnen wollte. »Wir verhandeln schon seit 13 Jahren. Von europäischer Seite wird sehr viel Wert darauf gelegt, daß wir vorankommen«, hatte Merkel speziell an Brasilien und Argentinien gerichtet erklärt. Die argentinische Präsidentin Cristina Fernández wies solche Äußerungen zurück. »Die Verhandlungen mit der EU können nicht auf den Grundlagen von 2004 geführt werden. Es muß ein neuer Rahmen geschaffen werden, zunächst einmal innerhalb des Mercosur«, wies sie die deutsche Regierungschefin am Samstag in Santiago zurecht. Zunächst solle innerhalb des Mercosur eine Kommission geschaffen werden, die bis zum letzten Quartal 2013 einen Vorschlag ausarbeitet, der dann den Europäern unterbreitet werden kann. »In dieser neuen Welt gibt es neue Protagonisten und neue Verhältnisse im Handelsaustausch.«

Parallel zu den Beratungen der Staats- und Regierungschefs waren in Santiago Tausende Menschen zum »Gipfeltreffen der Völker« zusammengekommen und hatte für mehr soziale Gerechtigkeit, kostenlose Bildung für alle und Umweltschutz demonstriert. Für die Abschlußkundgebung am Sonntag (Ortszeit) hatte unter anderem Boliviens Präsident Evo Morales sein Kommen angekündigt.

Unmittelbar nach Beendigung des EU-CELAC-Gipfels kamen die lateinamerikanischen Regierungsvertreter am Sonntag zu ihrem ersten offiziellen Treffen seit der Gründung der Organisation im Dezember 2011 zusammen. Dabei geht es um die Verabschiedung einer politischen Erklärung und eines gemeinsamen Aktionsplans für die kommenden Monate. Bei der offiziellen Abschlußzeremonie am heutigen Montag im großen Veranstaltungszentrum Espacio Riesco wird zudem Chiles Staatschef Sebastián Piñera den Vorsitz der CELAC turnusgemäß an den kubanischen Präsidenten Raúl Castro übergeben. Beide wollen sich anschließend gemeinsam bei einer Pressekonferenz den Fragen der Journalisten stellen.

* Aus: junge Welt, Montag, 28. Januar 2013


Neue Zeiten

EU-Lateinamerika-Gipfel

Von André Scheer **


In Europa würde sich Angela Merkel eine derartige Majestätsbeleidigung kaum mehr bieten lassen. Als sie am Wochenende beim EU-Lateinamerika-Gipfel in Santiago de Chile von den Staaten der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur Freihandel und den Abbau von Importbeschränkungen verlangte, wurde sie von Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández erstmal in die Warteschleife verbannt. Man werde bis Jahresende einen Vorschlag vorlegen, der aber nicht den Interessen des Mercosur widersprechen dürfe.

Das symbolisiert die veränderten Verhältnisse auf dem Kontinent ebenso wie die Tatsache, daß Havanna seit dem heutigen Montag die Hauptstadt Lateinamerikas ist. Kuba hat offiziell die jährlich wechselnde Präsidentschaft der im Dezember 2011 in Caracas gegründeten Lateinamerikanischen und Karibischen Staatengemeinschaft (CELAC) übernommen. In ihr haben sich erstmals alle souveränen Staaten des Kontinents zusammengeschlossen, ohne dazu die USA und Kanada einzuladen. Das manifestiert nicht nur das neue Selbstbewußtsein, das die Staaten der Region in den vergangenen Jahren gewonnen haben. Es stellt ebenso – auch wenn das vor allem die rechten Regierungen des Kontinents bestreiten – die Existenzberechtigung der von Washington dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Frage. Dafür spricht auch die am Wochenende beim Gipfeltreffen getroffene Entscheidung, die Präsidentschaft der CELAC im Jahr 2015 Ecuador zu übertragen. Präsident Rafael Correa, an dessen Wiederwahl im Februar kaum jemand ernsthaft zweifelt, hat sich in der Vergangenheit bereits mehrfach öffentlich für eine Auflösung der OAS ausgesprochen.

Uruguays Präsident José »Pepe« Mujica, der für Brüssel und Berlin nicht gerade zu den Bösewichtern zählt, hat für die entfernten Verwandten aus Übersee kaum mehr als ein Achselzucken übrig. Europa brauche nicht mehr so viel Angst davor haben, »von unserer effizienteren Landwirtschaft überrollt« zu werden. Die wichtigsten Klienten der Südamerikaner lägen längst nicht mehr im Westen, sondern im Osten: »Der Hauptkunde Brasiliens, Argentiniens und von uns heißt Volksrepublik China«, so Mujica gegenüber dem Fernsehsender Russia Today.

Es wäre jedoch ein Fehler, die Einheit Lateinamerikas euphorisch überzubewerten. Längst toben hinter den Kulissen Auseinandersetzungen um den inhaltlichen Kurs. Während die Staaten der von Kuba und Venezuela gegründeten Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas (ALBA) für eine soziale Integration und eine Überwindung des Kapitalismus plädieren, hängen Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile, die sich zur Pazifik-Allianz zusammengeschlossen haben, dem neoliberalen Wunschtraum nach, daß Wirtschaftswachstum alle Probleme löst. Einig sind sie sich jedoch, daß sie nur durch ein gemeinsames Auftreten auf der Weltbühne verhindern können, in der Konkurrenz zwischen USA, EU und China zerrieben zu werden. Das haben sie in Santiago unter Beweis gestellt.

** Aus: junge Welt, Montag, 28. Januar 2013 (Kommentar)


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