Kuba trat der Rio-Gruppe bei
Raúl Castro: "Ein bedeutender Augenblick in unserer Geschichte"
Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *
Mit der Aufnahme in die sogenannte Rio-Gruppe ist Kuba näher an die lateinamerikanischen
Nachbarstaaten herangerückt. Der Karibikstaat trat dem regionalen Forum bei einem Gipfeltreffen
mehrerer lateinamerikanischer Staatengruppen in Brasilien bei.
Raúl Castro strahlte über das ganze Gesicht. »Es ist ein bedeutender Augenblick in unserer
Geschichte«, sagte der kubanische Staatschef am Dienstag (Ortszeit) auf dem Lateinamerikagipfel
im brasilianischen Badeort Costa do Sauípe bei Salvador da Bahia. Konkret bezog er sich auf die
Aufnahme des Inselstaates in die Rio-Gruppe, einen Zusammenschluss von mittlerweile 22 Staaten
aus Lateinamerika und der Karibik. Es ist der erste Beitritt Kubas zu einem Regionalforum seit 1962
– und die Krönung von Castros erster Auslandsreise als Staatschef.
Seit mittlerweile gut zwei Jahren versucht der 77-Jährige als Nachfolger seines kranken Bruders
Fidel, durch behutsame Reformen den Fortbestand des kubanischen Systems zu sichern. Vor allem
möchte er vermeiden, dass Kuba in den nächsten Jahren wieder in die Einflusssphäre der USA
zurückfällt. Der wichtigste Verbündete dabei war in den letzten Jahren Venezuelas Präsident Hugo
Chávez, der Kubas Wirtschaft mit billigen Ölliferungen unterstützt. Im Gegenzug arbeiten Tausende
kubanische Fachkräfte in Venezuela, vor allem Ärzte.
Diskreter war zunächst das Kuba-Engagement Brasiliens. Doch allein in diesem Jahr war Präsident
Luiz Inácio Lula da Silva, ein alter Bekannter der Castros aus seiner Zeit als Gewerkschaftsführer
und Gründer der Arbeiterpartei, bereits zweimal in Havanna. Neben brasilianischen Investitionen in
Landwirtschaft, Infrastruktur und Ölbohrungen, die großzügig durch Staatsdarlehen finanziert
werden, geht es Brasília dabei auch darum, sich als Regionalmacht zu positionieren.
»Brasilien hat die politischen Voraussetzungen, um die internationale Wiedereingliederung Kubas zu
erleichtern«, meinte der Historiker Luiz Alberto Moniz Bandeira.
Lula forderte zudem erneut die Aufhebung des seit 1962 bestehenden Kuba-Embargos durch die
USA, und zu Castro sagte er: »Deine Anwesenheit ist sehr wichtig für uns, Raúl. Ich hoffe, das ist
das erste einer ganzen Reihe von Treffen.« Castro wiederum erklärte, die OAS (Organisation
Amerikanischer Staaten), in der die USA den Ton angeben, »ist ein Kürzel, das verschwinden
muss«.
Mit der Aufwertung Kubas wollten die Lateinamerikaner keinen Druck auf den gewählten USPräsidenten
Barack Obama ausüben, sagte der brasilianische Außenminister Celso Amorim. »Aber
wenn es dazu dient, dass er sieht, woher der Wind weht, umso besser.«
Der Lateinamerikagipfel in Bahia ist der erste überhaupt, bei dem sich Regierungsdelegationen
sämtlicher 33 Länder aus der Region ohne die USA oder Spanien und Portugal treffen.
