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Als die Welt am Abgrund stand ...

Vor 50 Jahren: Die Raketenkrise um Kuba und die Missverständnisse in Moskau und Washington

Von Johnny Norden *

Im Mai 1962 besuchte Nikita Chruschtschow, Generalsekretär der KPDSU und Vorsitzender des Ministerrats der Sowjetunion, Bulgarien. Für den dritten Tag seines Aufenthalts war ein Besuch in Burgas am Schwarzen Meer vorgesehen. Chruschtschow erinnerte sich später an seinen Spaziergang am Strand: ein sonniger Tag, das Meer windgepeitscht, und ein junger Mann aus seinem Beraterstab habe hinüber in Richtung Türkei gewiesen: »Sehen Sie, Nikita Sergejewitsch, da drüben haben die Amerikaner jetzt ihre Jupiter-Raketen stationiert. Sie erreichen mit ihren Atomsprengköpfen in 15 Minuten jeden Punkt im europäischen Teil der Sowjetunion.« In diesem Moment, so Chruschtschow, sei ihm die Idee gekommen, sowjetische Atomraketen auf Kuba zu stationieren.

Operation »Anjadir«

Der Kremlchef glaubte auf diese Weise zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Die atomare Überlegenheit der USA würde gebrochen und Kuba erhielte einen wirksamen Schutz gegen jede Aggression. So ließ er sich denn auch gleich nach seiner Rückkehr am 20. Mai seinen Plan vom Präsidium der KPdSU bestätigen. Damit wurde eine Entwicklung in Gang gesetzt, welche die Welt an den Rand eines Atomkrieges führte.

Um Chruschtschows Vorstoß zu verstehen, muss man wissen, dass die USA Anfang der 60er eine erdrückende militärstrategische Überlegenheit erreicht hatten. Sie verfügten über 6000 einsatzbereite Atomsprengköpfe in Bombern, Raketen und Unterseebooten. Das Vernichtungspotenzial war gegen die Sowjetunion und deren Verbündete gerichtet. Die UdSSR hatte dem nichts entgegenzusetzen. Ende 1961 verstärkten die USA - nach dem Desaster in der Schweinebucht im April - ihre Vorbereitungen einer erneuten Invasion gegen Kuba. Unter Leitung des Justizministers Robert Kennedy, Bruder des US-Präsidenten John F. Kennedy, wurde Miami zur größten CIA-Basis ausgebaut, mit über 3000 Exilkubanern unter dem Kommando von 600 Offizieren, mit eigener Flotte und eigener Luftwaffe. Es war klar, dass es früher oder später zum Aggressionsakt kommen würde.

Kennedys Problem war, dass er als Herr über die gewaltigste Militärmacht keine Vorstellungen vom hohen Schutzbedürfnis der Sowjetunion vor dem Hintergrund traumatischer historischer Erfahrung hatte - des überraschenden, vertragsbrüchigen Überfalls des faschistischen Deutschlands 1941. Auch unterschätzte er die Entschlossenheit der UdSSR, dem freien Kuba zur Seite zu stehen.

Nach Absprache mit Fidel Castro startete am 10. Juli 1962 die Operation »Anjadir«, die größte sowjetische Geheimoperation seit dem Zweiten. Weltkrieg. 85 Schiffe transportierten 40 Mittelstreckenraketen mit Atomsprengköpfen sowie Bodentruppen zum Schutz der Raketenstellungen nach Kuba. Es ist bis heute unklar, warum die Sowjetunion »Anjadir« als geheime Maßnahme durchführte und lange vehement die Raketen auf Kuba leugnete, lieferte dies doch den antisowjetischen Kräften in den USA erst recht Argumente, diese als Aggressionsvorbereitung zu plakatieren.

Rätselhaft bleibt bis heute auch der Umstand, wie eine derart gewaltige Operation unentdeckt von den amerikanischen Geheimdiensten ablaufen konnte. Indirekt ist ihr Versagen auch Kennedy anzulasten. Mit seinem Amtsantritt als Präsident hatte er den wichtigsten Geheimdienst der USA, die CIA, auf ihre Rolle als Terrororganisation zur Durchsetzung amerikanischer Interessen eingeschworen. Dabei blieb deren Aufgabe als Informationsbeschaffer für die Politik auf der Strecke. Dies hatte entscheidenden Einfluss auf das Geschehen 1962. Die CIA und Kennedy waren davon überzeugt, dass in und um Kuba nichts Ungewöhnliches passieren würde.

