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Kuba probt den schlanken Staat

Eine Million Staatsangestellte sollen im Privatsektor ihr Auskommen finden

Von Martin Ling *

Die Richtung der Ende Juli von Staats- und Regierungschef Raúl Castro angekündigten Wirtschaftsreformen wird deutlicher: Der Staatssektor wird zugunsten des Privatsektors erheblich verschlankt. Dafür müssen sich eine Million Staatsbedienstete auf Jobsuche begeben.

Die Zentrale der Arbeiter Kubas (CTC), der Gewerkschaftsverband, erfüllte am Montagabend ihre Pflicht als Transmissionsriemen. In einer Ankündigung, die sich unkommentiert auch auf der Website der Tageszeitung »Granma« findet, teilt sie die Pläne der kubanischen Regierung zur »Konsolidierung der erreichten Errungenschaften« mit: »Entsprechend dem Prozess der Aktualisierung des ökonomischen Modells und den Projektionen für die Wirtschaft in der Periode 2011-2015, ist in den Richtlinien für das kommende Jahr vorgesehen, die Zahl der im Staatssektor Beschäftigten um 500 000 zu senken und parallel dazu die Beschäftigtenzahl im nichtstaatlichen Sektor aufzustocken.« Den 500 000 zuerst auf der Streichliste Stehenden wird laut »BBC Mundo« eine Stelle in Sektoren mit Arbeitermangel wie Landwirtschaft, Bauwirtschaft, als Lehrer, Polizist oder Industriearbeiter angeboten.

Die Nachricht an sich trifft die Kubaner nicht überraschend. Nachdem Raúl Castro im Frühjahr 2006 faktisch die Regierungsgeschäfte in die Hand genommen hatte, erwartete die Bevölkerung Reformen in der Wirtschaft. Bisher hielten die sich jedoch - abgesehen von der in großem Maßstab geplanten Verteilung von ungenutztem Land an interessierte Kubaner - in Grenzen. Die Dimension der Nachricht ist freilich gewaltig: Insgesamt sollen in den kommenden Jahren über eine Million Staatsangestellte entlassen werden. Das sind gut 20 Prozent der 4,9 Millionen in Kuba erwerbstätigen Menschen. Außerdem würden die entlassenen Staatsbediensteten nicht mehr wie früher bis zu 60 Prozent ihres Lohns als Arbeitslosenhilfe bekommen, sondern müssten sich andere Einkommensquellen suchen. Zu diesem Zweck plant die Regierung laut »BBC Mundo« die Ausgabe von 460 000 Lizenzen für das so genannte Arbeiten auf eigene Rechnung. Gemeint sind vor allem kleine Handwerksbetriebe und Einzelhandelsgeschäfte.

»Unser Staat kann und darf Unternehmen und Produktionseinheiten mit aufgeblasenen Belegschaften und Verlusten, die die Wirtschaft belasten, nicht weiter aufrechterhalten«, hieß es in der CTC-Mitteilung. »Sie sind kontraproduktiv, erzeugen schlechte Gewohnheiten und deformieren das Verhalten der Arbeiter.«

Kuba ist nach der Weltwirtschaftskrise und mehreren Unwetterkatastrophen, aber auch durch eigene Fehler in der Wirtschaftspolitik in eine schwere Krise geraten. Das Land muss unter anderem Lebensmittel für umgerechnet über eine Milliarde Euro importieren. Die kubanische Führung bemüht sich derzeit, die Wirtschaft des Landes auf mehr Produktivität zu trimmen. Bereits Ende Juli hatte Präsident Raúl Castro angekündigt, im Zuge seiner Reformen überzählige Beschäftigte zu entlassen. Die sozialistische Führung erhofft sich von dem Schritt eine Steigerung der Produktivität der schwächelnden Planwirtschaft.

* Aus: Neues Deutschland, 15. September 2010


Das große Experiment

Von Martin Ling **

»Man muss ein für alle Mal mit der Vorstellung aufräumen, dass Kuba das einzige Land auf der Welt ist, in dem man leben kann, ohne zu arbeiten.« Den scharfen Worten, die Raúl Castro Ende Juli im Parlament fand, werden nun Taten folgen: Zug um Zug sollen eine Million Staatsbedienstete auf die Straße gesetzt werden. Offenbar muss Luft aus dem aufgeblähten Staatssektor gelassen werden, weil die Staatsfinanzen die Alimentierung so vieler Staatsdiener nicht mehr zulassen. Das ist ein deutliches Krisenzeichen. Im kleingewerblichen Privatsektor sollen die Entlassenen ihr Auskommen finden. Ein in dieser Größenordnung für Kuba bisher beispielloses Experiment.