* Aus: Neues Deutschland, 18. Dezember 2008
Dokumentiert:
"Sondererklärung" des Lateinamerika-Karibik-Gipfels zur US-Blockade gegen Kuba
Die Staats- und Regierungschefs der Länder Lateinamerikas und der Karibik, die aus Anlaß des Gipfeltreffens Lateinamerikas und der Karibik über Integration und Entwicklung (...) zusammengekommen sind,
IN ERWÄGUNG der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossenen Resolutionen über die Notwendigkeit einer Beendigung der von den Vereinigten Staaten gegen Kuba verhängten Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade und der diesbezüglichen Stellungnahmen, die über das selbe Thema in zahlreichen internationalen Konferenzen verabschiedet wurden,
BETONEN, daß in Verteidigung des freien Austausches und der transparenten Praxis des internationalen Handels die Anwendung einseitiger Zwangsmittel, die den Wohlstand der Völker beeinträchtigen und die Integrationsprozesse behindern, nicht akzeptabel ist,
VERURTEILEN in energischster Weise die Anwendung von Gesetzen und Maßnahmen, die dem Völkerrecht widersprechen, wie das Helms-Burton-Gesetz, und fordern von der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, daß sie deren Anwendung beendet,
FORDERN die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika auf, die in 17 aufeinanderfolgenden, von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen Resolutionen, erhobenen Forderungen zu erfüllen und die Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade gegen Kuba zu beenden,
ERSUCHEN insbesondere die Regierung der Vereinigten Staaten darum, daß sie sofort die Anwendung der Maßnahmen stoppt, die in den vergangenen fünf Jahren angenommen wurden, um die Wirkung ihrer Politik der Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade gegen Kuba zu verstärken und zu vertiefen.
** Aus: junge Welt, 19. Dezember 2008
Adiós Washington
Von André Scheer ***
Die Staaten Lateinamerikas und der Karibik emanzipieren sich weiter von Washington. Zum Abschluß ihres zweitägigen Gipfeltreffens im brasilianischen Ferienort Costa do Sauípe forderten sie einmütig ein Ende der US-Blockade gegen Kuba. In einer am Mittwoch (Ortszeit) verabschiedeten Erklärung der 33 lateinamerikanischen und karibischen Länder heißt es, die Regierung der Vereinigten Staaten solle die Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade gegen Kuba aufheben und damit den Forderungen entsprechen, die von der UN-Vollversammlung in 17 aufeinander folgenden Resolutionen aufgestellt wurden.
»Wenn die Vereinigten Staaten die Blockade nicht aufheben, sollten wir unsere Botschafter aus Washington abberufen«, erklärte Boliviens Präsident Evo Morales bei dem Spitzentreffen. Das wäre zwar eine »radikale Maßnahme«, räumte der Linkspolitiker ein, aber es würde die Solidarität der Völker der Region mit Kuba demonstrieren. Morales forderte zudem, Kuba wieder in die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) aufzunehmen. Die Mitgliedschaft der revolutionären Inselrepublik in diesem Zusammenschluß praktisch aller unabhängigen Staaten des Doppelkontinents mit Sitz in Washington war auf Betreiben der USA im Februar 1962 »suspendiert« worden. Damals hatte die OAS-Außenministerkonferenz in Punta del Este festlegt, der Marxismus-Leninismus, zu dem sich Kuba bekannte, sei unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der Organisation. Morales forderte nun den amtierenden OAS-Generalsekretär José Miguel Insulza auf, die damalige Resolution »in den Müll zu werfen oder in der Toilette runterzuspülen«. Morales weiter: »Kuba muß in die OAS zurückkehren, sonst müssen wir eine andere OAS ohne die USA machen.« Auch Mexikos Staatschef Felipe Calderón plädierte für eine eigenständige Union ohne die nordamerikanischen Staaten USA und Kanada.