Hoch gepokert

Doch dann, Anfang September 1962, meldete ein kubanischer Spitzel seinem CIA-Führungsoffizier, es seien eines Nachts unbeleuchtete sowjetische LKWs, beladen mit riesigen zigarrenähnlichen Gegenständen, durch sein Dorf gerumpelt. Der Beamte legte die Information als nicht relevant ab. Am 14. Oktober gelang es aber einem US-Spionageflugzeug, eine sowjetische Mittelstreckenrakete nahe der Kleinstadt San Cristobal im Westen der Insel zu fotografieren. Kennedy wurde zwei Tage später informiert. Er ordnete nun weitere Spionageflüge an, die am 17. Oktober von der Luftabwehr auf Kuba registriert wurden.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt musste es der sowjetischen Seite klar gewesen sein, das »Anjadir« nicht mehr geheim zu halten war. Bei nüchterner Analyse der Lage hätte Moskau begreifen müssen, dass die US-amerikanische Führung das Unternehmen als Bedrohung verstehen würde. Und das bedeutete akute Kriegsgefahr. Dies wäre nun der Moment für Chruschtschow gewesen, an die Öffentlichkeit zu gehen und die Raketenstationierung als defensive Maßnahme zur Verteidigung der kubanischen Revolution zu erklären. Doch das geschah nicht. Ein schwerer Fehler. Denn nun ging die Initiative an die amerikanische Führung über.

Kennedy geriet unter den massiven Druck der Militärs, die einen sofortigen Generalangriff auf Kuba forderten. Der Präsident traf eine scheinbar salomonische Entscheidung: kein Angriff, aber eine totale Seeblockade Kubas mit 180 US-Kriegsschiffen, um weitere Raketenlieferungen zu stoppen. In einer öffentlichen Rede forderte er Chruschtschow am 22. Oktober auf, alle Raketen von Kuba sofort abzuziehen. Für dieses Vorgehen ist Kennedy über Jahrzehnte als kluger und kaltblütiger Stratege gefeiert worden, der Chruschtschow zum Abzug der Raketen zwang und damit der Sowjetunion eine bittere Niederlage bereitet habe. Tatsächlich handelte er - in Unkenntnis der ungeheuren Gefahr für sein Land in diesen Oktobertagen 1962 - eher wie ein verantwortungsloser Hasardeur. Die CIA und der Präsident hatten nämlich keine Vorstellungen von der bereits auf Kuba stationierten sowjetischen Militärmacht. Sie unterschätzten die Zahl, die Reichweite und Sprengkraft der abschussbereiten Raketen, welche in wenigen Minuten die wichtigsten Zentren der USA erreicht hätten. Sie wussten auch nichts von den zwei auf Kuba stationierten Elitedivisionen sowjetischer Landstreitkräfte, die mit 80 lenkwaffengestützten Atomsprengkörpern ausgerüstet waren. Da Kennedy sich all dessen nicht bewusst war, glaubte er, hart gegen Chruschtschow auftreten zu können.

Diese Haltung wiederum musste Chruschtschow und die sowjetischen Generäle verwirrt haben. Denn sie glaubten annehmen zu können, dass Kennedy nun über das Geschehen vor seiner Haustür genau Bescheid wisse. Für die sowjetische Seite machte die Blockade keinen Sinn, denn alles militärisch Notwendige befand sich schon auf der Insel. Und demzufolge konnte die Seeblockade aus sowjetischer Sicht nur eine blanke Provokation bedeuten. Aus diesem Blickwinkel wird das unsichere Agieren des Kremls in jenen kritischen Tagen verständlicher. Man wollte keinen Krieg auslösen und konnte nicht verstehen, warum Kennedy so hoch pokerte.

Von Krise zu Kollaps

Die Raketenkrise endete so abrupt, wie sie begonnen hatte. Am 28. Oktober 1962 kam es zwischen Kennedy und Chruschtschow zu einer Verständigung auf folgender Grundlage: Die sowjetischen Raketen werden von Kuba abgezogen gegen das Versprechen der USA, Kuba nicht zu überfallen. Und die USA verpflichteten sich, ihre Raketen in der Türkei abzubauen.

Zwei Langzeitfolgen hatte der Konflikt: Von den USA wurden in den folgenden Jahren keine weiteren militärischen Angriffe gegen Kuba unternommen, und in der Sowjetunion wurde ein atomares Rüstungsprogramm in Gang gesetzt, durch welches sie 20 Jahre später ein militärstrategisches Gleichgewicht mit den USA erreichte. Für die sowjetische Volkswirtschaft sollte sich dies als Katastrophe erweisen und schließlich zum Kollaps des gesamten Imperiums führen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 20. Oktober 2012


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