Auf eigenen Wegen
Jahresrückblick 2011 Heute: Lateinamerika. Der Kontinent emanzipiert sich von den USA. Soziale Kämpfe gehen weiter
Von André Scheer *
Die USA stehen in Lateinamerika weiter unter Druck. Anfang Dezember wurde in Caracas die Gemeinschaft der Staaten Lateinamerikas und der Karibik (CELAC) gegründet. Erstmals schlossen sich bei dem Gipfeltreffen in Venezuelas Hauptstadt alle unabhängigen Staaten des Kontinents zusammen, ohne die USA und Kanada dazu einzuladen. Boliviens Präsident Evo Morales würdigte dabei die Einheit der Länder Amerikas ohne die Vereinigten Staaten als Weg, »um unsere Völker zu befreien«. Das neoliberale Modell habe den Kapitalismus in seine »Endkrise« geführt, während sich die historisch unterdrückten Völker für ihre Befreiung durch die Integration vereinten.
Ursprünglich hatte die CELAC bereits am 5. Juli gegründet werden sollen, als Venezuela den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit von Spanien feierte. Das wurde jedoch durch die kurz zuvor bekanntgewordene Krebserkrankung von Präsident Hugo Chávez verhindert. Dieser unterzog sich einer Chemotherapie und konnte dann Ende Oktober nach einer Untersuchung durch seine kubanischen Ärzte den Krebs für besiegt erklären: »Dies ist keine Zeit zum Sterben, wir müssen leben, und ich habe mit euch noch eine große Verpflichtung für die nächste Amtszeit des Präsidenten. Mit der Hilfe Gottes werde ich weiter an der Spitze dieses Kampfes stehen.« Am 7. Oktober 2012 stellt sich Chávez der Wiederwahl als Staatsoberhaupt Venezuelas. Wer für die Opposition als Herausforderer ins Rennen geht, will diese im Februar bei Vorwahlen entscheiden. Unterstützt wird der Amtsinhaber hingegen weiter von der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV), die im August bei ihrem Parteitag ihre Treue zu der von Chávez geführten Bolivarischen Revolution bekräftigte. Der Präsident wandte sich mit einer telefonischen Grußbotschaft an die Delegierten und bekräftigte, die Einheit mit den Kommunisten sei eine »historische Notwendigkeit«. Zuvor war es zwischen der Regierung und der PCV zu Spannungen gekommen, die sich vor allem am Verhältnis zur kolumbianischen FARC-Guerilla entluden. Im April hatten die Behörden in Caracas den schwedischen Journalisten kolumbianischer Abstammung Joaquín Pérez Becerra bei seiner Ankunft in Venezuela festgenommen und innerhalb weniger Stunden an Bogotá ausgeliefert. Die Regierung des Nachbarlandes wirft dem Chef der alternativen Nachrichtenagentur ANNCOL vor, »Europavertreter« der Guerilla zu sein. Seither sitzt er in Kolumbien im Gefängnis, der Prozeß gegen ihn soll im Februar eröffnet werden. Anfang Juni wurde dann in Venezuela auch Julián Conrado verhaftet, der als bekanntester Sänger der Aufständischen in Kolumbien gilt. Offenbar als Konsequenz aus den Protesten nach der Auslieferung Pérez Becerras schoben die Behörden in seinem Fall das Auslieferungsbegehren aus Bogotá auf die lange Bank. Am Donnerstag erklärte nun Venezuelas Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz, Conrado könne nicht an Kolumbien ausgeliefert werden, weil das von den dortigen Behörden übermittelte Auslieferungsersuchen widersprüchlich sei. Außerdem prüfe sie, Conrado wegen einer Erkrankung aus humanitären Gründen Asyl zu gewähren. In Kolumbien selbst ist ein Ende des seit Jahrzehnten andauernde Bürgerkriegs unterdessen weiter nicht absehbar. Am 4. November töteten Regierungstruppen den obersten FARC-Comandante Alfonso Cano, am 26. November starben vier von den Aufständischen gefangen gehaltene Offiziere bei dem Versuch der Armee, sie gewaltsam zu befreien.