Ohne Frage, Kuba war der heimliche Star in Costa do Sauípe. Präsident Raúl Castro fühlte sich sichtlich wohl bei seinem ersten Gipfel außerhalb der Republik Kubas, seit er im Februar offiziell zum Staatschef seines Landes gewählt wurde. »Kuba steht zu seiner solidarischen, brüderlichen und uneingeschränkten Bereitschaft, mit euch im Sinne einer Union der Staaten zusammenzuarbeiten, die José Martí als Unser Amerika bezeichnete«, sagte Raúl Castro in einer kurzen Ansprache. In der überbrachte er auch die Grüße seines Bruders Fidel überbrachte, der 2006 in Argentinien zum letzten Mal als Präsident Kubas an einem internationalen Gipfeltreffen teilgenommen hatte.
Neben dem Lateinamerika-Karibik-Gipfel, bei dem zum ersten Mal alle Staaten der Region, aber keine »Aufpasser« wie die USA oder Spanien eingeladen waren, tagte in Costa do Sauípe auch die sogenannte Rio-Gruppe. Das Konsultativgremium, dem fast alle lateinamerikanischen Staaten angehören, nahm Kuba als 23. Mitglied auf. Praktisch zeitgleich beschloß die Union Südamerikanischer Nationen (Unasur) die Gründung eines Verteidigungsrates. Vorgesehen sind gemeinsame Manöver und eine Kooperation der Rüstungsindustrie.
Die neue Souveränität gegenüber der Großmacht im Norden zeigt sich auch symbolträchtig in einem Beschluß des wirtschaftspolitischen Zusammenschlusses Mercosur. Die Staaten Südamerikas wollen bis zu einer Summe von 30 Millionen US-Dollar die Exporte Boliviens aufkaufen, die bislang in die USA gegangen waren. Damit reagieren sie ausdrücklich auf die einseitige Einschränkung des Handelsverkehrs durch die USA. US-Präsident George W. Bush hatte quasi als Abschiedsgeschenk bisher für Bolivien geltende Vorzugsregeln aufgehoben, wodurch sich die Exporte des südamerikanischen Landes in die Vereinigten Staaten drastisch verteuern.
*** Aus: junge Welt, 19. Dezember 2008
Castro geht diplomatisch in die Offensive
Gesprächsangebot an Obama und Auslandsreisen zu Freunden
Von Leo Burghardt, Havanna ****
Kubas Staatschef Raúl Castro hat sich in seiner bisherigen Amtszeit fast
ausschließlich mit
Innenpolitik befasst. Bei seiner ersten Auslandsreise setzte er nun
außenpolitische Akzente, die in
Washington nicht auf Gegenliebe stießen.
Barack Obama muss sich über Dialogangebote nicht beklagen. Kubas
Staatschef Raúl Castro
erklärte sich am Donnerstag bei einem Besuch in Brasilien bereit, den
künftigen USa-Präsidenten zu
treffen, »egal wo und wann er es entscheidet«. Zur Bedingung für ein
Treffen mit Obama machte
Castro, dass sich beide Staatschefs auf Augenhöhe unterhalten müssten.
Die Antwort Obamas steht noch aus. Nicht so die Antwort der
Bush-regierung auf Castros Angebot,
inhaftierte Dissidenten frei zu lassen, wenn die USA im Gegenzug fünf
wegen Spionage verurteilte
Kubaner, die sogenannten Miami five, zurück in ihre Heimat lassen. Das
US-Außenministerium und
kubanische Menschenrechtler wiesen Castros Vorschlag eines
Gefangenenaustauschs umgehend
zurück.
»Wir brauchen eine beiderseitige Geste«, sagte Castro. Er wolle die
inhaftierten Systemkritiker und
ihre Familien in die USA entlassen, wenn Washington »uns unsere fünf
Helden wiedergibt.« Castro
machte allerdings keine Angaben dazu, wie viele Oppositionelle er
freilassen würde.
