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Der Linksruck bleibt auf der Tagesordnung

Lateinamerika in sanftem Wandel

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *

Auch zum Jahresende beherrscht Hugo Chávez wieder die Schlagzeilen, diesmal dank seiner Beteiligung an der Freilassung der ersten FARC-Geiseln in Kolumbien. Als »Friedensstifter und Gutmensch Lateinamerikas« sieht ihn gar die »Frankfurter Rundschau«. Nach der Niederlage des venezolanischen Präsidenten im Referendum über eine sozialistische Verfassung vor vier Wochen hatte das britische Magazin »The Economist« bereits den »Anfang vom Ende des Hugo Chávez« und das »Ende einer bankrotten Philosophie« beschworen. Gemeint war der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«.

Solch heftige Ausbrüche sind im einflussreichsten publizistischen Sprachrohr des Neoliberalismus selten zu lesen. Sie zeigen vor allem, welch ein Ärgernis Chávez ist – ebenso wie all jene, die sich nicht mit dem herrschenden Wirtschaftssystem abfinden wollen.

»Die meisten Ecuadorianer wollen das unselige neoliberale Modell auseinandernehmen, das die große Ungleichheit in unserem Land hervorgebracht hat«, sagt Alberto Acosta, der Vorsitzende des seit Kurzem tagenden Verfassungskonvents in Ecuador. Damit dürfte er die Motivation von Millionen Lateinamerikanern beschrieben haben, die in den letzten Jahren immer mehr fortschrittliche Kandidaten in die höchsten Staatsämter gewählt haben – 2007 waren es Cristina Kirchner in Argentinien und der sozialdemokratische Unternehmer Álvaro Colom in Guatemala.

Doch wie wirkt sich diese oft als »Linksruck« umrissene Serie von Wahlsiegen im Alltag der Menschen aus? Dank der hohen Ölpreise und der Nachfrage aus China nach Rohstoffen und Agrarprodukten sind die Staatskassen in vielen Ländern so voll wie schon lange nicht mehr. Die UNWirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) geht von einem Wachstum von 5,6 Prozent aus, seit 2003 betrug es durchschnittlich 4,5 Prozent – eine ähnliche Wachstumsperiode gab es zuletzt vor 40 Jahren. 2006 gelang nach CEPAL-Angaben rund 14 Millionen Menschen der Sprung über die Armutsgrenze. Nun lebten in Lateinamerika und der Karibik »nur« noch 194 Millionen in Armut – doch das sind immer noch rund 36,5 Prozent der Bevölkerung.

CEPAL-Generalsekretär José Luis Machinea warnt vor übertriebener Zuversicht. Lateinamerika könne auf dem Weltmarkt vor allem mit Produkten bestehen, die mit billiger Arbeitskraft hergestellt werden, sowie dank seiner natürlichen Ressourcen, sagt der frühere argentinische Wirtschaftsminister. Doch durch diese »falsche Wettbewerbsfähigkeit« werde die soziale Ungleichheit festgeschrieben, »die Fortschritte in den letzten 10 bis 15 Jahren waren minimal«.

Nirgendwo ist die Kluft zwischen Arm und Reich so groß wie in Lateinamerika. Auch langfristig werde sich daran wenig ändern, befürchtet der sozialliberale Ökonom. Dafür nämlich müsse die »systemische Wettbewerbsfähigkeit« gestärkt werden – über Investitionen in die Infrastruktur, in »innovative« Wirtschaftsbereiche und vor allem in das Bildungswesen.

Das Problem dabei: »Die Regierungen, die solche Maßnahmen in die Wege leiten, können die Früchte nicht selbst ernten.« Néstor Kirchner in Argentinien oder Lula da Silva in Brasilien haben umfangreiche Sozialprogramme zur Linderung der Armut aufgelegt, die ihnen zwar eindrucksvolle Wahlsiege beschert haben, doch das Fehlen struktureller Reformen immer weniger kaschieren.

Besonders groß ist der Frust bei den sozialen Bewegungen in Brasilien. Nach der Beendigung seines 24-tägigen Hungerstreiks gegen eine zweifelhafte Flussumleitung in Brasiliens armem Nordosten sagte der Bischof Luiz Flávio Cappio: »Als der Präsident (Anfang 2003) das Null-Hunger- Programm vorstellte, habe ich vor Freunde geweint, denn ich dachte, es würde ein Beispiel für die Welt, ein Instrument für Würde und Bürgerrechte. Doch es sind nur Almosen, durch die das Volk in Abhängigkeit gehalten wird.«

Der bolivianische Präsident Evo Morales hat zwar nach wie vor den Rückhalt seiner Basis, sieht sich jedoch einer Dauerblockade der rechten Opposition gegenüber. Dem chilenischen Umfrageinstitut »Latinobarómetro« zufolge hat 2007 die Zufriedenheit mit der Demokratie besonders in Ecuador und im sandinistisch regierten Nicaragua zugenommen.

Mit Abstand am zuversichtlichsten in die Zukunft sehen derzeit die Venezolaner.

* Aus: Neues Deutschland, 31. Dezember 2007


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