Die kubanische Regierung hat bisher Privatinitiative wie freie Bauernmärkte oder Kleinunternehmertum immer nur zugelassen, wenn die ökonomische Notwendigkeit keinen anderen Ausweg ließ. Sobald sich die Lage oberflächlich entspannte, wurden die Zügel wieder angezogen. Aus Angst davor, dass die Marktkräfte mittels Privatinitiative die relative Egalität der Gesellschaft, das Fundament der Revolution, untergraben. Diese Angst ist nicht unbegründet. Doch auch in Kuba ist Angst ein schlechter Ratgeber. Wo Initiative nicht gefördert wird, entsteht keine Dynamik, weder wirtschaftlich noch gesellschaftlich. Ob diese Erkenntnis in Kuba nun handlungsleitend ist, bleibt offen. Bisher war sie es nicht.

** Aus: Neues Deutschland, 15. September 2010 (Kommentar)


Systemfrage

Entlassungen in Kuba

Von André Scheer ***


Kuba steht vor dramatischen Veränderungen. Die vom Nationalen Sekretariat des Gewerkschaftsbundes CTC angekündigten Massenentlassungen von einer halben Million Menschen bis Ende März kommenden Jahres sind ein Drahtseilakt. Gelingt es nicht, die Entlassenen schnell in neue, stabile Arbeitsverhältnisse zu bekommen, könnte daraus eine gefährliche Situation entstehen. Die CIA-gesteuerten Contras aus Miami werden nicht zögern zu versuchen, diese Menschen für ihre Ziele zu mißbrauchen. Bereits jetzt verkündet Washingtons Hetzsender »Radio Martí«, die Entlassungen würden »größere soziale Probleme« verursachen, deren Lösung nur »radikale Reformen des Systems« bringen könnten. Daß eine der Hauptursachen für die Krise die von US-Präsident Barack Obama gerade erst wieder verlängerte Blockade ist, verschweigt der Sender wohlweislich, und er vergißt auch, daß die Unwetter der vergangenen Jahre, die eine sich abzeichnende Erholung zunichte gemacht hatten, ebenfalls ihren Anteil an der jetzigen Krise haben.

Für Kuba steht nicht nur ein Wirtschaftsmodell auf dem Spiel, sondern nicht weniger als seine Existenz als tatsächlich unabhängiger Staat. Seine Souveränität steht und fällt mit der Revolution. Bis 1959 war Kuba eine Halbkolonie, das Bordell der USA. Die Mafia regierte in Havanna direkt mit, und wenn ein »Staatschef« aufmuckte, schickte Washington die Kanonenboote und Marines. Das änderte sich erst mit dem Sieg der Rebellenarmee Fidel Castros. Seither ist Kuba in Lateinamerika das große Beispiel dafür, daß ein anderer Entwicklungsweg möglich ist. Mit sozialen Indikatoren in Bereichen wie Gesundheitsversorgung, Bildungswesen und Alphabetisierung konnte (und kann) Kuba die Vorteile einer von Washington unabhängigen Gesellschaftsordnung demonstrieren. Doch eine kleine, blockierte Insel mit gut elf Millionen Einwohnern inmitten eines vom Imperialismus kontrollierten Weltmarkts kann nicht einfach zum Kommunismus übergehen. Kubas Präsident Raúl Castro sprach im August davon, daß Kuba als »das einzige Land der Welt« gelte, »in dem man ohne Arbeit leben kann«. Nun fordern die Gewerkschaften, das »Prinzip der sozialistischen Verteilung« – jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen – wieder durchzusetzen.

Gelingt der Befreiungsschlag, könnte sich Kuba schneller erholen und stabilisieren, als es seinen Feinden lieb ist. Effiziente staatliche Unternehmen, deren Erlöse der Sicherung der Errungenschaften der Revolution dienen, kommen auch denen zugute, die jetzt unter den Maßnahmen leiden. Ein Sieg von Washington und Weltbank jedoch würde auch für sie ein Schicksal bedeuten, das ihre Nachbarn in den Slums von Haiti oder Zentralamerika bereits heute erleiden. Wenn es Kubas Gewerkschaften und Kommunisten gelingt, diese Wahrheit in der Bevölkerung zu verankern, dürfte die Hetze aus Miami weiterhin wirkungslos verpuffen.