Der 77-Jährige befindet sich derzeit auf seiner ersten Auslandsreise,
seit er Anfang 2008 zum
Nachfolger seines erkrankten Bruders Fidel gewählt wurde. Erste Station
war erwartungsgemäß
Venezuela, der engste, hilfreichste und zuverlässigste Verbündete
Havannas. Die mehr als 150
zusätzlichen Verträge und Abkommen, die von den Experten beider Staaten
für diesen Anlass in
wochenlanger Kleinarbeit ausgearbeitet worden waren, haben
Joint-Venture-Qualität. Es gibt in den
Beziehungen beider Länder kaum noch etwas Relevantes, das nicht verzahnt
wäre oder auf
Verzahnung hinausläuft.
Auf den Venezuela-Besuch folgte die Reise nach Brasilien zum
Lateinamerika- und Karibik-Gipfel im
Seebad Costa do Sauípe bei Salvador da Bahia, wo sich erstmals die
Spitzen aller Staaten des
Subkontinents trafen, um ohne Einmischung von außen, also ohne USA oder
die Europäische
Union, zu beraten, wie die gesamtregionale Integration zu beschleunigen
wäre. Das ist ein alter
Traum der klügsten und patriotischsten Köpfe Mittel- und Südamerikas
sowie der karibischen
Staaten, der jedoch immer wieder scheiterte, wenn es darum ging, ihn in
die Tat umzusetzen: Zu
unterschiedlich sind die Volkswirtschaften, zu unterschiedlich die
Bündnispartner, zu störend
Reibereien untereinander und zu gewaltig der Druck aus den USA, denen
nichts ungelegener
kommen kann als ein geeintes Amerika südlich seiner Grenzen, seines
sogenannten Hinterhofs
also. In Sauípe fanden zugleich mit dem lateinamerikanischen und
karibischen Gipfel fünf andere
Blockgipfel statt. Es ging um die Frage: Inwieweit wird es gelingen, die
unter einem Dach zu
vereinen? Denn – nur um zwei von vielen Beispielen zu nennen –
Argentinien und Uruguay sind
standfeste Befürworter der lateinamerikanischen Integration, aber sie
liegen sich seit Jahren wegen
einer Papierfabrik in den Haaren, die den Rio de La Plata vergiftet. Und
Chile bringt es nicht fertig,
Bolivien einen Zugang zum Pazifik zu gewähren.
Kuba ist in Lateinamerika wohlgelitten. Es hat mit 30 der 32
lateinamerikanischen und karibischen Staaten normale diplomatische
Beziehungen. Nur mit Costa Rica sind sie auf konsularischem Niveau
gefesselt, mit El Salvador geht derzeit überhaupt nichts.
Auffällig war die Sympathie, die die Gipfelteilnehmer Kuba
entgegenbrachten. Fidel Castro ist nicht
vergessen: Allein die Wahrnehmung seines Namens löste mehrere Male
spontanen Applaus aus.
Und dass der Gastgeber Lula, Chef des größten und reichsten Landes des
Subkontinents, Raúl
Castro außerhalb des Programms zu sich nach Brasilia einlud, belegt dies
ebenfalls. Sicher nicht
nur, weil beide – Meister des ironischen Smalltalks – einen guten Faden
miteinander spinnen,
sondern weil Brasilien in Kuba ganz groß einsteigen und sogar Venezuela
vom ersten Platz der
Wirtschaftspartner verdrängen will.
Trotz aller Fortschritte und Absichtserklärungen ist der Weg zur
subkontinentalen Integration auch
nach dem Gipfel noch lang und steinig. Was soll zum Beispiel aus der
Organisation Amerikanischer
Staaten (OAS) werden, die seit Jahrzehnten existiert und im Zweifelsfall
meist zu Gunsten der USA
entscheidet? Kuba wurde auf Betreiben der USA 1962 aus der OAS
ausgeschlossen. Beim Gipfel
war die OAS nicht eingeladen. Dutzende kleiner und großer Hürden bremsen
eine authentische
Integration. Die Einsicht, dass sie kommen muss, hat jedoch großen Raum
gewonnen. Kuba predigt
längst nicht mehr solo.
**** Aus: Neues Deutschland, 20. Dezember 2008
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