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In Kuba läuft der Zensus 2012

Die 18. Volkszählung auf der Insel soll einen Überblick über die Lebensverhältnisse schaffen

Von Leo Burghardt, Havanna *

Derzeit erlebt Kuba die 18. Volkszählung seiner Geschichte. Man will ergründen, »wer wir sind, wie wir wohnen und leben, wie viele wir sind und was wir tun«. Am 24. September soll sie abgeschlossen sein. Bei der ersten Volkszählung auf der Insel im Jahre 1774 wollten die spanischen Kolonialbehörden nur wissen, mit wie vielen Untertanen sie es zu tun haben und welcher Rasse sie angehören, wobei man die Erfassung der afrikanischen Sklaven nicht so ernst nahm. Trotzdem glauben die Historiker, dass die Endabrechnung von 171 620 Einwohnern akzeptabel war. Bis zum Ende der spanischen Herrschaft machten sich die Statistiker weitere sieben Mal ans Werk. 1841 hatte die Bevölkerungszahl die Millionengrenze überschritten, der Zensus von 1899 sah zum ersten Mal Frauen unter den Beschäftigten, die auch zum ersten Mal mit Lochkarten arbeiteten. In jenem Jahr ging der lange Befreiungskrieg der Kubaner gegen die spanische Kolonialmacht zu Ende, deren Brutalität in nichtkubanischen Geschichtsbüchern kaum Beachtung findet. Zum Beispiel blockierten die Truppen Madrids große ländliche Gebiete, die sich der Unterstützung der Guerilla verdächtig gemacht hatten, so lange, bis viele Tausend Menschen verhungert waren. Die Volkszählung ergab darum einen Rückgang der Bevölkerungszahl.

Bis zum Sieg der Revolution Anfang 1959 folgten weitere fünf Volkszählungen, danach drei, die letzte war 2002. Immer wurden mehr Männer als Frauen erfasst, bis sich 1970 ein Gleichgewicht ergab. In den vergangenen acht Jahren wuchsen Anerkennung und Geltung der kubanischen Frauen beinahe wunschgemäß. Sie bekleiden heute 70 Prozent der öffentlichen Wahlämter, nehmen in der Nationalversammlung 45,2 Prozent der Sitze ein (der drittgrößte Frauenanteil weltweit) und leiten die Ministerien für Arbeit und soziale Sicherheit, Volksbildung, Finanzen und Preise, Lebensmittelindustrie, Binnenhandel, Wissenschaft, Justiz und Leichtindustrie.

Dieser Volkszählung und jener, die wahrscheinlich 2021 stattfinden wird, messen die Planer strategische Bedeutung zu, denn 2021 übersteigt zum ersten Mal die Zahl derjenigen Bürger, die in Rente gehen, jene, die neu auf den Arbeitsmarkt kommen - obgleich unlängst das Rentenalter um fünf Jahre heraufgesetzt wurde, bei Frauen von 55 auf 60, bei Männern von 60 auf 65. Auch wurde den Rentnern erlaubt, eine Arbeit aufzunehmen, ohne dass ihre Rente angetastet wird. »Für die Überalterung unserer Bevölkerung gibt es keine Lösung«, weiß Raúl Castros Mann »für ökonomische Weitsicht«, Marino Murillo. »Unsere Gesellschaft muss sich darauf vorbereiten.«

Die Frauen haben dank der Revolution Zugang zu höherer Bildung und Verantwortung in fast allen Bereichen erhalten, doch hat sich das negativ auf ihre Gebärfreudigkeit ausgewirkt. Kubanische Frauen haben im Durchschnitt 1,5 Kinder. Dazu kommt: Die Lebenserwartung liegt heute bei 78 Jahren und jährlich emigrieren etwa 35 000 vorwiegend junge Männer und Frauen mit solider Ausbildung. 2011 waren zwei Millionen Kubaner über 60 Jahre alt. Das sind 17 Prozent der Gesamtbevölkerung von 11,25 Millionen. In Lateinamerika und in der Karibik liegt der Anteil bei neun Prozent. Von den 407 145 Emigranten, die zwischen 1994 und 2006 ihr Land verließen (neuere Statistiken liegen nicht vor), waren 51,1 Prozent Frauen.

Wie das Problem entschärfen, ohne die sozialen Leistungen der Revolution über die Maßen zu gefährden? Als am 4. September das neue Semester begann und man erfuhr, dass 100 000 Studenten für die Medizinischen Fakultäten immatrikuliert worden waren, fragte ein Arzt bei einem Rundtischgespräch im Fernsehen, ob wohl die zuständigen Ministerien in Betracht gezogen hätten, dass »wir in Zukunft mehr Kollegen für die Geriatrie als für die Pädiatrie brauchen«. Das Hochschulministerium bestätigte, dass das selbstverständlich geschehen sei. Kuba hat über Jahre Tausende Mediziner, Lehrer und Trainer nach Lateinamerika entsandt. Könnte es sein, dass eines nicht fernen Tages die lateinamerikanischen Partner dem »ungebrochen solidarischen Kuba« (Nelson Mandela) solidarisch unter die Arme greifen?

* Aus: neues deutschland, Montag, 24. September 2012


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