Cajamarca
Vier Länder Lateinamerikas wählten 2011 ihre Staatspräsidenten. In Peru setzte sich am 5. Juni Ollanta Humala in der Stichwahl gegen Keiko Fujimori durch, die Tochter des inhaftierten Exdiktators Alberto Fujimori. Die peruanische Linke und Gewerkschaften setzten große Hoffnungen in den neuen Staatschef, der eine antineoliberale Politik und demokratische Veränderungen versprach. Die Euphorie nach seinem knappen Sieg machte gegen Jahresende jedoch Ernüchterung Platz. Auf Proteste der Einwohner von Cajamarca im Norden der peruanischen Anden reagierte die Regierung mit Demonstrationsverboten, Polizeieinsätzen und der Verhängung des Ausnahmezustands über die Region. Der als Hardliner auftretende Innenminister Óscar Valdes wurde für die Unterdrückung der Proteste mit dem Posten des Ministerpräsidenten belohnt, nachdem Vorgänger Salomon Lerner seinen Rücktritt erklärt hatte.
Im Amt bestätigt wurden im Herbst Nicaraguas Präsident Daniel Ortega und seine argentinische Amtskollegin Cristina Fernández, während in Guatemala Otto Pérez Molina für die rechte Patriotische Partei (PP) das höchste Staatsamt erobern konnte. Hier war es zu der ungewöhnlichen Situation gekommen, daß die Regierungspartei mit keinem eigenen Kandidaten auf den Stimmzetteln vertreten war. Ursprünglich hatte Sandra Torres für die sozialdemokratisch orientierte Nationale Union der Hoffnung (UNE) ins Rennen gehen sollen. Sie war jedoch mit Amtsinhaber Álvaro Colom verheiratet, was eine Kandidatur dem guatemaltekischen Recht zufolge verhinderte. Prompt ließ sich die First Lady im April von ihrem Gatten scheiden. Im Juni durchkreuzte jedoch der Oberste Gerichtshof dieses Manöver und urteilte, die nur aus taktischen Gründen vollzogene Scheidung sei ein Verstoß gegen die Gesetze und Torres’ Kandidatur somit rechtswidrig.
Chile
Monatelang prägten die Proteste der Studierenden und Schüler Chiles die Politik des südamerikanischen Landes. Die Besetzungen, Streiks und Großdemonstrationen richteten sich gegen die Privatisierungspolitik der rechten Regierung von Staatschef Sebastián Piñera. Die Jugendlichen forderten eine Überwindung des noch aus den Zeiten der Pinochet-Diktatur stammenden Bildungssystems sowie eine Abschaffung der horrenden Studiengebühren. Zum international bekanntesten Gesicht dieser Bewegung, zu der auch Elternvereinigungen, Gewerkschaften und Oppositionsparteien gehörten, wurde die Geographiestudentin Camila Vallejo als Vorsitzende der FECH, des Studentenverbandes der Universität von Chile, die als wichtigste Hochschule des Landes gilt. Die 23jährige irritierte nicht nur die bürgerlichen Medien ihres Landes, sondern schaffte es bis auf die Titelseite der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit. Vallejo selbst wies jedoch alle Versuche zurück, sie auf die Rolle des »schönen Gesichts« zu reduzieren. »Ich habe mir mein physisches Aussehen nicht ausgesucht, aber sehr wohl mein politisches Projekt«, sagte die junge Kommunistin der kubanischen Zeitung La Calle del Medio. Anfang Dezember unterlag sie bei ihrer erneuten Kandidatur zum Vorsitz der FECH knapp einem anderen linken Kandidaten und wird ihre Arbeit 2012 somit als Vizepräsidentin fortsetzen.
Kuba bekräftigte unterdessen seinen sozialistischen Kurs. Im April beging die Insel nicht nur den 50. Jahrestag des Sieges über die von der CIA gesteuerte Invasion in der Schweinebucht, sondern auch den VI. Parteitag der Kommunistischen Partei. Hier wurden zahlreiche Reformvorhaben verabschiedet, um das Wirtschaftsmodell des Landes »zu aktualisieren«. Das »übermäßig zentralisierte Modell«, das derzeit die kubanische Ökonomie kennzeichne, müsse in ein dezentrales System überführt werden, forderte der auf dem Kongreß offiziell zum Ersten Sekretär des ZK gewählte Raúl Castro in seinem Rechenschaftsbericht. Dazu wurden inzwischen zahlreiche Einschränkungen aufgehoben und den Kubanern beispielsweise der Verkauf von Wohnungen, die Aufnahme von Bankkrediten und zahlreiche selbständige Tätigkeiten gestattet. Im Dezember sprach sich die Nationalversammlung der Volksmacht, das kubanische Parlament, zudem für eine Justizreform aus. Die zentralen Bereiche der Wirtschaft sollen jedoch in staatlicher Hand und die sozialistische Planung vorherrschend bleiben, unterstrich Castro. Anfang 2012 soll eine Parteikonferenz den Stand der Veränderungen bewerten und über weitere Maßnahmen beraten.
* Aus: junge Welt, 24. Dezember 2011
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