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Jenseits der Regierungsdiskurse

Der Sammelband "Andere mögliche Welten" begutachtet die Transformationsprozesse in Lateinamerika

Von Tobias Lambert *

Die neoliberale Hegemonie ist seit der Finanzkrise 2008 angekratzt, gebrochen ist sie noch nicht. Der Sammelband »Andere mögliche Welten« untersucht ausgehend vom Spannungsfeld zwischen Basisbewegungen und Linksregierungen in Lateinamerika mögliche Transformationsstrategien.

Die Sparpolitik, mit der im Süden Europas gerade ganze Länder ruiniert werden, erlebte Lateinamerika bereits vor Jahren. Schließlich wurde das von den Chicago Boys um Milton Friedman theoretisch formulierte neoliberale Modell erstmals nach dem Putsch in Chile 1973 in der Praxis umgesetzt. Die 1980er und 90er Jahre brachten den meisten Ländern des Subkontinents von außen aufgezwungene Haushaltskürzungen, Privatisierungen und Weltmarktöffnung.

Erst um die Jahrtausendwende herum wurden fast alle neoliberalen Regierungen in Folge von Revolten und breiter sozialer Mobilisierung abgewählt. Es waren also nicht die neuen (Mitte-)Linksregierungen, die gesellschaftliche Veränderungen hervorgerufen haben, sondern umgekehrt haben gesellschaftliche Prozesse eine Abkehr vom Neoliberalismus ermöglicht.

In Venezuela, Bolivien und Ecuador wurden mit breiter Partizipation neue Verfassungen ausgearbeitet, und auch andere Länder rückten politisch nach links. Doch wie konkret sind die realen politischen Veränderungen jenseits der Regierungsdiskurse? Laut Raul Zelik und Aaron Tauss fallen sie »deutlich bescheidener aus, als Anhänger und Feinde der Linksregierungen gemeinhin unterstellten«. Soziale Emanzipation müsse vorrangig aus der Mobilisierung der Gesellschaft hervorgehen und nicht primär aus »administrativ-staatlicher Macht«. In dem von ihnen herausgegebenen Buch »Andere mögliche Welten« haben die beiden Politikprofessoren der Nationalen Universität Kolumbiens Autor_innen aus Lateinamerika und Europa versammelt, die sich den Themen Demokratisierung und wirtschaftliche Alternativen widmen. Die Beiträge basieren überwiegend auf einer Konferenz, die die Rosa-Luxemburg-Stiftung 2011 mit der Nationaluniversität Kolumbien in Medellín organisiert hat.

Neben allgemeineren oder theoretischen Texten, etwa zu Rätedemokratie, Staat, Sozialen Bewegungen und Wachstum geben Länderbeispiele Einblick in die konkrete Politik der Linksregierungen. Der venezolanische Stadtteilaktivist Andrés Antillano zeichnet die Mobilisierung der Unterschichten in Venezuela nach und warnt vor einer zunehmenden Entpolitisierung und Etablierung des Staatskapitalismus. Für das Beispiel Bolivien beleuchtet die Soziologin Patricia Chávez die Widersprüche und Spannungen zwischen Staat und sozialen Bewegungen. Der Aktivist Pablo Ospina aus Ecuador vergleicht die hochtrabenden Ziele im Diskurs der ecuadorianischen Regierung mit der konkreten Politik und kommt zu ernüchternden Ergebnissen. In der Sozialpolitik der meisten linksregierten Länder in Lateinamerika sieht der kolumbianische Ökonom und Sozialhistoriker Jairo Estrada eine assistenzialistische »Fürsorgepolitik«. Alleine in Venezuela seien die Sozialprogramme ein »integraler Bestandteil ökonomischer Veränderungen«.

Das Buch gibt weniger Antworten als viele Anregungen für notwendige Debatten über politische und wirtschaftliche Alternativen. Genau diese Debatten haben in einigen lateinamerikanischen Ländern in den letzten Jahren auf breiter gesellschaftlicher Ebene stattgefunden. Die überwiegend kritischen Einschätzungen zu den Linksregierungen zeigen, dass sie von unten ausgehend dringend weitergeführt werden müssen.

Raul Zelik/Aaron Tauss (Hrsg.): Andere mögliche Welten? Krise, Linksregierungen, populare Bewegungen: Eine lateinamerikanisch-europäische Debatte, VSA-Verlag, Hamburg 2012, 198 Seiten, 17,80 Euro.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 27. August 2013


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