*** Aus: junge Welt, 15. September 2010

Neue Formen nichtstaatlicher Arbeitsbeziehungen

Das Nationale Sekretariat des kubanischen Gewerkschaftsbundes CTC veröffentlichte am Montag (Ortszeit) die folgende Erklärung zum Abbau von Arbeitsplätzen im staatlichen Sektor: ****

Die kubanische Revolution vollendet 52 Jahre ihrer siegreichen Existenz, und heute mehr denn je sind in der Führung der Nation und in unserem Volk der Willen und die Entschlossenheit lebendig und unverrückbar, den Aufbau des Sozialismus fortzusetzen, bei der Entwicklung und der notwendigen Aktualisierung des Wirtschaftsmodells voranzuschreiten und so die erreichten Errungenschaften zu festigen. (…)

In Übereinstimmung mit dem Aktualisierungsprozeß des Wirtschaftsmodells und den Wirtschaftsprognosen für die Zeit 2011 bis 2015 wird in den Vorgaben für das kommende Jahr der Abbau von mehr als 500000 Arbeitsplätzen im staatlichen Sektor und parallel ihre Schaffung im nichtstaatlichen Sektor vorgesehen. Der Zeitplan für die Durchführung wird von den Organisationen und Unternehmen bis zum ersten Quartal 2011 festgelegt. (…) Es ist bekannt, daß der Überhang an Plätzen die Zahl von einer Million Personen in den budgetierten und unternehmerischen Bereichen übersteigt.

Unser Staat kann und darf nicht weiter Unternehmen sowie budgetierte, produktive und Dienstleistungseinrichtungen mit einer aufgeblähten Zahl von Arbeitsplätzen unterhalten. Verluste, die die Wirtschaft belasten, sind kontraproduktiv, schaffen schlechte Verhaltensweisen und deformieren die Haltung der Arbeiter. Es ist notwendig, die Produktion und die Qualität der Dienstleistungen zu erhöhen, die aufgedunsenen Sozialabgaben zu reduzieren und unnötige Gratisleistungen, übermäßige Subventionen, das Studium als Arbeitsmöglichkeit und den vorzeitigen Ruhestand zu beseitigen. (…)

Für den Umgang mit den Arbeitern, die sich in einer Einrichtung oder auf einem Arbeitsplatz als zur Disposition stehend herausstellen, erweitert und diversifiziert sich der gegenwärtige Horizont von Optionen durch neue Formen nichtstaatlicher Arbeitsbeziehungen als Alternative zur Beschäftigung. Dazu gehören Verpachtungen, Nutzungsrechte, Kooperativen und die Arbeit auf eigene Rechnung, wohin sich in den kommenden Jahren Hunderttausende Arbeiter bewegen werden.

Innerhalb des staatlichen Sektors wird es nur möglich sein, die unverzichtbaren Plätze in historisch unter Arbeitskräftemangel leidenden Bereichen wie der Landwirtschaft, dem Bauwesen, die Lehrer, Polizisten, Industriearbeitern und anderen zu besetzen.

Das Land erlebt in verschiedenen Bereichen wie der Erdölwirtschaft, dem Bauwesen, der Biotechnologie, der pharmazeutischen Industrie und dem Tourismus einen wichtigen Investitionsprozeß. Ebenso werden andere Güterproduktionen gefördert und der Export von Dienstleistungen ausgeweitet, was ebenfalls Arbeitsmöglichkeiten schaffen wird. (…) Eine Angelegenheit von einzigartiger Bedeutung stellt das Gehalt dar. Das Prinzip der sozialistischen Verteilung muß wiederbelebt werden, jeden nach dem Maß und der Qualität seiner geleisteten Arbeit zu bezahlen. Die Systeme der Zahlung nach Ergebnis, die in Zentren mit besser angepaßten Plätzen angewandt werden, bleiben der Weg, um die Produktivität und damit das Einkommen der Arbeiter zu erhöhen. (…)

Die Einheit der kubanischen Arbeiter und unseres Volkes war der Schlüssel, um die gigantische, von der Revolution geleistete Arbeit zu realisieren. In den Veränderungen, die wir nun unternehmen, bleibt sie unsere wichtigste strategische Waffe.

(Übersetzung: André Scheer)

**** Aus: junge Welt, 15. September 2010




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